28. März 2024

Sprachnotstand an den Unis? Jetzt können sogar Studierende nicht mehr richtig Deutsch

Schlecht- statt Rechtschreibung: Hochschuldozierende klagen über einen zum Teil abenteuerlichen Umgang mit der deutschen Sprache in studentischen Arbeiten. Vernachlässigen die Schulen den Deutschunterricht? Wir bringen einen Gastkommentar von Nadja Pastetga, Journalistin bei der Sonntagszeitung.

Nadja Pastega, studierte Germanistin und Historikerin, arbeitet für den Nachrichten- und Hintergrundbund «Fokus» der SonntagsZeitung.

Alain Griffel, Rechtsprofessor an der Universität Zürich, muss zum Rotstift greifen. Schon wieder. Vor ihm liegen die schriftlichen Arbeiten von Jus-Studierenden im dritten Semester, soeben eingetrudelt, nach einer Frist von etwa acht Wochen. Bereits beim zweiten Text kommentiert Griffel: «Zahllose elementare Orthografie-, Grammatik- und Kommafehler! Satzbau und Formulierungen überwiegend ungelenk bis fehlerhaft.» Sein Rat an den Verfasser: «Arbeiten Sie daran! In einem juristischen Beruf werden Sie so nicht tätig sein können.»

Klagen über das sinkende Niveau bei Jung-Akademikern gibt es seit langem. Das weiss auch Griffel. Er liest und beurteilt seit 35 Jahren Texte von Studierenden der Rechtswissenschaften. Sein Eindruck ist klar: Die Schreibkompetenz hat «insgesamt abgenommen, und zwar massiv. Wir bewegen uns heute sprachlich zwei Etagen tiefer – gewissermassen im Untergeschoss.» Sprachliche Eleganz und Leichtigkeit? Könne man oft vergessen.

Alain Griffel, Rechtsprofessor an der Universität Zürich

«Die Schreibkompetenz hat insgesamt abgenommen, und zwar massiv. Wir bewegen uns heute sprachlich gewissermassen im Untergeschoss»

Rechtsprofessor Alain Griffel 

Auch Marianne Heer kennt das Sprachdebakel. «Die schriftliche Ausdrucksweise hat an Qualität eingebüsst», sagt die ehemalige Oberrichterin. Sie ist langjähriges Mitglied der Luzerner Anwaltsprüfungskommission und Lehrbeauftragte an den Universitäten Bern und Freiburg.

Orthografie, Kommaregeln, Satzlogik – schlicht inexistent

An Ausdrücke wie «mega» oder «woke» hat sich Heer längst gewöhnt. Die Sprache sei schliesslich ständig im Wandel. «Was ich aber negativ beurteile, sind die stilistischen Fehler und die mangelnden Orthografiekenntnisse.» Und die, sagt Heer, seien zum Teil «krass».

Beim Korrigieren von Arbeiten an der Uni Freiburg fragte sie sich einmal, ob es sich beim Autor um einen Studenten handelt, der französischsprachig aufgewachsen sei. Sie nahm die nächsten Arbeiten vom Stapel. Nach etwa zehn fehlerhaften Texten wurde sie stutzig: «So viele Romands sassen gar nicht im Raum», sagt Heer. Sie schaute auf den Deckblättern mit den persönlichen Angaben nach – Muttersprache: Deutsch.

Auch an anderen Hochschulen entlocken schriftliche Arbeiten den Dozierenden einen resignierten Seufzer. Diese Orthografie! Schlecht. Kommaregeln! Praktisch inexistent. Satzlogik? Ganze Passagen in studentischen Arbeiten schlicht unverständlich.

Und das nicht nur bei den angehenden Juristen. Manche Naturwissenschaftler seien heute ebenfalls nicht mehr in der Lage, auf Deutsch auszudrücken, was sie eigentlich herausgefunden hätten, wird an Hochschulen berichtet. Damit sei auch hier ein kritischer Punkt erreicht.

Marianne Heer, Staatsanwältin und ehemalige Oberstaatsanwältin im Kanton Luzern

Sogar bei den Nachwuchs-Germanisten, die sich der deutschen Sprache verschrieben haben und von denen einige später an Gymnasien unterrichten werden, zeigen sich Defizite. Die jungen Leute seien zwar «durchaus sprachsensibel, vielleicht mehr als frühere Generationen», ihr «Sprachbemühen» richte sich auf «die Vermeidung diskriminierender oder ausgrenzender Bezeichnungen», sagt Professor Nicolas Detering, Direktor des Instituts für Germanistik an der Universität Bern. «Allerdings beherrschen nicht alle die Interpunktionsregeln, wie sich an den Seminar- und Abschlussarbeiten, die wir zu korrigieren haben, feststellen lässt.» Auch im Ausdruck und in der Grammatik seien «Schwächen zu konstatieren». Derzeit, so Detering, erwäge man, am Institut «künftig Fortbildungen für Deutschlehrpersonen anzubieten».

Bereits an den Primarschulen würden heutzutage weniger schriftliche Arbeiten verlangt, nur noch selten längere Texte verfasst.

Wie konnte es so weit kommen, dass die vermeintliche Elite des Landes grundlegende Deutschregeln nicht mehr beherrscht? Andreas Güngerich, Präsident des Berner Anwaltsverbands, glaubt den Grund für die «oft nicht befriedigenden Deutschkenntnisse» zu kennen: «An den Gymnasien wird sehr viel gelesen und diskutiert, aber die Ausdrucksweise und die Grammatik werden nicht genügend geschult.»

Das fängt nicht erst im Gymi an. Yasmine Bourgeois, Schulleiterin an einer Primarschule in Zürich, überraschen die Deutschmängel an den Hochschulen nicht. Bereits an den Primarschulen würden heutzutage weniger schriftliche Arbeiten verlangt, nur noch selten längere Texte verfasst, Diktate seien bei vielen Pädagogen verpönt, «und Rechtschreibfehler werden oft auch auf der Mittelstufe, also in der vierten bis sechsten Klasse, nicht alle immer korrigiert, um die Schülerinnen und Schüler nicht zu frustrieren», sagt Bourgeois. Auch korrektes Abschreiben von Texten ist an den Pädagogischen Hochschulen ausser Mode. «Lieber verteilt man Kopien und Lehrmittel, bei denen gerade mal Lücken ausgefüllt werden müssen. So werden viele Lerngelegenheiten verpasst.»

«Wir benützen die Sprache nicht als saloppes Alltagswerkzeug wie in E-Mails oder Facebook, sondern als filigranes Arbeitsinstrument.»

Rechtsprofessor Alain Griffel

Wie gibt man gegen die Grammatik-Gräuel Gegensteuer? An den Gymnasien müssen Schülerinnen und Schüler, die in Grundlagenfächern wie Deutsch Defizite haben, neu Stützkurse besuchen und regelmässig «Kompetenznachweise» erbringen, sagt Detering vom Germanistik-Institut in Bern. «Ob diese Massnahmen etwas bringen, wird sich in ein, zwei Jahren zeigen.»

Programme gegen Schlecht- statt Rechtschreibung bieten inzwischen auch die Hochschulen – mit Schreibkursen für Uni-Neueinsteiger. Bei Jus-Studierenden an der Uni Zürich sind sie zum Teil obligatorisch.

«Die Sprache ist unser wichtigstes Arbeitsinstrument», sagt Rechtsprofessor Alain Griffel, der die Kurse aufgegleist hat. «Wir benützen die Sprache nicht als saloppes Alltagswerkzeug wie in E-Mails oder Facebook, sondern als filigranes Arbeitsinstrument. Auch ein Chirurg greift zum Skalpell – und nicht zum Brotmesser.»

Als Grund für das Deutschdebakel wird unter anderem die Verbreitung der sozialen Medien vermutet. Einen Zusammenhang konnten Studien bisher nicht nachweisen. Vielleicht ist es auch viel einfacher: «Viele Lehrpersonen beherrschen heute die Grammatik schlicht selbst nicht mehr», sagt Griffel. «Wie sollen sie es dann anderen beibringen?»

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5 Kommentare

  1. Allen, die diesen Beitrag lesen und ebenfalls den Kopf negativ schütteln, empfehle ich folgende Büchlein zum Weitergeben:
    DUDEN- GANZ EINFACH-Grammatik.111 Seiten, klar und verständlich erklärt. Während meinen 48 Arbeitsjahren habe ich bis heute kein besseres gefunden.
    Ein gleiches gibt es für die Satzzeichen.
    Das dritte ist “Duden, kleines Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung” von 1920, auf 24 Seiten klar erklärt.
    Neue Studien für diese Misere sind verpufftes Geld, denn die Ursachen sind seit 60 Jahren bekannt. Entsprechendes Handeln zur Verbesserung ist gefragt.

    .

    1. Schön und gut. Die Misere beginnt ab der ersten Primarklasse. Lesen durch Schreiben heisst das Unding. Eingeübte Falschorthografie aufgrund völlig verfehlter pädagogischer Prämissen (Keine Korrekturen, da Blossstellung droht.). Was Hänschen nicht lernt…

  2. ….. und keiner unternimmt etwas: Jeder, der an der Uni studiert, hat doch immerhin “erfolgreich” die Matur absolviert (sollte man meinen) ……. und diese Maturanden können offenbar teilweise weder schreiben und verstehen tun sie auch nicht mehr, was sie lesen (so viel zum Niveau der Matur)!? Es ist absolut unglaublich! Keiner unternimmt etwas gegen die völlig verfehlten pädagogischen Prämissen bzw. die unselige Reformwut auf allen Ebenen! Lasst die Bildungstheoretiker doch einfach weiter “schwurbeln”, vor lauter Kompetenzgelaber und technisch-theoretischen Bildungsplänen (teilweise weit weg von der Praxis) sind die elementar(st)en Grundfähigkeiten auf der Strecke geblieben. Wer trägt bzw. übernimmt eigentlich die Verantwortung für dieses totale Desaster?

    1. Ihr erster Satz gilt jedenfalls in Deutschland nicht mehr. An der PH Weingarten (nicht allzu weit vom Bodensee) kann man Lehramtsstudiengänge studieren auch ohne die offizielle allgemeine Hochschulreife, z.B. mit “geeigneter beruflicher Qualifikation plus fachlicher Eignungsprüfung und Beratungsnachweis” oder auch mit “Deltaprüfung plus Fachhochschulreife”. Das gilt für die Primarstufe und die Sekundarstufe I.

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