Die Schulpolitik der Schweiz, eine Standortbestimmung
Soziologe Johannes Gruber möchte mit seinem Beitrag die Diskussion um eine «linke» Bildungspolitik anstossen. Dabei zeigt sich, dass er mit der Welt der Schul- und Bildungspolitik der letzten 50 Jahre offensichtlich wenig vertraut ist. Könnte er sonst der Schule unterstellen, sie sei darauf angelegt, gesellschaftliche Verhältnisse zu zementieren statt den Unterprivilegierten zu gerechten Chancen zu verhelfen?
Kann eine einseitige Interpretation von statistischen Daten wirklich echte Befunde liefern, um Grundlage einer zukunftsgerichteten Bildungspolitik zu sein? Zweifel sind angebracht. Ein paar Gedanken der Reihe nach:
- Es ist fast naiv zu meinen, mit dem Zitieren von «Liberté, Egalité, Fraternité» sei der absolute Massstab für soziale Gerechtigkeit gefunden. Es ging damals in erster Linie um Emanzipation von den feudalen Strukturen. Nicht nur die französischen Revolutionäre waren sich nicht einig über die Auslegung der Begriffe, auch die Philosophie beantwortet die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit seit dem Altertum auf sehr unterschiedliche Weise. Aristoteles hatte keine Mühe damit, dass Menschen in der Gesellschaft ungleich gestellt waren. Für ihn bedeutete soziale Gerechtigkeit und erstrebenswertes Glück eine Situation, in der jeder Mensch die Stellung einnimmt, für die er am besten geeignet ist.1 Auch der aufklärerische Pädagoge Pestalozzi wollte nicht etwa dem Bauernstand zu mehr politischem Einfluss verhelfen, sondern die Kinder anleiten, die Zusammenhänge, in denen sie leben, besser zu verstehen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.2 Es ist geschichtlich falsch, die Kant’sche Forderung, «aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit herauszutreten», als politische Kampfansage an die herrschenden Machtträger zu deuten. Diese klassenkämpferische Auslegung ergab sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Folge der Auswüchse der industriellen Revolution und des ungebändigten Kapitalismus.
Die Schule steht jedoch seit je unter der Aufsicht politischer Gremien, die Lehrpersonen erhalten eine umfassende pädagogische Ausbildung.
- Die staatliche Schule hat seit ihren Anfängen ein doppeltes Ziel: Vorbereitung auf das Leben in der Gesellschaft, indem sie wissenschaftliches und kulturelles Grundlagenwissen und Können vermittelt, sowie Beurteilung der Leistung in Hinblick auf den weiterführenden Bildungsweg. Dass hier die Gefahr besteht, einseitige Förderung oder politische Indoktrination zu betreiben, kann keinesfalls bestritten werden. Die Schule steht jedoch seit je unter der Aufsicht politischer Gremien, die Lehrpersonen erhalten eine umfassende pädagogische Ausbildung. Auch ist die Schule einem ständigen Wandel unterworfen, und zwar sowohl in Bezug auf Inhalte, die sie vermittelt, als auch in Bezug auf Methoden, die sie anwendet, in Bezug auf Berechtigungen, die sie vergibt, und in Bezug auf die Werte, die sie lebt. An diesen Prozessen sind linke und bürgerliche Kräfte beiderseits beteiligt. Damit ist die Schule politisch ein kaleidoskopartiges Abbild der politischen Landschaft. Dass sie «einseitig gesellschaftliche Verhältnisse zementieren hilft», ist im Gegensatz zu Gesinnungsschulen (z.B. konfessionell geprägten Schulen) oder Schulen in Einparteienstaaten unter demokratischer Kontrolle nicht möglich.
- Dass die von Linken mitgestaltete Bildungspolitik nichts unversucht lässt, die «brach liegenden menschlichen Ressourcen» der wenig privilegierten Schichten zu mobilisieren, zeigen die ständigen Reformen der letzten 50 Jahre: Aufweichung der Bedingungen für Gymnasialeintritte in urbanen Regionen (Genf, Basel), sprachliche Frühförderung, Einführungsklassen zur Abfederung des Primarschuleintritts, Erweiterung des Schulobligatoriums von 8 auf 11 Jahre, Übergangsklassen für solche, die in eine höhere Schulstufe übertreten wollen, kooperative Schulen, Gesamtschulen, Digitalisierung, Inklusion der Lernenden mit besonderem Bildungsbedarf in die Regelklassen, Erweiterung der Bildungsmöglichkeiten im nachobligatorischen Schulbereich (Fachhochschulen, höhere Fachschulen, Berufsmatur, Passerelle). Die Erfolge lassen sich durchaus sehen: Das duale Bildungssystem bewirkt eine gegenüber dem Ausland rekordverdächtig geringe Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen nach Ende der Schulzeit.
Die Erfolge lassen sich durchaus sehen: Das duale Bildungssystem bewirkt eine gegenüber dem Ausland rekordverdächtig geringe Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen nach Ende der Schulzeit.
Die von Gruber zitierte Statistik (Becker/Schoch)3 berücksichtigt nicht, wie sehr initiale Bildungsnachteile von Unterprivilegierten noch im nachobligatorischen Bereich kompensiert werden können und den Betroffenen zum beruflichen und sozialen Aufstieg verholfen haben. Es fehlt also der langzeitliche Aspekt, der die Entwicklung der Schulabgehenden und der nachfolgenden Generationen und deren gesellschaftlichen Aufstieg im Blick hätte. Tatsächlich scheint das Problem zu sein, dass die Aufsteigenden die Positionen der Bessergestellten einnehmen, so dass neue Schichten (Migranten) gewonnen werden müssen, um die schlechter bezahlten und bildungsmässig anspruchsloseren Arbeiten zu übernehmen. D.h., je mehr Aufsteigende es gibt, desto dringender wird die Nachfrage nach neuen “Arbeitssklaven”, wobei deren Kinder natürlich wieder als Secondos bei Null beginnen.
Linke setzen sich also mit den Neoliberalen ins gleiche Boot, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven.
Ferner entgeht Gruber, dass die Idee von der Mobilisierung der brach liegenden Begabungsressourcen schon in den 60er Jahren von der OECD angestossen wurde. Nur geht es der OECD, welche zur Verbesserung der Schulen die PISA-Studie verantwortet, nicht um soziale Gerechtigkeit, sondern um den Erhalt des Motors des Kapitalismus: Mehr und besser Gebildete ermöglichen mehr wirtschaftliches Wachstum. Linke setzen sich also mit den Neoliberalen ins gleiche Boot, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Das Change Management-Konzept des Kantons Thurgau wurde von einem Sozialdemokraten entworfen. Es entstammt aus der Denkschule von McKinsey.
- Gruber geht grundsätzlich von dem Bild aus, dass alle Menschen von Natur aus gleich konzipiert seien und nur durch eine ungerechte Gesellschaft in sozial und wirtschaftlich unterschiedliche Schubladen gedrückt würden. Er glaubt, eine inklusive Gesamtschule könne diese Ungerechtigkeiten ausbügeln. Allerdings ist diese Vorstellung vom Menschen ein ideologisch geprägtes Zerrbild. Die Herkunft aus Familien mit unterschiedlichem Bildungsstand, aus unterschiedlichen Kulturen, die jedem eigentümliche genetische Anlage, die unterschiedlichen Begabungen sind nicht einfach durch eine Einheitsschule zum Verschwinden zu bringen. Menschen sind keine beliebig aus Ton formbaren prometheischen Geschöpfe.4
Schulstrukturen haben wenig Einfluss
Metastudien von Moser und Hattie zeigen auf, dass die Schulstruktur einen kleinen Einfluss auf die Wirksamkeit von Schule ausübt. Die breit angelegte BIJU-Studie in Deutschland hat dagegen aufgezeigt, dass Gesamtschulen insgesamt (also auch bei Begabten) zu einem generellen Niveauverlust führen.5 Euphorisch begrüsste Reformen (z.B. Fremdsprachenunterricht mit Passepartout) haben oft den Effekt, dass die Leistungsschere zwischen Privilegierten und Nicht-Privilegierten noch mehr aufgeht, weil Privilegierte den schulischen Unsinn durch Eigeninitiative unterlaufen können, die Nicht-Privilegierten jedoch als Reformopfer auf der Strecke bleiben. Die hervorragenden PISA-Resultate der Asiaten sind nicht den Gesamtschulen zu verdanken, sondern dem intensiven Nachhilfeunterricht, der den Kindern jeweils nach dem staatlichen Schulbesuch abends zugemutet wird.
Beide folgen dem Glauben an die Machbarkeit, an die Herstellung von Individuen, die in ihrem Sinne geartet sind und die sie wie Marionetten für ihre ideologischen Vorstellungen tanzen lassen können.
Die Herstellung von «Gleichheit», wie es sich Linke gerne ausmalen, trifft sich im Übrigen auffällig mit der neoliberalen Sicht eines auf «Kompetenzen» ausgerichteten Lehrplans: Beide folgen dem Glauben an die Machbarkeit, an die Herstellung von Individuen, die in ihrem Sinne geartet sind und die sie wie Marionetten für ihre ideologischen Vorstellungen tanzen lassen können. Dabei geht der erste Begriff der französischen Revolution vergessen: la Liberté. Damit sei auch darauf hingewiesen, dass Egalité und Liberté in einem fundamentalen Widerspruch zueinander stehen, wenn sie nicht im einschränkenden Sinn der Auflehnung gegen adlige Privilegien gesehen werden.
Schwachstellen in Johannes Grubers Argumentation
Im zweiten Teil sei auf einige Falschinterpetationen von Johannes Gruber hingewiesen.
Gruber schreibt: Hinsichtlich der gymnasialen Maturität vermerkt die Studie für Akademikerkinder eine 7 Mal höhere Chance, «die gymnasiale Maturität zu erwerben, als Kinder von geringer gebildeten Eltern, und eine 2,9 Mal höhere Chance als Kinder von Eltern mit mittlerem Bildungsniveau». (SWR 2018, S. 48)
Die Frage sei erlaubt: Ist die Gymnasial- bzw. die Abiturquote das Mass aller Dinge, oder handelt es sich hier um den etwas altmodischen Bildungsdünkel, dass nur ein Maturitätsabschluss den Eintritt in ein finanziell sorgenloses und selbstbestimmtes Leben führen kann. Die Studie der Universität Lausanne (https://sgab-srfp.ch/verdient-man-mit-der-matura-wirklich-besser-als-mit-einer-berufslehre/9) ergibt hier ein differenziertes Bild. Und auch Rudolf Strahm betont, dass Berufsmatur und Fachhochschulen sowie lebenslanges Lernen (da gehen wir mit Gruber einig) sich als sehr lohnwirksam auswirken können.
Gruber schreibt: Die finnischen Schüler*innen, die neun Jahre lang bis zum Alter von 15 eine Gemeinschaftsschule besuchen, schneiden bei internationalen Leistungsvergleichen überdurchschnittlich gut ab.
Keine Frage: Unsere finnischen Kollegen und Kolleginnen haben in der Vergangenheit vieles sehr gut gemacht. Die Lesekompetenz, und nur das misst PISA, ist beachtlich. Die Ursachen für Finnlands Spitzenleistungen in diesem Bereich darf man nicht verkürzt oder aus einer ideologischen Brille betrachten. https://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/warum-der-finnische-pisa-erfolg-nichts-mit-dem-gesamtschulsystem-zu-tun-hat-15035526.html) In der Zwischenzeit sind die Messresultate nach Jahren der Spitzenplätze rückläufig. Und eine Zahl gibt enorm zu denken: Die Jugendarbeitslosigkeit in Finnland betrug 2019 fast 19%. (Schweiz 2,2%) Das zeigt, dass eine hohe Maturitätsquote keineswegs automatisch auch zu einem selbstbestimmten, autonomen Leben führt.
Gruber schreibt: Mehr Ressourcen – Linke Bildungspolitik fordert, dass bei der Bildung unserer Kinder weder Kosten noch Mühen gescheut werden …
Gemäss Statistik des Bundesamtes haben sich die Bildungsausgaben von 16,9 Milliarden Franken (1990) auf 38 Milliarden Franken (2020) mehr als verdoppelt. Und auch gemäss dem Bruttoinlandprodukt haben sich die Ausgaben um über 24% gesteigert! https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsfinanzen/oeffentliche bildungsausgaben.assetdetail.14367421.html
Man kann sich natürlich fragen, ob die Entschädigung für einen sozialdemokratischen Schulbezirkspräsidenten in Zürich (Jahreslohn 187’000 Fr.) von 650’000 Fr. bei eigener Kündigung auch zu den Bildungsausgaben gehört. Zu denken geben sollte dabei, dass diese Mehrausgaben um rund 130% weder zu besseren PISA-Resultaten noch zu mehr statistisch relevanter Bildungsgerechtigkeit geführt haben.
Gruber schreibt: Weil vom gemeinsamen Lernen alle profitieren, unterstützt linke Bildungspolitik auch eine früh beginnende Schulpflicht (bzw. die Einführung des obligatorischen Kindergartens.
Hierzu gibt es wenig Evidenzen: Der Kanton Tessin hat schon in den 1980er Jahren damit begonnen, seine Kinder sehr früh einzuschulen. Laut PISA-Ergebnissen belegt der Kanton Tessin in der interkantonalen Statitisk den vorletzten Platz und hat auch eine deutlich grössere Jugendarbeitslosigkeit als der Rest der Schweiz. Frankreich, das seine Kinder traditionell schon mit 3 Jahren einschult, erzielt nicht nur miserable PISA-Ergebnisse, sondern hat auch eines der ungleichsten Schulsysteme in Europa.
Gruber schreibt: [Mündigkeit] erschöpft sich nicht in der Aneignung von Wissen, sondern beinhaltet auch das Vermögen, das Anerzogene und Gelernte in Frage zu stellen. Selbständige Urteils- und Handlungsfähigkeit als oberstes Bildungsziel.
Einverstanden: Gruber umschreibt den Begriff der Mündigkeit. Die Aussage gilt aber für alle Lerninhalte, auch für die holistischen Kompetenzziele «Klimarettung», «Nachhaltigkeit», «Vielfalt», «Diversität» usw. Die von der Linken so vehement verteidigten Kompetenzziele «Kann mit Vielfalt umgehen», «Kann sich situationsgemäss ausdrücken» oder «Kann sein Konsumverhalten kritisch hinterfragen» können, als Kompetenzen beurteilt und gemessen, in eine schulische Indoktrination führen mit diktatorischen Ansprüchen.
Grundsätzlich sind Grubers und unsere Ziele identisch. Die Autoren dieser Zeilen haben sich ihr ganzes Berufsleben hindurch für die Kinder unterprivilegierter Schichten eingesetzt. Und es wird in dieser Hinsicht auch weiterhin enorm viel getan. So entwickelt unsere Condorcet-Autorin Yasemin Dinekli zusammen mit anderen engagierten Lehrpersonen ein fächerübergreifendes Sprachförderkonzept für Migrantenkinder im Gymnasium, das – richtig umgesetzt – einiges bewirken dürfte. Darin liegt z.B. ein Schlüssel für die Erreichung dieser Ziele. Wir stehen für eine ideologiefreie Bildungspolitik, die von den Gegebenheiten ausgeht, die sie antrifft, die Kinder und Jugendliche in ihren Anlagen und Interessen fördert, jedoch anerkennt, dass gewisse Bedingungen nicht leicht beeinflussbar sind, die jedoch viele Möglichkeiten der Kompensation auch im nachschulischen Bereich anbietet. Und wir sind überzeugt, dass solche Ansätze einer Bildungspolitik vorzuziehen sind, die sich an Zielen orientiert, die ausserhalb der Möglichkeiten des Unterrichts stehen und zudem mit massiven Glaubenssätzen belegt sind.
1 Aristoteles, Politik, Erstes Buch. Betrachtungen über die Gerechtigkeit des Herrschens und Dienens.
2 Dietrich Brenner, Friedhelm Brüggen, Geschichte der Pädagogik, Stuttgart 2011: «Pestalozzis Schulgründungen sind weder aus dem Geiste der Revolution abgeleitet noch gegen die Revolution gerichtet, sondern zielen auf eine Sicherung elementarer Voraussetzungen, die für die Führung eines ökonomisch, sittlich und politisch mündigen Lebens grundlegend sind und die ein unmündiges Volk sich weder aus eigener Kraft verschaffen noch ein Staat seinem Volk von oben herab verordnen kann.», S. 195
3 Rolf Becker und Jürg Schoch, Soziale Selektivität: Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR; Expertenbericht von Rolf Becker und Jürg Schoch im Auftrag des SWR; Bern 2018
4 Thomas Kerstan, Ist die Schule gerecht?, DIE ZEIT, 28.6.2012 Nr. 27 «Selbst der längere gemeinsame Schulbesuch von Kindern unterschiedlicher Sozialschichten, auf den viele ihre Hoffnung setzen, vermag den Einfluss der Herkunft nicht zurückzudrängen.»
5 Urs Moser, Schulsystemvergleich: Gelingensbedingungen für gute Schulleistungen. Expertise über die Bedeutung von Schulmodellen der Sekundarstufe I für die Entwicklung der Schulleistungen, Zuhanden der Bildungsdirektion des Kantons Zürich, Bildungsplanung, Zürich 2008
John Hattie, Visible Learning, A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement, 2009
Jürgen Baumert/Olaf Köller, Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter (BIJU). Längsschnittuntersuchung in repräsentativen Stichproben in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Berlin (Ost und West) ab 1991. Pädagogik, 50. Jahrgang, Heft 6/1998