29. März 2024

Noten sind wissenschaftlich gesehen untauglich

Hans Joss hat in seinem Leben viel geleistet und er ist ein Kämpfer für die schwächeren Schülerinnen und Schüler. Seit Jahren weist Hans Joss auf den eigentlichen Bildungsskandal in unserem Lande hin, dass nämlich 20% der Schulabgänger die Schule als Illetristen verlassen. Nun hat der Sozialdemokrat, der auch schon einige Male für unseren Blog Beiträge verfasst hat, zusammen mit Erika Reichenbach ein Buch herausgegeben. Zu diesem Anlass führte die Berner Zeitung mit den beiden ein Interview, das wir hier gerne aufschalten.

BUND: Frau Reichenbach, Herr Joss, in Ihrem Buch kritisieren Sie, dass zu viele junge Erwachsene am Ende Ihrer Schullaufbahn das Gefühl haben, sie seien dumm. Was läuft schief?

Erika Reichenbach: Das Problem beginnt bereits in Kindergarten und Elternhaus. Nicht alle haben die gleichen Startchancen. Manche Kinder kennen den Erfolgscode, wissen wie sie sich durchsetzen können und ihre Ziele erreichen.

Unterschiedliche Startchancen sind nun mal eine Realität.

Erika Reichenbach: Das ist so. Als Lehrperson kann ich diese Realität aber verstärken, indem ich mich mehr den Stärkeren zuwende. Da besteht das Risiko, dass ein weniger privilegiertes Kind zum Schluss kommt:«Ich bin dumm und deshalb mag man mich nicht.» Es geht um die Unversehrtheit eines guten Selbstwertgefühls.

Erika Reichenbach (77) ist ausgebildete Kindergärtnerin, Erwachsenenbildnerin und Beraterin. Sie arbeitete auch in der Aus- und Weiterbildung. Zudem war sie 25 Jahre lang in der Berner Bildungspolitik tätig. Bis vor Kurzem machte sie noch Stellvertretungen an Kindergärten.

 

 

 

In Finnland sind lediglich fünf Prozent der Schulabgängerinnen und -gängern davon betroffen

Herr Joss, Sie finden es vor allem skandalös, dass rund 20 Prozent aller Jugendlichen bei Schulaustritt nur ungenügend lesen und schreiben können. Aber vielleicht haben nun mal nicht alle das Potenzial dazu.

Hans Joss: In Finnland sind lediglich fünf Prozent der Schulabgängerinnen und -gängern davon betroffen. Wir können uns also deutlich verbessern.

Wie?

Hans Joss: In Finnland gelten drei Grundsätze: Jedes Kind ist wichtig. Kein Kind darf beschämt werden. Kein Kind soll auf der Strecke bleiben. Das Schweizerische Volksschulsystem kennt diese Grundsätze nicht. Obschon sie unmissverständlich im Schulauftrag entthalten sind.


Hans Joss (79) arbeitete als Seklehrer im Monbijou, als wissenschaftlicher Leiter bei der Lehrerinnen – und Lehrerfortbildung sowie als Dozent an der Pädagogischen Hochschule Bern.

Nach seiner Pensionierung engagierte er sich unter anderem als Präsident des Vereins Lesen und Schreiben für Erwachsene.

 

Heute stellen doch auch in der Schweiz keine Lehrerinnen und Lehrer mehr Kinder bloss.

Hans Joss: Das Schweizerische Schulsystem muss Leistungen mit Noten beurteilen. Das geht nicht ohne Beschämungen, besonders gegenüber Schwächeren.

Wie könnte man es besser machen?

Hans Joss: Zukunftsweisend finde ich das sogenannte Modell 4, das an den Stadtberner Schulstandorten Lorraine und Munzinger sowie in Twann angewendet wird. Diese Schulen arbeiten vor allem mit innerer Differenzierung. Das heisst, sie fördern das einzelne Kind optimal und vergleichen kein Kind mit dem andern.

 Erika Reichenbach: Ich habe mich über Jahre als Mitglied des Berufsverbands im Grossen Rat dafür eingesetzt, dass die Berner Erziehungsdirektion Integration ermöglicht anstatt auf Selektion zu setzen. Das Problem ist, dass es im Kanton Bern momentan ein riesiges Flickwerk von Massnahmen gibt: Kinder verlassen für einzelne Stunden die Klasse, werden in Logopädie unterrichtet, erhalten Förderung wegen Legasthenie oder Dyskalkulie. Manche Kinder entwickeln sogar Verhaltensauffälligkeiten, weil sie die vielen Wechsel überfordern.

Ich fände es ideal, wenn die Politik pro Klasse 150 Stellenprozente gewähren würde.

Was ist Ihr Vorschlag?

Erika Reichenbach: Ich fände es ideal, wenn die Politik pro Klasse 150 Stellenprozente gewähren würde. Dann hätten die Lehrpersonen mehr Zeit, um auf verschiedene Lernstände einzugehen und es gäbe weniger Unruhe in den Klassen.

Irgendwann kommt doch trotzdem die Selektion. Es können nicht alle Medizin studieren.

Hans Joss: Wir wissen alle, dass es Bereiche gibt, in denen wir nicht so gut sind wie andere.  Aber wenn uns von aussen zugeschrieben wird, wohin wir gehören – in die Real oder in die Sek – dann ist das schwierig zu ertragen. Nach der achten oder neunten Klasse können die meisten Jugendlichen ihr Potenzial sehr gut einschätzen.

Was halten Sie von Noten, um Leistungen zu beurteilen?

Hans Joss: Noten sind wissenschaftlich gesehen ein untaugliches Mittel, das wurde mehrfach belegt. Dennoch verwenden es Schulen weiterhin. Dabei verlassen sich nicht einmal Lehrmeisterinnen und Lehrmeister auf Zeugnisse. Wichtiger ist ihnen der Eindruck, den sie beim Schnuppern eines potenziellen Lehrlings erhalten.

Trotzdem: Noten geben ein unmittelbares Feedback. Kinder und Jugendliche wissen gerne, wo sie stehen.

Erika Reichenbach: Ja, bereits 4-Jährige machen untereinander Wettkämpfe, um zu sehen, wer schneller ist. Das ist okay, aber der Lehrer oder die Lehrerin soll im frühen Alter keine Zuordnung machen wie zum Beispiel “Du bist halt der Langsamste”.

Hans Joss: Die Lehrpersonen sollten die Haltung vertreten: «Wir haben Freude an allen. Wenn jemand etwas sehr gut kann, freuen wir uns mit ihm oder mit ihr. Wenn jemand Mühe hat, helfen wir.»

 

«Schule hinterlässt Spuren» betrachtet das Schweizer Schulsystem aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln: Schülerinnen und Lehrer, Schulleitungen und Berufsleute aus dem gesamten schulischen Umfeld kommen zu Wort. Sie schildern neben wenigen guten viele schlechte Erfahrungen. Daraus destillieren die Autoren Hans Joss und Erika Reichenbach ihre nachvollziehbaren Kritikpunkte am heutigen System.

 

Hans Joss und Erika Reichenbach: «Schule hinterlässt Spuren. Würde ist antastbar», Novum-Verlag 2021, 130 S., ca. 24 Fr. 

 

 

Dieses Interview erschien im Bund und in der Bernerzeitung: https://www.bernerzeitung.ch/noten-sind-untauglich-593092505237 20.11.21

 

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4 Kommentare

  1. In diesem Interview werden alte, ja uralte Mythen heraufbeschworen. Zum Beispiel derjenige von den «untauglichen Noten». Den Noten wird eine magische Zerstörungskraft zugeschrieben. Ihnen wird unterstellt, sie seien «wissenschaftlich» als «untauglich» entlarvt. Gleichzeitig erschrecken Joss und Reichenbach über die 20% Illetristen beim Schulaustritt. Frage, wie kommt diese Zahl zustande? Ja, durch Noten, die jetzt im Gewand von PISA plötzlich «wissenschaftlich» sind. PISA führt nämlich Messungen durch. Ob Prozentzahlen oder Noten: Beide sind Messverfahren für erbrachte schulische Leistungen. Wenn Messverfahren irgendwelcher Art angewandt werden, gibt es immer bessere und schlechtere Leistungen. So ist es auch im Hochsprung, beim Abfahrtski und beim Schwimmen. Es ist also zutiefst unlogisch, in dem einem Fall ein Messverfahren (Noten) als unwissenschaftlich und zerstörerisch zu brandmarken und im andern Fall ein ebensolches Messverfahren (Prozentpunkte) als Beweis für die Untauglichkeit des andern Verfahrens zu benützen.
    Die Verteufelung der Noten als Leistungsmessung ist deshalb falsch, weil nicht die Noten oder die Prozentpunkte zu Stress und Demoralisierung führen, sondern die erlebte Unfähigkeit, lesen zu können, und die Verwendung der Noten für die Promotion und die Chancenverteilung. Leistungsbeurteilung ist ein wesentlicher Bestandteil des Feedbacks an die Lernenden im Lernprozess. Werte auf einer Skala sind ein probates Mittel, um Leistungen schnell und klar einordnen zu können. Im Gegensatz zu PISA erheben Schulnoten gar nicht den Anspruch von Wissenschaftlichkeit, sie müssen auch nicht wissenschaftlich sein, weil sie aus dem Unterricht hervorwachsen und dort ihren momentanen Sinn haben. Deshalb sollte man endlich von der plakativen Verteufelung der Noten wegkommen und stattdessen darüber diskutieren, mit welchen Mitteln das Lernen unterstützt und verbessert werden kann.

  2. Kinder sind spätestens ab der ersten Klasse fähig, ihre Leistungen einzuschätzen. Dazu brauchen sie keine Noten, ein Blick zum Banknachbar genügt. Man kann den Kindern nichts vormachen, indem man ihnen die Noten vorenthält und ihnen etwas vorgaukelt. Sie fühlen sich dann nicht ernst genommen. Ob die Kinder glücklich sind, hängt auch nicht von der Note ab. Ein Kind das nur eine 5-6 erhalten hat, kann totunglücklich sein, während sich ein Kind, dass sich von einer 4 auf eine 4-5 gesteigert hat, überglücklich sein kann. Ohne Noten kann der Schüler seine Fort- oder Rückschritte nicht so deutlich erkennen. Damit die Notenunterschiede in einer Klasse nicht zu gross wurden, war man vor den Reformen immer darauf bedacht, möglichst homogene Klassen zu haben. Schwächere Schüler hat man in Kleinklassen eingeteilt, damit auch sie Erfolgserlebnisse machen konnten. Selektion findet so oder so statt. Die Frage ist jedoch, wer eine faire Selektion für alle durchführen kann. Lehrer sind die einzigen Fachleute, die speziell ausgebildet sind, um faire Selektionen durchführen zu können. Damit auch Eltern und Arbeitgeber über die Leistungen der Schüler transparent orientiert werden können, hat sich nichts so gut bewährt, wie die Noten.

  3. Interessant ist, dass es früher die Arbeiterbewegung war, die seinerzeit vehement für die Einführung von Noten gekämpft hat, in der Annahme, dass die Noten eine Objektivität garantieren, welche es den Kindern aus der Arbeiterklasse erlauben würde, durch konkrete leistungen den Aufstieg in die von den bürgerlichen Schichten dominierten Gymnasien zu schaffen.

  4. Zur Notengebung ist nichts, da schon kommentiert, hinzuzufügen. Anhand statistischer Angaben werden aber Aussagen von H. Joss “falsch”.
    1. “… in der Schweiz wurde ein Kompetenznachteil bei Jugendlichen festgestellt, die zu Hause mit ihrer Familie in einer anderen Sprache als der Schulsprache kommunizieren.” (Konsortium PISA.ch (2018). PISA 2015, S.18)
    2. “… dass in der Schweiz rund ein Drittel der fünfzehjährigen Schülerinnen und Schüler in einem multilingualen familiären Umfeld lebt.” (ebd.)
    3. “… für die meisten PISA-Staaten schlechtere Leistungswerte für Schülerinnen und Schüler aus eingewanderten Familien dokumentiert sind.” (ebed. S. 19)
    Dass dann Finnland besser abschneidet, ist stark auch statistisch bedingt, denn Finnland hat ca. 5% Ausländeranteil und die Schweiz – siehe Pt. 2 – ca. 35% Schülerinnen und Schüler, die nicht mit der Schulsprache familiär aufwachsen.
    Daher schneidet Finnland besser ab, aber nicht so gut wie H. Joss sagt. Finnland hat beim Lesen 11% im Niveau 1 und nicht 5%; die Schweiz hat 20% im Niveau 1. (Ebd. S. 42)
    Das Finnische dürfte für Ausländer eine schwieriger zu lernende Sprache sein als das Deutsche, aber für die nicht Deutsch sprechenden Kinder kommt in der Schweiz noch das Mundartproblem dazu!
    Zum Schluss noch: Auch in Finnland wird benotet/gewertet, denn es gibt Prüfungen und Wertungen. Am interessantesten für Schulinteressierte ist wohl die Tatsache, dass in Finnland “die Lehrerausbildung … sehr beliebt (ist), und es ist schwer, die Leistungsvoraussetzungen dafür zu erfüllen. So schafften 2014 nur rund 9 % der Kandidaten die Immatrikulationsprüfung an der Helsinkier Universität für die Ausbildung zum Klassenlehrer.”
    Manchmal fragt man sich dann schon in der Schweiz, warum die Lehrerausbildung nicht mehr so beliebt ist. Wir können – und da ist H. Joss zuzustimmen – uns verbessern.

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