Die Zahl der empirischen Untersuchungen über Studienerfolg und soziale Herkunft ist Legion. Dieses Feld zählt zu den bestuntersuchten Forschungsgebieten der Pädagogik. Da werden Korrelationen hergestellt, da werden die Bücher im Elternhaus überprüft und die Bildungszertifikate gezählt und daraus der akademische Abschluss der Kinder prognostiziert. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Jugendliche aus sozial schwächerem Milieu haben es schwerer als Akademikerkinder. Diagnostiziert wird der berühmte Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben. Das generelle Fazit aus den Studien zur Bildungsungleichheit: Der elterliche Hintergrund prägt, der sozioökonomische Status determiniert.
Schule kann nicht alles kompensieren
Gar als «Hort der sozialen Ungleichheit» bezeichnete der Tages-Anzeiger vor Kurzem das Schweizer Schulsystem. Es reproduziere weitgehend die bestehenden Klassenverhältnisse. Sozial weniger privilegierte Kinder hätten klar kleinere Chancen auf einen höheren Abschluss.[1] Mit anderen Worten: Es gelingt ihnen weniger, die ganze Vielfalt der Bildungswege einzuschlagen. Das private Umfeld formt; die familiäre Situation bestimmt die Bildungskarriere. Schule müsse diese Nachteile der Herkunft ausgleichen, wird gefordert. Doch das kann sie nur bedingt, auch wenn es manchmal gelingt und sich die Bildungsmobilität deutlich gesteigert hat.
Das Bildungssystem sei darum komplett zu reformieren, so lautet der mantramässig erhobene Ruf. Dazu gehört unter anderem das Postulat des freien Zugangs zum Gymnasium mit dem Abschaffen der Gymnasialprüfung. Zum Umbau zählen auch eine längere Schulpflicht und spätere Übertritte. Warum aber diese systemische Radikalkur? Warum kein Blick in den Kern der Schule, in die Mikroprozesse des Lehrens und Lernens? Und auf die Reformflut der vergangenen Jahre mit ihren Kollateralfolgen?
Benachteiligung der schulisch Schwächeren
Die Frage lautet doch: Unternimmt die Schule das Nötige, um die Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern genug und gezielt zu fördern? Und unterlässt sie alles, um diese Jugendlichen nicht zusätzlich zu benachteiligen? Wir wissen es aus Studien, und die Spatzen pfeifen es seit Langem von den Dächern: Die Schule hat im Gegenteil manches vorgekehrt, um es diesen Kindern zusätzlich schwer zu machen. Paradoxerweise genau durch das, was die Autonomie und Eigenverantwortlichkeit der jungen Menschen vermeintlich stärken und fördern sollte.[2]
Viele Kinder können sich nicht selbst helfen; es sind nur Bestimmte, die profitieren.
Die Fakten sind empirisch gut untersucht: Es ist der Verzicht auf einen lehrergeleiteten und strukturierten Unterricht, die Abkehr vom Anleiten und Vorzeigen, das Wegkommen vom regelmässigen Üben und Automatisieren. Der gemeinschaftsbildende und dialogische Klassenunterricht, maliziös diskreditiert als Frontalunterricht, wurde zugunsten des Individualisierens geschwächt, wenn nicht sogar aufgehoben – im Mainstream des pädagogisch Progressiven und ohne dass sich das Neue gegenüber dem Bewährten begründen musste.
Papiersteuerung statt Personenlenkung
Zur favorisierten Methode zählt heute das Prinzip des selbstorientierten und selbstregulierten Lernens. Diese Unterrichtsform erhielt so etwas wie den Status eines Dogmas. Es ist das konstruktivistische Paradigma der Selbstsozialisation. Doch viele Kinder können sich nicht selbst helfen; es sind nur Bestimmte, die profitieren. Sie verfügen über das nötige Vorwissen und können den Lernprozess eigenständig steuern. Oft kommen sie aus privilegiertem Haus.
Die Selbstlernmethoden entpersonalisieren den Unterricht und berauben ihn seiner wichtigsten Resonanzkraft, der emotionalen Lehrer-Schüler-Beziehung.
Doch das ist nicht allen gegeben. Die Forschung zeigt es: Diese Arbeitsweise benachteiligt Kinder aus sozial schwächerem Elternhaus und aus fremdsprachigen Familien. Oft haben sie weniger eigene Disziplin und auch weniger Selbstvertrauen. Die häusliche Hilfe bleibt schwach. Darum brauchen solche Schülerinnen und Schüler klare Strukturen, Unterstützung und Ermutigung durch eine Lehrperson mit «verstehender Zuwendung».[3]
Dazu der Erziehungswissenschaftler und Didaktiker Hermann Giesecke: «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu. […] Gerade das sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts.»[4] Die Selbstlernmethoden entpersonalisieren den Unterricht und berauben ihn seiner wichtigsten Resonanzkraft, der emotionalen Lehrer-Schüler-Beziehung.
Boom privater Lerninstitute
Das hat Folgen. Oft auch für gute Schülerinnen und Schüler. Nicht wenige weisen am Ende der Primarschule in den Grundfertigkeiten des Rechnens und Schreibens oft grosse Lücken auf. Wenn sie diese Grundlagen beherrschen, stehen nicht selten engagierte Eltern oder private Lerninstitute dahinter – und leider viel zu wenig lernwirksame Unterrichtsstunden. Was das für die angeblich so wichtige Bildungsgerechtigkeit bedeutet, ist offensichtlich.
Eine Google-Recherche zu den Stichworten «Nachhilfe, Gymi-Vorbereitung, Zürich» ergibt eine lange Liste von Angeboten – vom Schwarz- und Graumarkt für Zusatzlektionen nicht zu reden. Die Nachfrage muss gross sein; sonst gäbe es diesen Markt nicht. Im Übrigen erhalten heute rund 35 Prozent der Schüler Nachhilfeunterricht. Gleichzeitig steigt die Zahl von Homeschoolern, von Kindern, die zu Hause unterrichtet werden. Sie hat sich in allen Kantonen vervielfacht, allerdings noch auf niedrigem Niveau. Das alles sind fatale Alarmzeichen. Doch die Bildungspolitik negiert die Signale. Das ist fahrlässig.
Wer «Bildungsgerechtigkeit» fordert und dazu forscht, muss unvoreingenommen ins Kerngeschehen des heutigen Unterrichts hineinzoomen und dort nach Gründen suchen. Er wird bald fündig.
[1] Alexandra Kedves, Ein Hort der sozialen Ungleichheit, in: Tages-Anzeiger, 23.09.2022, S. 32.
[2] Jochen Krautz (2022), Bilder von Bildung. Für eine Renaissance der Schule. München: Claudius Verlag, S. 129.
[3] Joachim Bauer (2008), Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern.
Hamburg: Hoffman und Campe Verlag, S. 57.
[4] Vgl. Hermann Giesecke (1998), Pädagogische Illusionen. Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik. Stuttgart: Klett-Cotta.
Die genaue und exakt richtige Analyse eines schon seit Jahren galloppierenden, staatlich geförderten Wahnsinns.
Wäre ich Xi Jinping, müsste jeder und jede Dozierende der PHs und alle Mitglieder von Erziehungsbehörden den Artikel von Carl Bossard auswendig lernen und jeden Morgen vor Arbeitsbeginn vor einer Überwachungskamera fehlerfrei aufsagen. Am Abend müssten sie Rechenschaft ablegen, was sie am Tag dazu beigetragen haben, die Lehren des Artikels umzusetzen, und Selbstkritik üben, falls sie im Sinne des Artikels falsche Ansätze weiterverfolgt haben.