Die Ökonomisierung des «Service Public»
Die Ökonomisierung des Bildungswesens in der Schweiz erfolgte im Rahmen des neoliberalen New Public Managements (NPM). Das Bildungswesen sollte aus dem demokratischen Rahmen herausgelöst und marktwirtschaftlich organisiert werden. Aus neoliberaler Sicht stört die Demokratie den Markt, weil sie umverteilt. Ihre Geringschätzung demokratischer Prinzipien kleiden Neoliberale vornehmlich in das Konzept der «Soft Governance» («neue Steuerung»).
Bei der Einführung von NPM in der Schweiz hat sich der ehemalige Erziehungsdirektor des Kantons Zürich, Ernst Buschor, besonders hervorgetan. Der 1943 geborene Buschor erhielt nach Studium und Promotion an der Hochschule St. Gallen (HSG) 1971 ein Expertenmandat für Finanzfragen im Europarat.
Erste Weichenstellung
Die erste Weichenstellung für das NPM erfolgte mit der Umwandlung der gemeinwohlorientierten Staatsbuchhaltung (Kameralistik) in eine profitorientierte Betriebsbuchhaltung, wie sie damals bei der Industrie üblich war. Das ermöglichte u.a. die Errichtung von «Profit Centern» und die Einführung von «Fallpauschalen». Die Kameralistik hatte als Schuldenbremse gewirkt, weil man nur das ausgeben konnte, was man zuvor eingenommen hatte. Mit dem neuen Buchhaltungsmodell verliess man das Vorsichtsprinzip und konnte auch unveräusserliches Gemeineigentum wie Schulhäuser, Sportplätze, Strassen, Wälder und Friedhöfe als Vermögen ausweisen und damit stolze Bilanzen präsentieren.
1975 führte Buschor, als Chef der Finanzverwaltung des Kantons Zürich, die Betriebsbuchhaltung als «neues Rechnungsmodell» ein. Das «Zürcher Modell» machte bald Schule in anderen Kantonen. Für ausgabenfreudige Politiker war die wundersame Vermehrung von Vermögen und Eigenkapital wie Manna vom Himmel.
Das Schweizer NPM-Modell
1985 wurde Buschor als Professor an die HSG berufen, wo er den Import von Theorien aus dem angelsächsischen Raum förderte, eine umfangreiche Beratertätigkeit ausübte und zur Bildung eines schweizerischen Modells des amerikanischen New Public Managements massgeblich beitrug. WiF!, «die wirkungsorientierte Führung und Verwaltung», ist die deutsche Umschreibung für jenes Spezialgebiet, in dem sich der ehemalige St. Galler Professor weltweit einen Ruf geschaffen hatte: New Public Management oder kurz NPM.
Erster Akt Buschors als Gesundheitdirektor: Einführung der Fallkostenpauschale
NPM beim Gesundheitswesen
1993 wurde Ernst Buschor in den Regierungrat des Kantons Zürich gewählt, wo er als Chef der Direktion Gesundheitswesen und Fürsorge seine Ideen in die Tat umzusetzen begann. Kernpunkt der von ihm initiierten Bewegung für mehr Markt und leistungsorientierte Führung im Zürcher Spitalwesen wurde die sogenannte «Fallkostenpauschale», die heute Ärzte und Spitalpersonal ans Limit treibt und sie über einen Berufswechsel nachdenken lässt.
Zur Umsetzung der Reformen liess Buschor die gesetzlichen Grundlagen entsprechend anpassen (Verwaltungsreformrahmengesetz, Universitätsgesetz, Fachhochschulgesetz, Mittelschulgesetz, Personalgesetz der Volksschule und Lehrerbildungsgesetz, neues Volksschulgesetz usw.)
Nach Pelizzari gelang es Buschor mit der Politik «der leeren Kassen» und dem Versprechen an die Politiker aller Parteien, dass man Geld sparen könne, ohne Leistungen zu kürzen und ohne Sozialabbau betreiben zu müssen, unter Ausschaltung weiter Teile des demokratischen Prozesses bei der Haushaltsplanung und einer rigorosen Kommunikationsstrategie, in der öffentlichen Verwaltung, im Gesundheits- und im Schulwesen neoliberale Reformen in die Wege zu leiten. Zur Umsetzung der Reformen liess Buschor die gesetzlichen Grundlagen entsprechend anpassen (Verwaltungsreformrahmengesetz, Universitätsgesetz, Fachhochschulgesetz, Mittelschulgesetz, Personalgesetz der Volksschule und Lehrerbildungsgesetz, neues Volksschulgesetz usw.)
Das zürcherische Schulsystem vom hohen pädagogischen Ross herunterholen und zu einem Dienstleistungsunternehmen umformen.
NPM beim Bildungswesen
Nach seiner Wiederwahl 1995 wechselte Buschor unter dem Druck seiner Regierungskollegen in die Erziehungsdirektion, weshalb seine Spitalreform unfertig blieb. Buschor soll wenige Monate nach seinem Wechsel zur Bildungsdirektion versprochen haben, «das zürcherische Schulsystem vom hohen pädagogischen Ross herunterzuholen und zu einem Dienstleistungsunternehmen umzuformen». Als Erziehungsdirektor bis 2003 initiierte er ein Paket von NPM-Reformen, das «Projekt Schule 21». Gleichzeitig führte er die NPM-Reformen an der Universität durch, was zu einem Kulturwandel Richtung «Selbstorganisation» und – wie an den amerikanischen Universitäten – zur Einflussnahme von Sponsoren aus der Wirtschaft auf den bisher freien Wissenschaftsbetrieb führte. In der Folge hatten sich die Zuwendungen aus der Wirtschaft fast verdoppelt.
„Für die rasche Globalisierung sind drei Dinge wesentlich: Kostengünstige Kommunikationsinstrumente stehen mit dem PC und den vielfältigsten Netzwerken zur Verfügung. Die Welt-Kommunikationssprache Englisch hat sich weltweit durchgesetzt. Weltweite Liberalisierungen wie der WTO Vertrag und die grossen Binnenmärkte Asiens, Europas und Amerikas erlauben den rascheren Transfer von Wissen und Produkten. Es bestehen erhebliche und kostengünstige Überkapazitäten für Kontakte im Personenverkehr und für die Abwicklung der Warentransporte. Zudem lebt die Menschheit vor allem in den Industriestaaten in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft.“
– Ernst Buschor, Referat Schulsynode vom 22. Juni 1998 in Winterthur
Für Buschor war schon damals klar, dass künftig die öffentliche Hand nur noch einfach testbare Fächer als Grundbildung zu erbringen hatte, den Rest sollten die Eltern als Investition für die Zukunft ihrer Kinder auf dem Bildungsmarkt dazu kaufen.
Projekt Schule 21
Das «Projekt Schule 21» begann am «World Economic Forum» in Davos, wo der in mehreren Hochschul- und Fachhochschulgremien aktive Vizepräsident des Holderbank-Verwaltungsrates an einer Veranstaltung des globalen Wirtschaftsprüfungskonzerns Arthur Andersen über «Education of the Future» teilnahm und zu einem Symposium in Boston eingeladen wurde. Er reichte die Einladung an Ernst Buschor weiter, der in den USA endlich Beispiele von Schulen sah, die seinen Vorstellungen entsprachen. Noch im Flugzeug schrieb er das Grundkonzept für eine Reform, die wie keine andere Staub aufwirbeln sollte, die «Schule 21»: Der Umgang mit Computer, Internet und E-Mails könne nicht früh genug gelernt werden, am besten gleich zu Beginn der Primarschule. Das Gleiche gelte für die englische Sprache. Für Buschor war schon damals klar, dass künftig die öffentliche Hand nur noch einfach testbare Fächer als Grundbildung zu erbringen hatte, den Rest sollten die Eltern als Investition für die Zukunft ihrer Kinder auf dem Bildungsmarkt dazu kaufen. Er war auch für Leistungslöhne für Lehrer und eine Erfolgskontrolle für einzelne Schulen mit allfälligen finanziellen Konsequenzen.
Die «Soft Governance» Methode
Der «Turboreformer» Buschor, wie er genannt wurde, wollte sein Projekt schnell vorwärtsbringen, ohne den demokratischen Weg bemühen zu müssen. Die «Schule 21» sollte in drei bis vier Jahren flächendeckend umgesetzt sein, da hatten Bedenken gegen das Frühenglisch usw. keinen Platz. Er ging den Weg des «Soft Governance» und sammelte Gelder bei interessierten Wirtschaftskreisen. Der Unternehmer Klaus Jacobs unterstützte das Reformvorhaben spontan mit einer Million Franken aus der Johann-Jacobs-Stiftung. Die Sammlung brachte 2,5 Millionen Franken für das Reformprojekt, um die wissenschaftliche Evaluation des Projekts und die Ausbildung der Lehrer finanzieren zu können. Computerhersteller waren gerne bereit, die Schulzimmer zu Sonderkonditionen mit ihren Produkten zu versorgen. Der damalige Leiter des kantonalen «Entwicklungsprojektes Informatik für die Oberstufe der Zürcher Volksschule» warnte davor, die Volksschule für die Konzerne zu öffnen: «Sponsoring hat viele Gesichter, aber nur eine Seele: die längerfristige Wirtschaftlichkeit für den Geber. Langfristig rechnet es sich für ihn, wenn er in die Digitalisierung der Schule investiert.»
Widerstand gegen Turbo-Reformen von oben
Mit seinen Turboreformen schaffte sich Buschor nicht nur Freunde. Dass die Reformen von oben kamen, im Wesentlichen Buschors Ideen waren und nicht immer den dringendsten Anliegen von Schülern, Lehrern und Schulbehörden der Gemeinden entsprachen, schuf in vielen Kreisen geradezu einen Widerwillen gegen den Erziehungsdirektor. Erst hatte er die Universitätsreform durchgesetzt, die Oberstufenreform auf Trab gebracht, die «Teilautonomen Volksschulen» (TaV) eingeführt, und schon setzte er zum Frontalangriff mittels Computer und Englisch auf die Kinderseele an, und das erst noch mit Hilfe der Wirtschaft.
Der Widerstand wuchs, als sich Schulpfleger und Lehrer 1999 zum Anti-Buschor-Komitee verbündeten. Ein ehemaliger Kantonsrat und vollamtlicher Schulpflegepräsident der Stadt Zürich hielt im Vorwort der Broschüre «Der Anfang vom Ende der Volksschule» fest, wie unter der Ägide des damaligen Bildungsdirektors Buschor eine Bildungsreform eingeleitet wurde, die gekennzeichnet sei von einer straffen und eingleisigen Hierarchisierung des Bildungswesens (Schulleiter usw.), wie es zum Fahrplan der wirtschaftlichen Globalisierung gehöre. Buschor als ehemaliger Dozent für Finanzwirtschaft an der Hochschule St. Gallen sei offensichtlich vom Erfolg der Globalisierung vollkommen überzeugt und habe diese Tendenz mit grosser Energie auch im Bildungswesen verfolgt. Der «Sonderfall Schweiz» jedoch zeichne sich aus durch seine demokratischen Strukturen und die Möglichkeiten der Mitsprache des Volkes. Das würde schleichend abgebaut.
Erfolge des Widerstands
Anfangs scheiterte Buschor mit seinem ambitiösen «Schulprojekt 21», mit Englisch und Computereinsatz ab der ersten Primarschulklasse, dessen Vorbild ihn in Kalifornien begeistert hatte. Später setzte er das Frühenglisch und das umstrittene Lehrerbeurteilungssystem MAB durch und führte geleitete Schulen als «Profit Center mit CEO» ein. Als Ernst Buschor seine NPM-Reformen Ende 2002 im Volksschulgesetz mit zwölf Teilprojekten absichern wollte, gab es Widerstand durch die Lehrer und das Zürcher Volk lehnte es mit einer Nein-Mehrheit von 52 Prozent ab. Als drei Jahre später das praktisch gleiche Volksschulgesetz mit viel Staatspropanda und mangels Lehrerwiderstand vom Volk angenommen wurde, war Buschor schon nicht mehr im Amt.
Kumulation gesellschaftlicher Machtfelder
Die Kumulation von Positionen in verschiedenen gesellschaftlichen Machtfeldern beförderte Buschor in die Stellung eines wirkmächtigen Reformers: Er war Mitglied zahlreicher Kommissionen und Gremien, darunter war der Vorsitz bei der «Schweizerischen Harmonisierung der öffentlichen Haushalte», Präsident des Nationalen Forschungsprogramms «Wirksamkeit staatlicher Massnahmen», Präsident der Schweizerischen Hochschulplanungskommission, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Verwaltungswissenschaften, die in den 1990er Jahren zu einem wichtigen Forum der Verbreitung des «New Public Management» wurde. Buschor war von 1998 bis 2003 Mitglied im Schweizer Fachhochschulrat und 2001/02 Vizepräsident der Schweizerischen Universitätskonferenz. Von 2004 bis 2007 war er Vizepräsident des Rates der Eidgenössischen Hochschulen (ETH-Rat). Seit 2003 sass er im Stiftungsrat der Jacobs Stiftung und im Stiftungsrat der Stiftung Careum Zürich, seit 2004 im Beirat des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE). 2005 wurde er Mitglied des Leitungsausschusses der Stiftung Avenir, Zürich. Von 2005 bis 2007 war er Vorsitzender des Kuratoriums der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh. Er war korrespondierendes Mitglied am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer.
Scheitern der Globalisierung
Es gab schon früh Kritiker (z.B. Fred Malik, HSG) des von den Medien als erfolgreiches amerikanische Modell hochgelobten NPM. Dessen schuldenfördernde Bilanzierungspraxis führte bereits 2002 zu den weltweit grössten Firmenzusammenbrüchen; Firmen wie Arthur Andersen («Big five») wurden als «Sündenböcke» geopfert. Das Problem lag jedoch laut Nobelpreisträger Stiglitz im System der Globalisierung und deshalb kam bald die grosse Rezession, die 2008 in Amerika begann und sich innert kurzer Zeit auf die ganze Welt ausbreitete – allein in China gingen 20 Millionen Arbeitsplätze verloren – und viele Millionen Menschen verarmten. Die moderne Volkswirtschaftslehre mit ihrem Glauben an freie Märkte und an die Globalisierung hatte Wohlstand für alle versprochen.
Mit Bildung liess sich schnell viel Geld verdienen
Versagen eines NPM-Vorzeigemodells
In Neuseeland führte die Einführung von NPM zur Schliessung von psychiatrischen Kliniken, weil das ausgebildete Personal wegen NPM den Beruf wechselte. Die Patienten wurden in Gefängnisse überführt, wo sie vom Gefängnispersonal betreut werden mussten.
Neuseeland hatte 1989 eine Schulreform nach dem New Public Management-Modell durchgeführt und wurde auch für Buschor zum Vorzeigemodell. 10 Jahre später wurde es zum NPM-Versager-Modell, über das nicht mehr berichtet wird.
Der durch die Möglichkeit der «freien Schulwahl» ausgelöste Wettbewerb zwischen Neuseelands Schulen hat zu Gewinner- und Verlierer-Schulen (mit ihren Oberschichts- bzw. Unterschichtskindern) und zu neuen Formen der Segregation geführt. NPM hat im Bildungsbereich eine Vergrösserung der Unterschiede in der Bildungsqualität zur Folge, weil das Hauptgewicht auf die Veränderung äusserer Strukturen gelegt und die differenzierte Ermittlung der effektiven pädagogischen Auswirkungen auf das eigentliche Lehren und Lernen vernachlässigt wird. Unterdessen müssen die Lehrpersonen Schulmarketingaufgaben übernehmen, die sie von der Hauptaufgabe der Bildung zeitaufwändig absorbieren. Konkret sieht das dann so aus: Neuseelands «Lehrer müssen auf jede Information achten, welche die Marktstellung der Schule in ihrer Umgebung verändern bzw. verschlechtern könnte. Sie sollten die Leistungen ihrer Schüler in den Medien propagieren; sie sollten neue Bereiche anfügen, welche die Diversität des School Programs hervorstreichen (auch um den Preis grösserer Klassen), und sie sollten das öffentliche und das private Verhalten ihrer Schüler so beeinflussen, dass das beste Bild der Schule daraus resultiert».
Quellen:
Buschor, Ernst: «Das neue Rechnungsmodell für Kantone und Gemeinden» 1978, in: Forum statisticum 10 (1978), S. 3–12
Buschor, Ernst: «New public management. Internationale Erfahrungen und Beiträge». Verlag Heidelberg Zündel & Partner Hrsg. 1996
Buschor, Ernst: «New Public Management als neuer Retter in der Not: Der Anspruchsvolle Weg zum New Public Management.» 1997, in: Reflegs – Informations- und Personalmagazin des GS EMD 1997, Nr. 7
Buschor, Ernst: «New Public Management: Reformbedarf auf Bundesstufe.» 2000, in: Vom Service Public zum Service au Public Zürich, 2000, S. 63–69, ISBN 3858238562
Pelizzari, Alessandro: «Die Ökonomisierung des Politischen: new public management und der neoliberale Angriff auf die öffentlichen Dienste», Konstanz 2001. ISBN 3-89669-998-9, Kapitel 3: Finanzpolitik und gesellschaftspolitische Gegenreformen im Kanton Zürich
Ernst Buschor: «Das Ausmass der Globalisierung wird nicht in Zürich entschieden.» «Wissensgesellschaft: Die Zukunft beginnt auf der Baustelle.» Zeitschrift Bilanz, 8.8.2003
Tonia Bieber: “Soft Governance in Education”. The PISA Study and the Bologna Process in Switzerland. „Staatlichkeit im Wandel“ − „Transformations of the State“ Bremen, 2010
http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Buschor_%28%C3%96konom%29
Schon nur die Idee, staatliche Schule sollen Profitcenter sein, ist an Wahnsinn nicht zu überbieten. Buschor ist gescheitert und wir inzwischen hoffentlich gescheiter. Was der Typ an Schaden angerichtet hat, müsste man ihm eigentlich persönlich in Rechnung stellen.
Die Ideen von Ernst Buschor richten in den Schulen immer noch Schaden an. Das Rad wurde nach seinem Abgang leider nicht zurückgedreht.