19. April 2024

Die Volksschule kann sich die Absenz der Männer nicht länger leisten

Hanspeter Amstutz:
Das Abspringen begabter Kollegen aus dem Lehrerberuf geschieht oft sehr früh.

Der Lehrermangel in der Volksschule droht chronisch zu werden, wie ein Blick auf die steigenden Schülerzahlen der nächsten Jahre zeigt. Zwar treten mehr Studierende als je zuvor in eine Pädagogische Hochschule ein, doch die Tendenz zu Teilzeitanstellungen und die zu grosse Zahl vorzeitiger Abgänge aus dem Schuldienst sorgen für eine höchst angespannte Lage auf dem Stellenmarkt. Zeiten des Lehrermangels gab es immer wieder, doch die aktuelle Situation ist in zweierlei Hinsicht anders.

Weniger als 20 Prozent Lehrer in der Primarschule

Zum einen hat der Lehrerberuf bei den Männern offensichtlich viel an Anziehungskraft eingebüsst. An der Primarschule unterrichten heute weniger als zwanzig Prozent Männer. Wie Umfragen zeigen, ist es nicht primär der Lohn, der abschreckend wirkt. Der Einstiegslohn ist in den meisten Kantonen durchaus konkurrenzfähig zu Berufen mit ähnlich langer Ausbildung.

Nur noch 20% Männder an der Primarschule.

Vielmehr scheint das stark veränderte Lehrerbild bei vielen Männern stärker als bei Frauen Zweifel an der pädagogischen Aufgabe ausgelöst zu haben. Die Vorstellung, als geduldiger Begleiter Kinder oder Jugendliche zu betreuen und nicht mehr als unternehmungslustiger Kapitän das Klassenschiff zu führen, schreckt viele ab.

Dieses pädagogische Freiheitsgefühl, verbunden mit starker sozialer Verantwortung, hat lange Zeit den Lehrerberuf geprägt. Lehrersein erlaubte eine gewisse Unabhängigkeit im Denken, eine Offenheit in der Gestaltung des Schullebens und einen kritischen Geist in gesellschaftlichen Fragen. Es ist kein Zufall, dass aus dem Lehrerberuf immer wieder  Persönlichkeiten in die Politik und ins Kulturleben eingestiegen sind um ihre Fähigkeiten in einem erweiterten Kreis einzubringen.

Dieses pädagogische Freiheitsgefühl, verbunden mit starker sozialer Verantwortung, hat lange Zeit den Lehrerberuf geprägt.

Lehrer als innovative Führungskräfte mit sozialen Kompetenzen

Das Abspringen begabter Kollegen aus dem Lehrerberuf geschieht heute jedoch oft sehr früh und ist ein Verlust für jedes Schulteam. Eine lebendige Schule lebt von den pädagogischen Inputs engagierter Frauen und Männer. Doch diese schulinterne Gestaltungsfreiheit ist durch zu viele detaillierte Vorgaben schrittweise abgebaut worden. Lehrpersonen müssen sich an engmaschige Kompetenzanforderungen halten und verzweifeln fast ob der Fülle der Lehrplanziele. Dazu kommen unzählige organisatorische Absprachen und ein gescheiterter bürokratischer Berufsauftrag. Statt mit voller Kraft markante Bildungsziele ansteuern zu können, verlieren sich viele Lehrpersonen in drittrangigen Aufgaben ausserhalb des Unterrichtsbereichs.

Doch diese schulinterne Gestaltungsfreiheit ist durch zu viele detaillierte Vorgaben schrittweise abgebaut worden.

Die Politik muss die Lehrerrolle ernsthaft hinterfragen, wenn sie wieder mehr Männer in den Beruf zurückholen will. Die Vorstellung, Lehrpersonen seien innovative Führungskräfte mit sozialen Kompetenzen, liegt vielen nahe. Deshalb dürfen Methodenfreiheit und ein offener Wettbewerb didaktischer Ideen nicht nur auf dem Papier bestehen. Solange doktrinäre Vorgaben wie die unsinnige Abwertung des geführten Klassenunterrichts oder die Kräfte verschleissende Integration aller verhaltensauffälliger Schüler in Regelklassen die Lehrpersonen aufgebürdet werden, stört dies das Bild eines Berufs mit ausgeprägter Handlungsautonomie erheblich.

Auf all diese genannten Entwicklungen haben Männer als erste reagiert und in manchen Fällen der ganzen Pädagogik den Rücken zugekehrt. Doch auch viele Frauen sind gar nicht zufrieden, dass Nebensächliches und Administratives das Unterrichten in den Hintergrund drängt. Die meisten scheinen sich aber eher besser mit den neuen Gegebenheiten arrangieren zu können und versuchen nach wie vor engagiert, das Beste in ihren Teams zu machen.

Das Problem sind nicht die wenigen Mini-Anstellungen, sondern die Tatsache, dass die anspruchsvollen Klassenlehrerstellen oft nur mühsam mit geeigneten Lehrpersonen besetzt werden können.

Lieber Hilfslehrkraft als Klassenlehrperson.

Aufsplitterung der Pensen schafft erhebliche pädagogische Nachteile

Der zweite belastende Themenkreis betrifft das prozentuale Anstellungsverhältnis der Lehrpersonen und die zu schmalen oder unpassenden Ausbildungsprofile für Klassenlehrpersonen. Nur noch eine Minderheit unterrichtet heute mit einem vollen Pensum. Daneben gibt es eine grosse Zahl von Teilzeitangestellten mit unterschiedlichem Beschäftigungsgrad. Das Problem sind nicht die wenigen Mini-Anstellungen, sondern die Tatsache, dass die anspruchsvollen Klassenlehrerstellen oft nur mühsam mit geeigneten Lehrpersonen besetzt werden können. Muss eine Lehrperson aufgrund eines zu schmalen Ausbildungsprofils an mehreren Klassen unterrichten, wird der Aufbau intensiver Lernbeziehungen schwierig. Es fehlen die grossen Unterrichtsblöcke für eine freiere und effiziente Gestaltung des Unterrichts.

Die Aufteilung des gesamten Unterrichtsprogramms einer Klasse auf mehrere Köpfe galt zur Jahrtausendwende als pädagogischer Fortschritt.

Die Aufteilung des gesamten Unterrichtsprogramms einer Klasse auf mehrere Köpfe galt zur Jahrtausendwende als pädagogischer Fortschritt. Jeder Schüler und jede Schülerin sollte im Leben die Chance erhalten, in einem Team von mehreren Lehrpersonen jemandem mit der passenden Wellenlänge zu begegnen. Zudem ging man davon aus, dass bei einem schmaleren Ausbildungsprofil die Fachkompetenzen deutlich erhöht würden. Und weniger begabte Lehrer sollten so weniger Schaden anrichten können.

Aufwertung der Klassenlehrerfunktion erleichtert eine gute Klassenführung

Aufwertung der Klassenlehrerfunktion erleichtert eine gute Klassenführung.

Gegenüber dem System der breit ausgebildeten Klassenlehrer herrschte damals ein eigenartiges Misstrauen. Lehrerpersönlichkeiten mit einem ausgeprägten pädagogischen Gestaltungswillen waren auf einmal weniger gefragt, denn Kinder und Jugendliche sollten keinesfalls den Ansichten einer einzelnen Lehrperson ausgesetzt werden. Ausgewogenheit war Trumpf, man vertraute auf die Vielfalt der Meinungen und Charaktere in einem mehrköpfigen Lehrerteam. Dabei merkte man viel zu spät, dass weit gewichtigere Nachteile mit dem neuen System in Kauf genommen wurden. Klassen, die beinahe wie in einem Gymnasium von verschiedenen Fachleuten unterrichtet wurden, waren schwer zu führen. Die häufigen Lehrer- und Schulzimmerwechsel waren oft mit Unruhe und organisatorischem Aufwand verbunden. Obwohl die Klassenlehrerfunktion meist einzelnen Lehrpersonen übertragen wurde, ging vom Spirit des bisherigen Modells mit einem breitgefächerten Pensum der Klassenlehrperson viel verloren. Dieser Verlust an pädagogischer Ausstrahlung hat dem Ansehen des gesamten Berufsstands sicher geschadet und scheint erst in neuster Zeit durch differenziertere Ansichten zum Lehrerberuf überwunden zu sein.

Doch Eltern wollen stets wissen, wer denn in einer Klasse für ihr Kind hauptverantwortlich ist.

In einer modernen Schule spielt der Teamgedanke zweifellos eine grosse Rolle.  Grundlegende pädagogische Ideen können hier diskutiert und deren Umsetzung mitverfolgt werden. Heilpädagoginnen und Fachkräfte aus verschiedenen Bereichen sind unverzichtbare Helfer für das Wohl der Kinder. Doch Eltern wollen stets wissen, wer denn in einer Klasse für ihr Kind hauptverantwortlich ist. Je jünger ein Kind ist, desto zentraler ist die Funktion der Klassenlehrperson. Für die Entwicklung einer konstanten Lernbeziehung sind tägliche Begegnungen in mehrstündigen Unterrichtsblöcken mit der Klassenlehrperson von unschätzbarem Vorteil. Dabei kann in gut eingespielten Teams die Klassenlehrerfunktion durchaus auch auf zwei Personen aufgeteilt werden.

Man tut sich äusserst schwer, die Stellung der Klassenlehrpersonen entscheidend zu verbessern. Weder lohnmässig noch bei Entlastungen durch weniger Lektionen für Klassenlehrpersonen geht es richtig vorwärts.

Die tieferen Ursachen des Lehrermangels müssen aufgearbeitet werden

Eigentlich müssten die Bildungsdirektionen längst handeln. Doch man tut sich äusserst schwer, die Stellung der Klassenlehrpersonen entscheidend zu verbessern. Weder lohnmässig noch bei Entlastungen durch weniger Lektionen für Klassenlehrpersonen geht es richtig vorwärts. Gegen die Aufsplitterung der Pensen und dem damit verbundenen organisatorischen Aufwand wird zu wenig unternommen. Dabei ist allen klar, dass die Klassenlehrpersonen das starke Rückgrat unserer Volksschule bilden und einen erfolgreichen Einsatz vieler Fachlehrkräfte überhaupt erst ermöglichen.

Männer und Frauen wollen nicht einfach Ausführende von Bildungsplänen werden.

Der Lehrermangel kann nur behoben werden, wenn es gelingt, wieder mehr Männer für den alles in allem immer noch sehr attraktiven Lehrerberuf zu gewinnen. Das setzt aber ein Lehrerbild voraus, das die Freiheiten im Beruf sowie die Führungsverantwortung für eine Klasse hervorhebt. Männer und Frauen wollen nicht einfach Ausführende von Bildungsplänen sein und dienstbefliessen Bildungswünsche von allen Seiten erfüllen. Wer Lehrerin oder Lehrer ist, möchte mit Blick auf wesentliche Auftragsziele den Unterricht frei gestalten und sich Zeit für die anvertrauten Schülerinnen und Schüler nehmen können. Lehrpersonen sollten sich nicht schämen, ihre herausfordernde Aufgabe auch als Berufung anzunehmen, denn darin liegt viel pädagogische Kraft.

Die Bildungspolitik ist gefordert. Sie kann sich beim Lehrermangel weiterhin mit steigenden Schülerzahlen herausreden statt den tieferen Ursachen auf den Grund zu gehen. Doch das zweite wäre entschieden mutiger und erfolgversprechender.

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Ein Kommentar

  1. Ein doppelter Widerspruch

    Hanspeter Amstutz’ fundierte und treffliche Analyse wird durch einen Artikel bestätigt, der am 28.08.2021 im Tages-Anzeiger unter dem Titel “Schulleiter kontern Bildungsdirektion: ‘Lage sehr prekär’ ” erschienen ist.
    Wie jedes Jahr beklagt die Volksschule im Kanton Zürich einen Lehrermangel. Neu aber ist anfangs dieses Schuljahres die kühne Behauptung der Bildungsdirektion, vor jeder Klasse stünde eine Lehrerin oder ein Lehrer – was der Schulleiterverband nun prompt und vehement in Abrede gestellt hat. Es manifestiert sich gleich ein doppelter Widerspruch. Einmal mehr – aber nicht nur – stellt sich die Besorgnis erregende Frage, weshalb der Lehrerberuf offenbar doch nicht jene hohe Attraktivität geniesst, wie sie jüngst namentlich Heinz Rhyn, Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich in einem Interview mit der NZZ angepriesen und dabei insbesondere die Quereinsteiger erwähnt hat. Als noch beunruhigender ist indes die Schönrederei und Verwedelung von bitteren Tatsachen seitens der Bildungsdirektion einzustufen. Sie erweist damit allen einen Bärendienst, die unter dem Lehrermangel zu leiden haben. Und das sind vorab die Kinder und Jugendlichen an unserer Volksschule.

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