Worum geht es?
Die Bildungspolitik fordert den frühen Einsatz der digitalen Geräte und treibt diesen mit hohem finanziellem Aufwand voran. Im Wesentlichen stellen die Autoren dieser Forderung die kognitive Entwicklung der Kinder gegenüber und verfahren dabei wie bei einem Faktencheck: Sind die Bildungsziele und die Angebote der IT-Branche mit der Reifung des Gehirns überhaupt verträglich? Sie kommen zum wenig überraschenden Schluss: Nein, sie sind es nicht: «Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter» (S.8).
Rückgriff auf Piaget
Dazu rekapitulieren die Autoren die kognitiven Entwicklungsphasen, die Jean Piaget erforschte. Jede Phase ist durch bestimmte Verhaltensweisen gekennzeichnet, in denen Menschen in der Interaktion mit der Umwelt so genannte Schemata (Denkstrukturen) aufbauen. Die Menschen versuchen, ein erworbenes Schema auf neue Situationen anzuwenden. Wenn es gelingt, spricht Piaget von «Assimilation». Misslingt die Assimilation, braucht es «Akkommodation», damit neue Schemata entstehen können.
Die Entwicklung beruht auf der Auseinandersetzung mit der konkreten, realen Umgebung, mit Objekten und Menschen. Wichtig: Die Entwicklungsstufen dauern je nach Individuum verschieden lange. Sie setzen jeweils die vorhergehende Stufe notwendigerweise voraus. Piaget unterscheidet:
Stadium 1 (null bis 2 Jahre) sensomotorische Phase: Greifen, Saugen, Werfen, etc., Leben im Hier und Jetzt.
Stadium 2 (ca. 2 bis 7 Jahre) prä-operatorische Phase: Wahrnehmung von Vergangenheit und Zukunft, Vorstellung eigener Welten, magisches Denken, Egozentrismus, Fehlen von abstrakten logischen Operationen (z.B. Mengenerhalt der Flüssigkeit bei unterschiedlichen Gefässen).
Stadium 3 (ca. 7 bis 12 Jahre) konkret-operatorische Phase: Fähigkeit, sich von der reinen Anschauung zu lösen, logische Operationen bleiben weitgehend auf konkrete Objekte und Ereignisse beschränkt (Mengenerhalt bei unterschiedlichen Gefässen verstanden).
Stadium 4 (ab ca. 12 Jahren fortschreitend): formal-operatorische Phase: rationales Nachdenken über hypothetische Situationen und komplexe Probleme, Selbstreflexion.
Das Krabbeln, Greifen, Werfen, Springen, Laufen, Balancieren, Klettern, Erkunden der Umgebung und der Objekte bildet die Voraussetzung, dass Kognition aufgebaut werden kann, dass Neuroplastizität entsteht.
Bestätigung durch die Hirnforschung
Was Piaget durch vielfache Experimente herausfand, wurde von der Hirnforschung inzwischen verifiziert und vertieft.
Erste Erkenntnis: Die neuronalen Strukturen und Bahnungen des Gehirns entstehen durch motorische Betätigung und durch menschliche Interaktion. Die riesige Menge von Neuronen erhält erst durch die synaptische Vernetzung ihre Funktion fürs Denken. Das physiologische Zusammenspiel von Hormonen und Neurotransmittern bewirkt die Selbstorganisation, die Reifung des Gehirns, wobei jede neue Entwicklungsstufe zu einer Reorganisation (Fachausdruck: Kompensation, entspricht Piagets Akkommodation) des Netzwerkes führt.
Die kognitiven Fähigkeiten entstehen also nicht aus dem Nichts. Das Krabbeln, Greifen, Werfen, Springen, Laufen, Balancieren, Klettern, Erkunden der Umgebung und der Objekte bildet die Voraussetzung, dass Kognition aufgebaut werden kann, dass Neuroplastizität entsteht. «Daher wächst aus dem kindlichen «Greifen» das «Begreifen» im Jugendalter (S.219).
Zweite Erkenntnis: Emotionale Zuwendung ist ein weiterer entscheidender Faktor für die Reifung des Gehirns, insbesondere des Hippocampus und des Stirnhirns, das für die Steuerung und Kontrolle der Prozesse im Gehirn verantwortlich ist. Emotionen regen das Belohnungssystem an, welches durch die Ausschüttung von Dopamin Konzentration und Gedächtnisleistung fördert.
Dritte Erkenntnis: Der gesunde Schlaf sorgt für die Ordnung und Verankerung des Gelernten und Erlebten.
Die Lernpsychologie der digitalen Bildung
Befürworter des frühen Einsatzes digitaler Geräte huldigen – bewusst oder unbewusst – der behavioristischen Vorstellung, dass Lernen durch Reize ausgelöst wird, die in ein bestimmtes Verhalten münden. Was im Gehirn geschieht, ist für Behavioristen eine «black box». Hauptsache, es resultiert die erwünschte Kompetenz.
Die beste Vorbereitung auf das digitale Zeitalter ist nicht ein möglichst frühes Hantieren mit Laptops und Handys, sondern das Verschieben der digitalen Hilfsmittel auf das Alter 12+ und ein möglichst aktives, analoges und der Entwicklung entsprechendes Lernen während der ersten drei Phasen der Gehirnentwicklung.
Digitale Bildung versus Gehirnentwicklung
- Der Einsatz digitaler Medien im Vorschulalter hat den verheerenden Effekt, dass wertvolle Entwicklungszeit nicht der Aktivität im realen Lebensraum gewidmet, sondern mit virtuellen Reizen vertan wird. Dadurch entsteht ein Defizit an neuronalen Vernetzungen, das sich auf die spätere Denkfähigkeit negativ auswirkt, denn Wischen und Klicken genügen nicht, um Synapsen zu befeuern.
- Die von Bildungsverantwortlichen anvisierten Ziele «verantwortlicher Umgang mit digitalen Medien», «kritische Beurteilung der Inhalte», «Nutzung des vorhandenen Wissens im Netz», etc. sind zwar zu begrüssen und für ältere Jugendliche essenziell, sie sind aber für Kindergarten und Primarschule illusorisch, da die dafür notwendigen formal-operatorischen Fähigkeiten im Gehirn noch nicht zur Verfügung stehen.
- Das Argument, digitale Medien könnten reale Erfahrungen der Kinder erweitern und ihr Verständnis verbessern, stösst deshalb ins Leere, weil das Gehirn zu diesem Zeitpunkt virtuelle Eindrücke noch nicht genügend verarbeiten kann und die Zeit deshalb besser vollständig in Realerfahrungen und analoge Aktivität investiert werden sollte.
- Der Erfolg von Lernvideos, in denen Inhalte lustvoll und anschaulich präsentiert werden, wird überschätzt. Kinder sind emotional auf die persönliche Beziehung mit der Lehrperson angewiesen, ein angemessenes Lerntempo und ein angepasstes Verständnisniveau können nur durch die direkte Vermittlung garantiert werden. Selbst erwachsene Studierende ziehen aus diesem Grund reale Lernveranstaltungen digitalen Lernvideos vor.
- Die schnelle Abfolge von Reizen bei der digitalen Vermittlung des Lernstoffes überfordert einerseits die Aufnahmekapazität des kindlichen Gehirns, führt anderseits durch die ständige Faszination neuer Clips zu einer Übersteuerung des Belohnungssystems. Die Folgen sind Suchtverhalten, Konzentrationsmangel, Störung der Impulskontrolle, ADHS, körperliche Symptome wie Bauch- oder Kopfschmerzen, kognitive Minderentwicklung.
- In Kindergarten und Primarschule beschränken sich die digitalen Kompetenzen letztlich auf Wischen und Bedienen (=am richtigen Ort klicken). Dadurch geht wertvolle Zeit verloren, um hoch präzise motorische Fähigkeiten genügend zu üben, wie sie z.B. für die Handschrift und fürs Zeichnen oder zum Lernen eines Instruments ausgebildet werden müssen. Anstatt den Grundstein für den reflektierten Umgang mit Computern durch die analoge Anbahnung kognitiver Fähigkeiten zu legen, setzt man diese viel zu früh voraus.
- Der IT-Branche ist es gelungen, Ängste zu schüren, dass die Schulen nicht genügend auf die digitale Welt vorbereiten. Es sei unerlässlich, schon ab Kindergarten mit digitalen Medien zu operieren. Die entstandene Bildungspanik hat jedoch blind gemacht für die pädagogisch-psychologischen Nachteile. Sie hat auch darüber hinweggetäuscht, dass es um enorme finanzielle Interessen geht, wenn IT-Konzerne ihre Hard- und Software den Schulen schmackhaft machen und die junge Generation frühzeitig in eine Abhängigkeit von ihren Produkten führen.
Die Autoren kommen deshalb zum Schluss, dass die beste Vorbereitung auf das digitale Zeitalter nicht ein möglichst frühes Hantieren mit Laptops und Handys ist, sondern das Verschieben der digitalen Hilfsmittel auf das Alter 12+ und ein möglichst aktives, analoges und der Entwicklung entsprechendes Lernen während der ersten drei Phasen der Gehirnentwicklung.