Es ist bemerkenswert, dass eine anerkannte Erziehungswissenschafterin die Frage stellt, warum Knaben in unserem Schulsystem offensichtlich weniger Erfolg haben als Mädchen. Margrit Stamm hat den Mut, eine häufig verdrängte Frage anzusprechen und Ursachen zu benennen. Durch die Knappheit ihrer anregenden Stellungnahme bleibt die Autorin aber in ihren Aussagen teils auf halbem Weg stehen, indem erhebliche Konsequenzen für die Bildungspolitik unerwähnt bleiben.
Die Autorin setzt ihre Kritik an einem Punkt an, der mit der Feminisierung der Schule wenig zu tun hat. Wie sie schreibt, hängt Bubenförderung nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht davon ab, ob eine Lehrerin oder ein Lehrer eine Klasse unterrichtet. Die Autorin kritisiert jedoch, dass das aktuelle Bildungsprogramm mit seiner Sprachenlastigkeit und den oft weiblich geprägten Sozialisationsvorstellungen manchen Buben wenig entgegenkommt. Mit diesem Ansatz, der bei konsequentem Weiterdenken einigen Zündstoff in sich birgt, bringt Margrit Stamm ganz schön Bewegung in die Bubenpädagogik.
Schüler erschliessen heute aus Quellentexten, wie Alfred Eschers Onkel von Sklavenarbeit profitierte, aber sie kennen die grandiose Geschichte des Baus des Gotthardtunnels nicht.
Bei vielen Knaben herrscht das Gefühl vor, die Schule biete kaum etwas, das auch nur annähernd so spannend wie das Geschehen in der Freizeit sei. Das Fussballspiel in der grossen Pause ist für sie oft das Wichtigste an einem Schulmorgen. Offenbar weist in manchen Klassen der tägliche Unterricht zu wenige Höhepunkte auf, um vom Schulstoff her Spannung aufkommen zu lassen. Der Geschichtsunterricht wurde streng nach heutigen moralischen Kriterien gereinigt und alles Heldenhafte stark relativiert. Lehrerinnen und Lehrer der Primarschule wagen es kaum noch die Phase der Sturm- und Drangzeit der Alten Eidgenossenschaft erzählerisch zu gestalten. In der Sekundarschule wiederum wird die neuere Schweizer Geschichte meist nur bruchstückhaft und ohne einen inneren Spannungsaufbau vermittelt. Schüler erschliessen heute aus Quellentexten, wie Alfred Eschers Onkel von Sklavenarbeit profitierte, aber sie kennen die grandiose Geschichte des Baus des Gotthardtunnels nicht.
Buben sind fasziniert, wenn mit einem lebendigen Realienunterricht ein Stück Welt ins Schulzimmer kommt.
Buben sind fasziniert, wenn mit einem lebendigen Realienunterricht ein Stück Welt ins Schulzimmer kommt. Doch genau Fächer wie Geschichte, Geografie und bis vor kurzem auch Natur und Technik sind von ihrer Bedeutung her abgewertet worden. Sie sind in den internationalen Vergleichstests schwer messbar und ihr Nutzen ist nicht unmittelbar zu erkennen. Was hat man beispielsweise mit dem Naturkundeunterricht nicht alles angestellt! Statt spannende Einblicke ins Leben am Weiher zu vermitteln, wurden die verschiedenen Amphibien auf Englisch oder Französisch beschrieben und für Sprachübungen verwendet. Zwar waren das extreme Auswüchse einer Didaktik, welche Vielsprachigkeit über tieferes Verstehen von Mensch und Umwelt setzte, doch durch den forcierten Spracherwerb kamen die spezifischen Interessen der Buben generell zu kurz.
Ähnliches gilt für das Fach Natur und Technik, wo Buben in der Regel ein brennendes Interesse an spannenden Experimenten und technischen Bastelarbeiten haben.
Die Aufwertung der formal stark prägenden Fremdsprachen gegenüber den lebensnahen Realienfächern hat ihren Preis. Ein grosser Teil der Schüler ist in der herrlichen Phase des Entdeckens der Welt wenig daran interessiert, sich gleich in drei Sprachen korrekt ausdrücken zu müssen. Viel lieber beschäftigen sie sich mit der Frage, welcher Saurier denn der gefährlichste war und warum die gewaltigen Tiere ausgestorben sind. Ähnliches gilt für das Fach Natur und Technik, wo Buben in der Regel ein brennendes Interesse an spannenden Experimenten und technischen Bastelarbeiten haben. Sie blühen auf, wenn sie das Rückstossprinzip einer mit Luftdruck angetriebenen Rakete erproben oder einen selber gebauten Wagnerschen Hammer in Betrieb setzen können. Mit solchen Elementen der Spannung kann man Buben abholen und sie auch fürs alltägliche schulische Lernen gewinnen.
Ausgehend vom erkannten Nutzen einer Frühförderung in den Naturwissenschaften wird zurzeit versucht, den Technikunterricht auszubauen. Erfreulicherweise stehen bereits attraktive Lehrmittel zur Verfügung. Doch es ist noch ein weiter Weg, um den gewünschten Paradigmenwechsel herbeizuführen. Will man einen qualitativ hochstehenden Technikunterricht erreichen, braucht es den sorgfältigen Aufbau einer Physiksammlung und gezielte Weiterbildung. Um Erfolg zu haben, sind pädagogische Grundsatzdiskussionen über gemeinsame Bildungsziele und das Engagement eines schulinternen Fachteams notwendig. Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Grundinteresse für technische Experimente auf Seiten der männlichen Mitglieder eines Schulteams oft höher ist als bei ihren Kolleginnen.
Eine grosse Zahl der Lehrerinnen investiert sehr viel in die sprachliche Weiterbildung und setzt entsprechend im Sprachenunterricht gewisse Prioritäten. Das ist keinesfalls schlecht, solange in einem Schulteam eine einigermassen vernünftige Durchmischung der Geschlechter besteht. Fehlen jedoch in den Mittelstufenteams die Männer, besteht die Tendenz, dass in der schulinternen Weiterbildung und in fachlichen Teamgesprächen eine Einseitigkeit der Themen vorherrscht.
Was engagierte Lehrer neben ihren anders gelagerten Grundinteressen in ein Schulteam einfliessen lassen können, sind oft andere Arten der Konfliktbewältigung. Gerangel unter Buben sehen sie manchmal gelassener als ihre Kolleginnen. Der alltägliche Wettbewerb unter Buben ist ihnen vertraut und es fällt ihnen vielleicht leichter, im richtigen Moment einzugreifen. In einer Schulkultur des offenen Gedankenaustauschs in den Lehrerzimmern profitieren alle davon, wenn auch die eher männliche Art des Umgangs mit Buben thematisiert wird. Wo dies nicht der Fall ist, haben couragierte Lehrerinnen mit klarer Linie meist einen schwereren Stand.
Offensichtlich ist ein ganzes Segment fähiger Pädagogen weggebrochen, weil ihre Berufsvorstellungen nicht mehr mit dem neuen Lehrerbild übereinstimmen. Sie möchten als Kapitäne mit grosser sozialer Kompetenz eine Klasse führen und beim Bildungsprogramm ein gewichtiges Wort mitreden.
Zweifellos die heikelste Frage ist, wieweit sich das aktuelle Männerbild auf die Bubenpädagogik auswirkt. Da sticht man sofort in ein ideologisches Wespennest, wenn man versucht, das Ganze ein wenig zu typisieren. Margrit Stamm weist nur am Rand darauf hin, dass die gesellschaftlichen Normen zur Männlichkeit im Wandel sind. Und doch ist die Frage zentral, wieweit die teils neue Rolle des Lehrers als Begleiter überhaupt noch Männer mit pädagogischen Führungsqualitäten anspricht. Die Zahlen in der Primarschule sprechen eigentlich eine deutliche Sprache. Offensichtlich ist ein ganzes Segment fähiger Pädagogen weggebrochen, weil ihre Berufsvorstellungen nicht mehr mit dem neuen Lehrerbild übereinstimmen. Sie möchten als Kapitäne mit grosser sozialer Kompetenz eine Klasse führen und beim Bildungsprogramm ein gewichtiges Wort mitreden. Ihre Stimme fehlt in der Bildungspolitik. Der Wegfall dieser positiven Identifikationsfiguren ist zweifellos auch ein Rückschlag für die Bubenpädagogik.
Das Ziel einer Durchmischung der Schulteams auf der Mittelstufe muss ernst genommen werden. Buben sollen im Schulhaus erleben, wie Männer in gewissen Situationen reagieren. Überall wird heute gefordert, dass sich die Männer mehr in der Erziehung engagieren und sich mit Buben auseinandersetzen. Doch ausgerechnet im Schulbereich melden sich die Männer ab und tragen zu einem gravierenden Lehrermangel bei. Dessen belastende Nebenwirkungen sind bestens bekannt. So können manche Schulen einen Teil der Klassenpensen nur noch mit aufgesplitterten Teilzeitstellen abdecken. Das ist besonders in Klassen mit quirligen Buben eine Überforderung für alle Beteiligten. Margrit Stamm hat den Ball aufgenommen und ihn in die Runde gespielt. Jetzt liegt es an uns weiterzumachen.
Hanspeter Amstutz
Die aus pädagogischer Sicht übertriebene Sprachlastigkeit ist ein typisches, auch ideologisch aufgeladenes Merkmal der föderalistischen mehrsprachigen Schweiz. Mir ist in meiner Berufskarriere aufgefallen, dass Holländer oder Skandinavier besser Englisch sprechen als wir Schweizer, wohl weil dies die einzige Fremdsprache ist, die sie in der Schule lernen. Bei uns verzettelt man sich und überfordert einen beträchtlichen Teil der Jugendlichen. Zudem kommen dann nicht-sprachliche Fächer zu kurz.