Als französischer Revolutionsexport wurde mit dem Franzoseneinfall in der Alten Eidgenossenschaft die «Helvetische Republik» am 12. April 1798 ausgerufen und am 10. März 1803 aufgelöst.
Erziehungsräte und Schulinspektoren
Philipp Albert Stapfer, Minister der 1. Helvetischen Republik für Schöne Künste und Wissenschaften und späterer Botschafter in Paris befasste sich mit der Schulreform. Dazu wurde im Sommer 1798 in jedem Kanton ein achtköpfiger Erziehungsrat geschaffen, der unabhängig von der Kirche das Schulwesen des Kantons leiten sollte. Für jeden Distrikt wurde ein Schulinspektor ernannt. Weitere Pläne waren die Einführung eines dreigliedrigen Schulsystems mit Elementarschule, Industrieschule (Gymnasium) und einer Nationaluniversität. Auch sollte die allgemeine Schulpflicht durchgesetzt werden, dies als Voraussetzung für eine Republik. Einer seiner engsten Mitarbeiter im Ministerium war der aus Magdeburg stammende Heinrich Zschokke und auch mit Johann Heinrich Pestalozzi hatte er beruflich zu tun.
Orientierung an der Aufklärung
Mit seinen Erziehungskonzepten und konkreten Reformplänen orientierte sich Stapfer auch an französischen Vorbildern wie Condorcet und verband deutsche und französische Aufklärung theoretisch und in einem praktischen Reformprogramm. Der Schulreformplan, den Stapfer der Regierung und dem Parlament vorlegte, war grösstenteils eine angepasste Kopie des Vorschlages, den Condorcet bereits 1793 der französischen Nationalversammlung vorgelegt hatte.
Die Orientierung an der Aufklärung charakterisierte die gesamte helvetische Regierung. Der Theologe Stapfer blieb mit seiner konstant christlichen Orientierung (Rolle der Geistlichkeit und der Kirche im neuen Staat) in einer Minderheitenposition. Die Regierung war auf aktuelles Wissen angewiesen, um ihre zentralstaatliche Politik gestalten zu können. Mit den Konzepten der „politischen Arithmetik“ (Young 1777) bzw. „sozialen Mathematik“ (Condorcet 1793) widmeten sie sich der Frage der effizienten Planung von Fortschritt und Perfektibilität (Vervollkommnungsfähigkeit), die bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Bildungswesen eine zentrale Rolle spielten.
Der Schulreformplan, den Stapfer der Regierung und dem Parlament vorlegte, war grösstenteils eine angepasste Kopie des Vorschlages, den Condorcet bereits 1793 der französischen Nationalversammlung vorgelegt hatte.
Pädagogische Vorstellungen der Helvetischen Gesellschaft
Die „Helvetische Gesellschaft” hatte in der Spätaufklärung vor allem in Süddeutschland und Frankreich das Renommee eines Modells aufklärerisch-reformerischen Wirkens. Viele namhafte Mitglieder bauten ihre pädagogischen Beiträge in der Gesellschaft auf ein breites Studium der pädagogischen Literatur, eigene Ausarbeitung und breite Korrespondenz über beides auf. Die pädagogische Auseinandersetzung ging weit über die Werke der „klassischen” Vertreter „schweizerischer” Pädagogik, Pestalozzi und Fellenberg hinaus.
Der Gegensatz von «instruction» und «education» wurde aufgehoben und dem Begriff der Öffentlichkeit gegenüber der Staatlichkeit eine Eigenständigkeit gegeben.
Stapfers Plan einer fortschreitenden Volksbildung waren dem Konzept von Condorcet ähnlich, unterschieden sich jedoch in der Begründung: Der Gegensatz von «instruction» und «education» wurde aufgehoben und dem Begriff der Öffentlichkeit gegenüber der Staatlichkeit eine Eigenständigkeit gegeben. Bezeichnend dafür war, dass die Gesellschaft nach den Kriegswirren und der Auflösung der Helvetischen Republik alles daransetzte, wenigstens die von Stapfer geplanten Bürgerschulen durch Umwandlung der ehemaligen kirchlichen Landschulen umzusetzen.
Der Vernunftbegriff, wie ihn Condorcet in der Tradition der Aufklärungsphilosphie entwickelt hatte und wie ihn auch die Helvetische Gesellschaft verstand, ist empirisch bestimmt. Der Staat dürfe sich keine Eingriffe in die inneren, freien und vernünftigen Zwecke der Schule erlauben, weil die Schule dem Staate nicht untergeordnet sei, sondern zur Seite stehen.
Die Bedeutung der sich bildenden Öffentlichkeit der Erziehung begründete die Gesellschaft mit dem ehemals besseren Zustand der Eidgenossenschaft und mit der Bedeutung der Erziehung aus der naturrechtlichen, vernünftigen Bestimmung des Menschen und seiner Entwicklungsfähigkeit. Weil der Mensch von Natur aus frei und vernunftbegabt sei, müsse und dürfe er nicht unterjocht, sondern entwickelt (neuer Begriff: erzogen) werden.
Der Vernunftbegriff, wie ihn Condorcet in der Tradition der Aufklärungsphilosphie entwickelt hatte und wie ihn auch die Helvetische Gesellschaft verstand, ist empirisch bestimmt. Der Staat dürfe sich keine Eingriffe in die inneren, freien und vernünftigen Zwecke der Schule erlauben, weil die Schule dem Staate nicht untergeordnet sei, sondern zur Seite stehen. Diese inneren Zwecke der Schule können nur aus der Öffentlichkeit der Vernunft hervorgehen und kritisiert werden, „je lauter und öffentlicher, desto besser” (Schulthess 1799). In Stapfers Erziehungsplan für die Helvetik wurden diese Vorstellungen übernommen, da „nichts den Fortgang der Kultur so belebt, als die Publizität” (Stapfer 1799). Neben der Institutionalisierung der Schule galt dieser Öffentlichkeit die Hauptanstrengung indem die Institution der Erziehungsräte geschaffen wurde, die ihr gegenüber dem Staat ein grösseres Gewicht geben sollte.
War der Staat nach französischem Vorbild streng zentralistisch, so blieben die Erziehungsräte föderalistisch.
Föderalistische Erziehungsräte zur Herstellung von Öffentlichkeit
Noch vor der Ausarbeitung des Erziehungsplanes setzte die Helvetische Regierung in allen Kantonen Erziehungsräte ein. Diese sollten das Gefäss sein, worin sich die Öffentlichkeit sammeln, sogar gegen den Staat bilden kann. War der Staat nach französischem Vorbild streng zentralistisch, so blieben die Erziehungsräte föderalistisch. War der Staat streng laizistisch – wie die neue staatliche Schule so sollten die Pfarrer in den Erziehungsräten mitarbeiten. Diese Räte sollten auch den inneren Gang jeder einzelnen Schule und der Institution insgesamt bestimmen, und zwar nach den Gesetzen der Vernunft (Stapfer 1799). Die Erziehungsräte dienten nicht nur als Vermittlung zwischen Regierung und Schule, Volk und Schule, sondern sie hatten eine eigenständige Funktion: nämlich der Öffentlichkeit Einlass in die Schule und der Schule Einlass in die Öffentlichkeit zu gewähren.
Dieser Vorstellung entsprach auch die Bestimmung der Aufgabe des neuen Schulsystems. Die unterste Stufe, die Bürgerschule, sollte allen Bürgern Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten vermitteln, die es ihnen erlauben, sich beruflich, gesellschaftlich und dem Staat gegenüber vernunftgemäß zu verhalten. So war auch vorgesehen, jenen Bürgern, die nicht über die Kenntnisse der Volksschule verfügen, die staatsbürgerlichen Rechte zu entziehen. Die Schule sollte den «Citoyen» heranbilden, den Menschen für die Öffentlichkeit erziehen.
In den Jahren nach dem Zusammenbruch der Helvetischen Republik wurden nicht nur diese Vorstellungen in die Helvetische Gesellschaft und ihren Konsens integriert, sondern die bestehenden Erziehungsräte konnten sich im Gegensatz zum Regime, das sie ins Leben rief, halten und wurden damit selbst zum Sammelpunkt der Öffentlichkeit und der pädagogischen Erneuerung bis zum liberalen Aufschwung. In diesem Aufschwung wurde diesem doppelt fixierten Verhältnis von Öffentlichkeit und Erziehung noch eine dritte Bestimmung zugeführt: dass Öffentlichkeit überhaupt erst durch Erziehung, das heißt Volksbildung und Nationalerziehung, entstehen könne.
Stapfer-Enquête
Um einen Überblick über den damaligen Zustand des Schulwesens zu erhalten, führte Stapfer im Januar 1799 bei allen Lehrern der Helvetischen Republik eine Umfrage (Stapfer-Enquête) durch. Sie war eine reichhaltige Momentaufnahme der Schweizer Schulverhältnisse jener Zeit, die ihresgleichen sucht und auch heute noch als historische Quelle dient.
Die Enquête weist nach, dass Elementarschullehrer (wenige Lehrerinnen) in der Schweiz um 1800 meist sozial hoch geachtete, fachkompetente Spezialisten mit lebenslanger Amtsausübung waren. Entgegen landläufiger Klischees wies die Schweizer Elementarschullehrerschaft am Ende der Frühen Neuzeit trotz ihrer sozio-ökonomischen und konfessionellen Heterogenität eine Vielzahl von biografischen Gemeinsamkeiten auf und war weder von kollektiver Armut noch von sozialer Verachtung geprägt.
Rolle der Pfarrer im Schulwesen
Das Schulwesen war noch zur Zeit der Helvetik lokalpolitisch organisiert und unterlag weiterhin kirchlicher Obhut. Die Geistlichen waren lange Zeit die einzigen (akademisch) Gebildeten in den Landgemeinden. Obwohl Stapfer offiziell für die Ernennung neu zu wählender Lehrkräfte zuständig war, überliess er die Entscheidung den Pfarrern oder lokalen Beamten. Es war ihm bewusst, dass die Reformen ohne die Unterstützung der Kirche nicht durchgesetzt werden konnten. Die bildungspolitischen Massnahmen waren für Stapfer die Grundvoraussetzung für das Überleben der Republik. Dazu gehörte auch die aktive Einbindung der Pfarrer in den Bildungsbetrieb.
Die Pfarrer erteilten den heranwachsenden Kindern einen weiterführenden Schreibunterricht, blieben Ansprechpartner für Schulmeister und Eltern, Vertrauensperson der Gemeinde, Vermittler behördlicher Erlasse und Schulordnungen und gehörten der neuen Schulaufsichtsbehörde als Schulinspektoren wie Jeremias Gotthelf an.
Die Pfarrer erteilten den heranwachsenden Kindern einen weiterführenden Schreibunterricht, blieben Ansprechpartner für Schulmeister und Eltern, Vertrauensperson der Gemeinde, Vermittler behördlicher Erlasse und Schulordnungen und gehörten der neuen Schulaufsichtsbehörde als Schulinspektoren wie Jeremias Gotthelf an. Die sahen die Antworten der Lehrer bei der Stapfer-Enquête durch und versahen sie mit Anmerkungen oder Zusätzen, da sie eine lesbare Schrift beherrschten und in der Rechtschreibung meist sicherer waren.
Pfarrer waren auch in der Lehrerausbildung tätig, wie Johann Rudolf Steinmüller in Rheineck (Kanton Säntis/St. Gallen), der nebenberuflich über 800 Jünglinge zu Lehrern ausbildete und eine Reihe von methodisch-pädagogischen Veröffentlichungen für Lehrer und Schulbücher veröffentlichte.
Lese- und Schreibunterricht als Einführung in bürgerliche Rechte und Pflichten
Während das Buchstabieren und Lesen von den Eltern noch vermittelt werden konnte, reichten deren Fähigkeiten im Schreiben und Rechnen oft nicht aus. Diese Lücke konnte nur die Schule schliessen, die auf Lehrer angewiesen war, die das Schreiben und Rechnen beherrschten. Das ist einer der wesentlichen Gründe, weshalb die Schule immer wichtiger wurde und hierdurch zu einer progressiven Institution avancierte.
Für die im deutschsprachigen Raum entwickelten pädagogischen Richtlinien zum Schreibenlernen in der Schule waren verschiedene Lehr- und Lernprozesse erforderlich. Neben der häuslichen Erziehung übernahm die Schule hierbei eine zunehmend grössere Rolle. Dort lernten die Kinder den Umgang mit Feder, Tinte und Papier für das Schreiben. Ziel des Schreibunterrichts war es, den Kindern das Federschreiben beizubringen und sie damit in ihre bürgerlichen Rechte und Pflichten einzuführen, um aus „lallenden und hülflosen Zöglingen der Natur“ (Stapfer 1799) eigenständige und glückliche Bürger zu formen.
Für den Schreibunterricht kamen die Kinder mit fünf oder sechs Jahren in die Schule. Sie lernten Buchstaben zu unterscheiden und wurden in die Buchstabiermethode eingeführt, durch die sie schliesslich auch lesen lernten. Ab dem achten Lebensjahr wechselten die Leseschüler in den Schreibunterricht. Schüler dieser Stufe hatten damit jene Voraussetzungen zu selbstbestimmten Bürgern zu werden, wie sie der Staat und seine Intellektuellen verlangte und brauchte.
Auf dieser Stufe wurden den Kindern Buchstaben, Silben, Wörter, Sätze, zuweilen auch Zahlen vorgeschrieben und den fortschreitenden Schülern erst kleinere (religiöse Texte), dann grössere (literarisch, historisch, naturkundliche) Schreibvorlagen (handschriftlich oder Kupferstiche) vorgelegt.
Der Schreibunterricht in der Schweiz um 1800 war auf dieser Stufe für viele Kinder beendet, weil sie als Arbeitskräfte in der Familie gebraucht wurden oder eine Handwerkslehre begannen.
Stapfer schwebte dabei folgendes vor: „Der Elementarunterricht in den Bürgerschulen sollte sich freylich auf alle Kenntnisse und Übungen erstrecken, ohne welche der Mensch nie zum vollen Gefühl seiner Würde und Bestimmung, der Bürger nie zur genauen Kenntnis seiner Rechten und Pflichten gelangt“.
Der Schreibunterricht in der Schweiz um 1800 war auf dieser Stufe für viele Kinder beendet, weil sie als Arbeitskräfte in der Familie gebraucht wurden oder eine Handwerkslehre begannen. Der Schreibunterricht für fortgeschrittene Schüler zwischen 12 und 17 Jahre war didaktisch und inhaltlich komplex. Die Lehrer diktierten und liessen ihre Schüler anspruchsvolle Vorlagen und Alphabete nachschreiben, aus gedruckten Büchern abschreiben, Briefe und Aufsätze abfassen. Die Rechtschreibung rückte in den Mittelpunkt der Übungen. Der weiterführende Schreibunterricht bot begabten und lernwilligen Kindern die Möglichkeit sich zu vervollkommnen, indem man sie in ihre bürgerlichen Pflichten einführte und sie „nützliche Sachen“ abschreiben ließ. Für unentbehrlich hielt man Vorschriften mit alltagspraktischen Inhalten, deren Beherrschung im bürgerlichen Leben hilfreich sein konnten (Aufsetzen einer Quittung, eines Schuldscheines, einer Rechnung, eines Kauf- oder Tauschbriefes).
Um 1800 konnten alle Schweizer lesen (vollständig alphabetisiert), wenn sie die Schule verliessen, die Mädchen etwas besser.
Diese Textvorlagen waren bei den Schülern so beliebt, dass sie ein Schreiblehrer im Oberemmental hinter Glas fasste. Wer diese Dinge beherrschte, hatte Korrespondenzfähigkeit und war für das berufliche Fortkommen gewappnet. Stapfers ambitionierter Schulreformplan wurde vom Parlament auf ein Mindestmass zurechtgestutzt und konnte im Vorfeld des Zweiten Koalitionskrieges nicht mehr umgesetzt werden. Seine während der Helvetischen Republik ausgearbeiteten Ideen im Bildungsbereich, die ihrer Zeit teilweise weit voraus waren, wurden durch andere erfolgreich umgesetzt:
Um 1800 konnten alle Schweizer lesen (vollständig alphabetisiert), wenn sie die Schule verliessen, die Mädchen etwas besser. Schreiben konnten noch nicht überall gleich viele, in den Städten jedoch fast 100% der Knaben und Mädchen. 1829 waren noch 17.5% der Rekruten Analphabeten, aber bereits 1835 konnten 95% der Rekruten sowohl lesen als auch schreiben.
Quellen:
Fritz Osterwalder: Die pädagogischen Vorstellungen in der Helvetischen Gesellschaft und die
Französische Revolution. Über die Zusammenhänge von
Nationalerziehung, Volksbildung, Staatsschule und Öffentlichkeit, Beltz Basel 1989
Daniel Tröhler (Hrsg.): Volksschule um 1800. Studien im Umfeld der Helvetischen Stapfer-Enquête 1799
https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Rudolf_Steinm%C3%BCller Johann Rudolf Steinmüller
https://stapferenquete.ch/ Stapfer-Enquête 1799
Lieber Peter Aebersold
Was ich da von dir als anerkanntem Haushistoriker zu lesen bekomme, ist bis auf die beiden letzten Abschnitte für mich ein elendes Samelsurium, weit davon entfernt von dem, was Fritz Osterwalder und Daniel Tröhler aufgezeigt haben.
Leider fehlt mir noch immer die Zusammenarbeit mit dir, was ich sehr bedaure.
Barbara Müller Gächter