26. April 2024

Postmodernes Denken in der Pädagogik – 1. Teil

Im vorliegenden Beitrag wird versucht, die Hintergründe und Argumentationslinien der Reformen offen zu legen und nicht nur auf die praktischen Auswirkungen, sondern auch auf die theoretischen Schwachstellen hinzuweisen. Das postmoderne Denken hat sich in der pädagogischen Theorie und Reflexion seit den 1970er Jahren in den USA und Grossbritannien und seit den 1980er Jahren im deutschen Sprachraum ausgewirkt. Im deutschen Sprachbereich hat es nicht zur Begründung einer neuen Richtung pädagogischer Theorie geführt, sondern ist gleichzeitig mit gewissen Auflösungstendenzen am Rande der Pädagogik und Erziehung aufgetreten, in deren Gefolge vom «Ende der Pädagogik und der Erziehung» die Rede war. Wir bringen den Beitrag von Peter Aebersold in zwei Teilen.

Das moderne Zeitalter und postmodernes Denken

Historisch begann die Moderne mit dem Umbruch gegenüber der Tradition in zahlreichen Lebensbereichen (Industrielle Revolution, Aufklärung, Säkularisierung), folgte der Neuzeit und dauert bis in die Gegenwart an. Philosophiegeschichtlich fällt sie mit dem Skeptizismus der Vordenker der Aufklärung (Montaigne, Descartes, Spinoza, Immanuel Kant) zusammen. Der Mensch ist frei, wie Kant sagt, im Rahmen des Naturgesetzes sein eigenes Leben, seine mitmenschlichen Beziehungen und das öffentliche Leben nach Massgabe der Vernunft sittlich zu gestalten.

In der Pädagogik erzeugt postmodernes Denken durch die Abschaffung der Pädagogik (Antipädagogik) Bildungsverhältnisse der Vormoderne.

Statt einer zusammenhängenden Ordnung und allgemeinverbindlicher Regeln werden nur Collagen und Patchwork aus Pluralität und Individualität anerkannt und angestrebt.

Unter «Postmodernismus» wird eine politisch-wissenschaftlich-künstlerische Richtung verstanden, die sich gegen bestimmte Institutionen, Methoden, Begriffe und Grundannahmen der Moderne wendet und diese aufzulösen und zu überwinden versucht. Der Begriff suggeriert eine Weiterentwicklung der Moderne. Tatsächlich ist es eine Regression zur Vormoderne, da die Errungenschaften der Moderne (insbesondere der Aufklärung) negiert und «dekonstruiert» werden. In der Pädagogik erzeugt postmodernes Denken durch die Abschaffung der Pädagogik (Antipädagogik) Bildungsverhältnisse der Vormoderne. Postmodernes Denken betont die Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander von miteinander Unvereinbarem. Statt einer zusammenhängenden Ordnung und allgemeinverbindlicher Regeln werden nur Collagen und Patchwork aus Pluralität und Individualität anerkannt und angestrebt. Denn Weltmodelle und die Sprache, die wir nutzen, um sie zu beschreiben, sind nach postmoderner Vorstellung nur reine Konventionen. Ludwig Wittgenstein hat dies “Sprachspiele” genannt. In seiner Sprachphilosophie ist er davon ausgegangen, dass sich Worte nicht auf die Wirklichkeit beziehen, sondern ausschliesslich durch ihren Gebrauch festgelegt werden. Der Postmodernismus greift die Idee Wittgensteins auf, dass die Naturgesetze nicht auf Naturerscheinungen beruhen würden, sondern eine Täuschung seien, auf der die ganze moderne Weltanschauung beruhe.

Diese Flucht in die Innerlichkeit und die Ästhetik knüpft an historische Epochen ähnlicher Struktur an, vor allem an die Geisteswelt des «Fin de siècle», ihre Enttäuschung über den Zerfall der Weltbilder in Einzelwissenschaften im Positivismus und die daraus entspringende Flucht in eine neue Mystik mit ihrem Höhepunkt, dem Dadaismus der deutschen Emigranten in der Schweiz von 1916. Was damals auf eine Handvoll Avantgardisten und ein Dutzend Kundiger im Publikum beschränkt war, hat sich heute «demokratisch» verbreitert, gewiss auch als Folge der Bildungsreformen ab den 1970er Jahren.

Hauptmerkmale postmodernen Denkens

Die fünf Hauptmerkmale des postmodernen Denkens sind der Angriff auf Vernunft und Freiheit, die Wissenschaftsfeindschaft, der Antihumanismus, der Relativismus und die Wertezersetzung sowie der Bruch mit der Geschichte.

Die Stossrichtung der postmodernen Geschichtsinterpretation ist gegen die Aufklärung und ihre Errungenschaften gerichtet.

Die Stossrichtung der postmodernen Geschichtsinterpretation ist gegen die Aufklärung und ihre Errungenschaften gerichtet: Vernunft, Freiheit und Wissenschaft. Diese haben in der Moderne legitimierenden Wert, weil sie allgemeine Gültigkeit besitzen und richtungsweisend sind. Die postmoderne Philosophie leugnet eine allen Menschen gemeinsame Natur und konstruiert ein widersprüchliches Menschenbild von identitätslosen, je nach Kultur grundlegend verschiedenartigen Wesen, die von unbewussten Trieben und vorgegebenen Sprachstrukturen beherrscht würden.

Die Vernunft wird verabschiedet, da sie unterdrückerisch fungiere und die anderen „Erkenntnisformen“ und Denkarten ausgrenze, indem sie sich als oberste Instanz setze.

Postmodernes Denken ist generell wissenschaftsfeindlich. Wissenschaft wird des Herrschaftsstrebens bezichtigt („Wissen und Macht“). Sie wird als «Sprachspiel» (Wittgenstein) oder blosse Meinung desavouiert und daraus wird ein Relativismus abgeleitet.

Der postmoderne Antihumanismus zielt auf die Auflösung der Person durch die «Dezentrierung des Subjekts». Die einheitliche, sich selbst bewusste und verantwortliche Persönlichkeit soll aufgelöst und die Identität zersplittert werden, indem plurale Identitäten innerhalb des Menschen angenommen werden. Die Existenz einer menschlichen Natur wird negiert und die Anthropologie ebenso abgelehnt wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom Dezember 1948, weil sie auf die Tradition der Aufklärung zurückgeführt werden könne.

Prinzipien sind Grabsteine.

Feyerabend propagierte den Relativismus («anything goes») und bezeichnete Prinzipien als «Grabsteine». Im postmodernen Sprechen und Handeln gibt es keine universellen Regeln mehr: Wer im „Widerstreit“ auf Einigung besteht, auf Verbindlichkeit und allgemeine Wertorientierung, muss sich der Einmischung und sogar des Totalitarismus verdächtigen lassen.

Werterelativismus und Wertezersetzung werden propagiert, indem die Allgemeingültigkeit oder -verbindlichkeit von Werten aus der europäischen Kultur und die Begriffe Wahrheit und Objektivität insgesamt abgelehnt werden. Gegenüber den Werten der Aufklärung wird der «Relativismus» in Form der Möglichkeit einer Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender Perspektiven propagiert (alles ist relativ). Foucault verabscheut Werte und Normen als Disziplinierungsmechanismen. Der Bruch mit der Tradition ist auch ein Bruch mit der im Laufe der abendländischen Geschichte entwickelten Ethik: „Gut oder schlecht“ oder „wahr und falsch“ sind postmodern zu relativen Begriffen geworden. Universelle Prinzipien und übergeordnete Handlungsmassstäbe werden als leere, metaphysische Worthülsen abgetan.

Der Bruch mit der Geschichte bedeutet die Verabschiedung oder das «Ende der Moderne» und ihrem Glauben an einen Fortschritt durch Wissenschaft und Vernunft. Demzufolge stellt Foucault Geschichte als «verstreute Ereignisse» und als Diskontinuität dar. Der postmoderne «Erzähler» greift in die «Erzählung» (neudeutsch: Narrativ) ein und steuert sie. Dadurch werden Tür und Tor für eine ideologische Geschichtsinterpretation geöffnet.

Im 2. Teil werden die Auswirkungen postmodernen Denkens speziell auf die Pädagogik dargestellt.

Quellen:

Renata Rapp Wagner: «Postmodernes Denken und Pädagogik.» Dissertation Universität Zürich, Haupt Verlag Bern 1997, ISBN 3-258-05712-5

https://de.wikipedia.org/wiki/Anything_goes  Feyerabend: „Mach, was du willst!“)

https://www.pedocs.de/volltexte/2018/14423/pdf/ZfPaed_1987_1_Oelkers_Die_Wiederkehr_der_Postmoderne.pdf Oelkers: Die Wiederkehr der Postmoderne

https://www.cuncti.net/geschlechterdebatte/593-nihilismus-postmoderne-und-skrupellose-machtpolitik Nihilismus Postmoderne und skrupellose Machtpolitik

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