24. April 2024

Humboldt oder McKinsey? Wohin steuert die Maturitätsreform?

Bleibt das Gymnasium eine Schule für universitätsreife Köpfe? Das fragt sich, wer den Ansturm auf die Mittelschulen beobachtet. Nun soll das Gymi reformiert werden. Doch in welche Richtung, fragt Condorcet-Autor Carl Bossard.

Condorcet-Autor Carl Bossard

«Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen!», so entfährt es einer thrakischen Magd. Sie sieht den Philosophen und Astronomen Thales von Milet auf seinem nächtlichen Spaziergang, den Blick fest auf den Sternenhimmel gerichtet, in die Zisterne stürzen – und lacht dabei. Seither hallt das Lachen der Thrakerin hörbar weiter. Es kommt manchen in den Sinn, wenn sie sich mit aktuellen Schulreformen befassen.

Der spürbare Sog des Gymnasiums

Eine grosse Reformwelle hat sich über die Schweizer Bildungslandschaft ergossen. Unzählige Innovationen haben die Volksschule umgestaltet. Auch das Gymi soll einer umfassenden Reform unterzogen werden. Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität WEGM heisst das Projekt. Der Handlungsbedarf geht aus dem Willen hervor, den prüfungsfreien Zugang an die Hochschule und Universitäten langfristig zu sichern.

Die Matura ist heute für viele ein Muss: eine Art Conditio sine qua non. In Basel schafften 2018 rund 45 Prozent den Zugang. Das erinnert an französische und deutsche Verhältnisse. Einige Schlagzeilen aus Schweizer Medien. «Die Goldküste im gymnasialen Rausch», «Zuger Gymnasien boomen wie noch nie», «Ins Gymnasium – auf Biegen und Brechen». Die Titel mögen plakativ sein, doch sie verweisen auf einen Trend, den Drang ans Gymnasium. Ein Drittel schafft es nur mit Nachhilfeunterricht. Manche sind überfordert, etliche verlassen die Schule vor der Matura. Evaluationen zeigen Defizite. Nicht umsonst schreibt die ETH-Wissenschaftlerin Elsbeth Stern: «Mindestens 30 Prozent der Mittschüler gehören nicht ans Gymnasium.» Und weiter sagt sie: «Wenn man die überdurchschnittlich Intelligenten an den Universitäten haben will, dann sollte man eine [Studier-]Quote von etwa 20 Prozent anstreben – das ergibt sich aus der Normalverteilung der Intelligenz.»[1]

Qualität und Quote korrelieren umgekehrt

Stefan C. Wolter, Leiter der Forschungsstelle für Bildungsökonomie an der Universität Bern, votiert für die gleiche Prozentzahl.[2] «Das System ist in Schieflage geraten», analysiert er und fügt bei: «Einzelne Gymnasien vergeben Noten, die in keinem Verhältnis zu den objektiven Leistungen stehen.» Der Bildungsbericht 2018, das Standardwerk zur Schweizer Bildungspolitik, konstatiert nüchtern: Nicht allen Maturandinnen und Maturanden kann man aufgrund der gemessenen Kompetenzen «eine volle Studierfähigkeit attestieren».[3]

Doch das wäre das Ziel. Höhere Quoten gehen oft mit sinkenden Ansprüchen einher. Der Zusammenhang von «upgrading access and downgrading skills» ist bildungsgeschichtlich nichts Neues: Qualität und Quote korrelieren umgekehrt. Ein Zielkonflikt! Und doch: «Mehr Maturanden, bitte!» fordert Professor Philipp Sarasin, Universität Zürich, seit Jahren.[4] Dezidiert verlangt er für einen Drittel aller Jugendlichen den Zugang zum Gymnasium. Gar eine «Matura für alle!» postulierte 2018 eine Publikation.[5] Gemeint ist nicht nur die gymnasiale.

Die Schule von Athen: Maler Raffael – Fresko um 1510

Gymnasiale Dilemmata

Das Schweizer Gymnasium kennt manche Spannungsfelder. Einige wenige seinen kurz skizziert, allerdings mit van Goghs dickem Pinsel und nicht mit Dürers feinem Stift: Da haben wir die Ambiguität zwischen einer allgemeinen Hochschulreife und einer Fakultätsreife. Weiter steht das Ziel des Hochschulstudiums einer verstärkten Vorbereitung aufs Berufsleben gegenüber, wie sie der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse fordert. Die Vergleichbarkeit der Abschlüsse und die notwendige Schulautonomie widersprechen sich, ebenso zusätzliche Unterrichtsfächer und die notwendige Tiefe. Es gibt in diesen Dialektiken wohl keinen Wert, der nicht einen gleich-gültigen Gegenwert hat. Und beide Werte lassen sich nicht gleichzeitig maximieren.

Qualitätsverbesserung braucht ein hohes Mass an Autonomie

In welche Richtung aber soll sich das Schweizer Gymnasium entwickeln, wenn es nicht einem amorphen Vektorhaufen gleichen will? Wer steuert – und wie? Von oben? Top-down: über mehr Vorschriften und Vorgaben, über mehr Dekrete und Direktiven, über Daten und Dokumente? Über den geplanten, überfrachteten Lehrplan mit rund 460 Seiten? Formuliert in der praxiserfahrungsverdünnten Luft von Bildungsstäben! In der Lernbürokratie?

Oder Bottom-up: Über eine hohe Autonomie der Einzelschule, die mit entsprechender Verantwortung von pädagogischer Schulleitung und Kollegium korreliert? Auch das wissen wir aus der Forschung ziemlich genau: Qualitätsverbesserungen lassen sich nur dann erreichen, wenn die lokalen Akteure über ein hohes Mass an Autonomie verfügen – immer mit Blick auf das konkrete Lernen der Schülerinnen und Schüler und gekoppelt mit Verantwortungsbewusstsein. Dieser Autonomie ist Sorge zu tragen.

Wider die Kompetenzraster à la Lehrplan 21

Bei der sogenannten Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität geht es um die Stärkung der MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik. Und es geht darum, das Gymnasium anspruchsvoller zu machen. Gegen diese Intention ist nichts einzuwenden.

Das Gymnasium bleibt in seiner Struktur mit dem Fachprinzip, dem Wissenschaftspropädeutischen und dem allgemeinen Hochschul-/Universitätszugang, der sogenannten «Hochschulreife», unangetastet. Am Bildungsziel des Gymnasiums ändert sich nichts. Humboldt bleibt! Skepsis aber ergibt sich gegenüber dem kompetenzorientierten Lehrplan-Dokument von gegen 460 Seiten, gegen die Kompetenzraster à la Lehrplan 21. Hier heisst es beispielsweise: «Die Schülerinnen und Schüler können nach einer langen Laufbelastung die Geschwindigkeit anpassen.»

Der Lehrplan 21 legt lauter kleinparzellierte Einzelkompetenzen fest. Überprüfbar. Kontrollierbar. Anwendbar. Im Fach Musik wird zum Beispiel von einem Kind gefordert: «Kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren.» Ein solches Korsett wird für viele zum Problem. Es sind Hunderte von Seiten mit rund 3’600 Teilkompetenzen. Alles wird dann noch in drei Stufen aufgeteilt. Das wirkt wenig gymnasial.

Den Unterricht inhaltlich fassen, nicht kompetenztheoretisch

Die Kompetenzen sind eine universelle Idee. Sie nehmen keine Rücksicht auf die Bildungskultur. Wie soll ich beispielsweise die Mathematik der dritten Gymnasialklasse in Kompetenzstufen aufteilen? Es ist der Versuch, transparent zu machen, was notwendig vage bleibt. Unterricht ist ja immer mit Ungewissheit konnotiert. Das Ganze führt zu Strichlisten. Und das ist illusionär. Die Implementation von solchen Kompetenzrastern ist ein Riesenaufwand; und ob die Universitäten und die ETH wollen, was bei solchen Vorgaben «rauskommt»? Zweifel sind angebracht. Im Normalfall ist es ja trivial.

Athene – die alte Kantonsschule Zug

Es gilt, den Unterricht inhaltlich zu fassen – nicht kompetenztheoretisch! Die Studierenden müssen inhaltlich vorbereitet sein; das lässt sich nur bedingt in ein Kompetenzvokabular mit drei Stufen fassen – vor allem wenn der Lehrplan von fremden, schulexternen Kommissionen entwickelt wird, wie das im Moment geschieht. Anders gesagt: Lehrerinnen und Lehrer werden durch externe, überdimensionierte Rahmenlehrpläne zunehmend von der eigentlichen Berufsaufgabe abgelenkt – und damit von dem, was sie gerne tun und das Kernelement ihres pädagogischen Wirkens nennen: unterrichten! Darum: Humboldt ja! McKinsey nein!

Wider der (Reform-)Sturz in die Zisterne

Wer in der Schule tätig ist, der muss nach den Sternen schauen und gleichzeitig achtgeben auf die Gassen. Genau wie es die witzige Magd Thales von Milet nahelegte, als er nachts in die Zisterne gefallen war. Der griechische Philosoph war aber nicht nur Denker im Grundsätzlichen, er war auch Pragmatiker im Tatsächlichen. Er durchmass die Höhen des Himmels und war gleichzeitig gewiefter Ökonom. Dieser Thales sollte in jeder Schulleitung stecken, sollte alle Gymnasiallehrerinnen und -lehrer leiten: die schulischen Zusammenhänge im Blick und das gymnasiale Bildungsziel vor Augen haben und gleichzeitig den pädagogischen Alltag meistern. Das bewahrt vor dem (Reform-)Sturz in die Zisterne

  • Via: [1] Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer, Wir brauchen die Schlauen, in: DIE ZEIT, 21.03.2013, S. 76. [2] Alexandra Kedves, „Gymi-Quote von 20 Prozent ist richtig“, in: Tages-Anzeiger, 09.09.2019. S. 31. [3] Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 151. [4] Philipp Sarasin, Mehr Maturanden, bitte!, in: Magazin. Die Zeitschrift der Universität Zürich 4/2012, 44f. [5] Andreas Pfister (2018), Matura für alle! Wie wir das Geissenpeter-Syndrom überwinden. Embrach: Arisverlag. Der Autor fordert, dass (fast) alle Jugendlichen eine der drei Matura-Typen absolvieren: gymnasiale Matura, Berufsmatura oder Fachmatura.
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Ein Kommentar

  1. An der Volksschule hat man es bereits geschafft, an den Berufsschulen ist man bereits auf bestem Weg dazu, und nun sollen auch noch die Gymnasien daran glauben. Hört doch endlich auf mit diesem unseligen “Kompetenzgeschwurbel”, das das Niveau unweigerlich senkt bzw. ins Elend reisst. Die Lehrer müssten sofort den Kampf gegen all die Bildungstheoretiker/innen (und die ganze Bildungsindustrie dahinter) aufnehmen und endlich beginnen, für ihren tollen Beruf zu kämpfen. Sie sollen auch künftig als motivierte Lehrpersonen wirken dürfen (das ist ein Privileg) und nicht zu simplen Lerncoaches degradiert werden. Heute, jetzt und nicht erst, wenn das ganze System an die Wand gefahren ist bzw. auch die letzte Lehrperson diesem Wahnsinn frustriert den Rücken gekehrt hat. Dann ist es zu spät!

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