5. Oktober 2024

Unheilsbringer

Die Corona-Krise hat die Schulen digitaler gemacht. Ist das allein schon ein Zeichen des Fortschritts? Mitnichten, denn dabei verkümmert der Ort der Bildung. Dieser Ansicht ist der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer.

Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler: Nicht nur Lernort, sondern auch Lebensort

Deutschland stemmt sich gegen die Pandemie und fährt sein öffentliches Leben herunter. Doch Großbetriebe dürfen weiterlaufen, die Schulen hingegen bleiben geschlossen. Dabei liegen nach neun Monaten pädagogischem Stotterbetrieb viele Karten auf dem Tisch, und trotz hoher finanzieller Anstrengungen muss man feststellen: Die meisten taugen nichts. Das Homeschooling hat nicht geklappt und es klappt bis heute nicht. Kinder und Jugendliche sehnen sich danach, in die Schule zu  gehen – und freuen sich selbst auf schlechten Unterricht, Hauptsache Präsenz. Keiner lernt gerne allein zu Hause. Und egal wie die Videoplattform auch heißt: Beziehungen – das Bildungselixier schlechthin – lassen sich nicht auf Dauer digital pflegen, geschweige denn aufbauen. Vor diesem Hintergrund kann man deutsche Schlagzeilen zur Wirksamkeit von Homeschooling drehen und wenden, wie man möchte. Überzeugende Empirie kommt aus den Niederlanden, wo eine Forschergruppe die Effekte des Homeschoolings untersuchte und zu dem Ergebnis kam, dass alle Schüler weniger lernten, besonders wenig Kinder aus bildungsfernen Milieus.

Bildungsungerechtigkeit nimmt also zu, und Digitalisierung wird zu ihrem Treiber. Allein damit ist aber das ganze Ausmaß der Digitalisierung und ihrer Wirkung auf die Bildung noch nicht beschrieben. Denn Lernende hängen seit der Krise noch mehr an den Endgeräten – und nein, sie lernen dabei nicht immer. Meistens verschwenden sie ihre Zeit, daddeln herum, unterfordern sich kognitiv und schaden sich körperlich.

Überzeugende Empirie kommt aus den Niederlanden, wo eine Forschergruppe die Effekte des Homeschoolings untersuchte und zu dem Ergebnis kam, dass alle Schüler weniger lernten, besonders wenig Kinder aus bildungsfernen Milieus.

Eine Ifo-Studie hat diese Tendenz eindringlich offengelegt und davor gewarnt. Es ist nicht nur empirisch zweifelsfrei, sondern für den gesunden Menschenverstand nachvollziehbar: Wer immer weniger Zeit mit Lernen verbringt, wird weniger lernen. Die notwendige Selbständigkeit im Umgang mit digitalen Medien ist übrigens nicht eine Frage des Alters, sondern der Kompetenz.

Das Ende der Kreidezeit ist längst da.

Ein gewisser Aktionismus…

Und in der Schule selbst? Das Ende der Kreidezeit ist längst da, und die Digitalisierung drängt immer weiter vor. Tafeln raus, Smartboards rein. Die nächsten Schritte sind auch schon beschlossen: Lernende bekommen ein Tablet, Lehrpersonen natürlich ebenso. Bei alledem wird man den Eindruck nicht los, dass ein gewisser Aktionismus herrscht nach dem Motto: Hauptsache, neuer Lack für den maroden Bildungstanker. Demgegenüber können viele Schüler bestätigen, was mit Forschungen belegt wurde: Digitale Technik allein verbessert den Unterricht nicht. Erst wenn sie pädagogisch sinnvoll in den Unterricht integriert ist, kann sie wirken.

Digitale Technik allein verbessert den Unterricht nicht.

Mehr Monotonie als je zuvor

Wenn nicht, nimmt Lernen sogar Schaden. Und so gibt es heute vielfach mehr Powerpoint, mehr Frontalunterricht, mehr Monotonie im Unterricht als jemals zuvor. Statt Feiern gibt es Filme, statt Diskussionen gibt es Erklärvideos und statt Sportfesten gibt es Robotik-Wettbewerbe.

Freude entsteht so nicht.
Foto: Bernerzeitung

Freude an der Schule entsteht so nicht, und es ist kein Wunder, dass die Motivation, in die Schule zu gehen, mit jedem weiteren Schuljahr abnimmt und erst zum Ende hin wieder steigt – wenn Licht am Ende des Tunnels sichtbar ist. Wenn man angesichts von mehr als 40-jähriger Forschung zum Einsatz von digitalen Medien und dem damit verbundenen Ergebnis, dass sie nicht von sich aus wirken, immer noch glauben kann, dass sie Bildungsrevolutionen auslösen oder in Krisenzeiten zum Heilsbringer avancieren, zeugt von pädagogischer Naivität. Vielleicht ist der Anspruch aber auch zu hoch. Sinnhaftigkeit würde schon ausreichen oder zumindest Nützlichkeit. Wie machen wir uns also fit für die digitale Zukunft? Na klar: Programmieren, am besten schon im Kindergarten. Wer inhaltlich auf die Angebote blickt, wird ernüchtert sein – medienkritischer Tiefgang findet sich nur selten. Meistens wird gespielt. Selbst das langweiligste Gedicht bietet mehr Stoff zur Reflexion. Stattdessen noch mehr Sitzen vor den Endgeräten – was durch die aktuelle Lage noch verschärft wird. Wer Musik, Kunst und Sport in der Krise aufgibt und mit dem Etikett der Entbehrlichkeit versieht, der wird dem Bildungsauftrag nicht gerecht und reißt der Schule die Seele aus dem Leib.

Sie ist heute kein Bildungsort mehr, sondern zu einem Lernort verkümmert, an dem nur noch das unterrichtet wird, was ökonomisch von Interesse ist.

Der Digitalisierungsschub in Folge der Corona-Krise hat zu einer Transformation von Schule geführt. Sie ist heute kein Bildungsort mehr, sondern zu einem Lernort verkümmert, an dem nur noch das unterrichtet wird, was ökonomisch von Interesse ist. Während also der musische Bereich stirbt, nimmt der ökonomisch interessante Bereich Fahrt auf. Kurz gesagt, es droht eine Bildungskatastrophe. Ein Umdenken ist unerlässlich.

Schon eher punktet man als Digitalisierungsguru, der viele Spiele kennt, aber nicht in die Augen von Kindern sehen kann, oder als stellvertretender Chefvirologe, wie so manch ein Verbandsfunktionär in der Vergangenheit aufgetreten ist – mediale Selbstbefriedigung statt Einsatz für das Wohl der Kinder.

Schule ist nicht nur Lernort, sondern Lebensraum. Dazu gehört der soziale Austausch und deswegen ganz besonders auch das soziale Lernen. Der wichtigste Grund für Schüler, in die Schule zu gehen, ist nicht das Lernen – es sind die Gleichaltrigen. Doch es ist nicht die Stunde der Anwälte der Kinder. Schon eher punktet man als Digitalisierungsguru, der viele Spiele kennt, aber nicht in die Augen von Kindern sehen kann, oder als stellvertretender Chefvirologe, wie so manch ein Verbandsfunktionär in der Vergangenheit aufgetreten ist – mediale Selbstbefriedigung statt Einsatz für das Wohl der Kinder.

Was also tun? Keine Zauberei, ein Blick zur Seite hilft. Denn es gibt selbst in der Krise Schulen, die überzeugen. Sie meistern die Distanz, nutzen Technik sinnvoll und immer mit Augenmaß, schaffen es sogar, Beziehungen zu pflegen. Das Geheimnis des Erfolges liegt nicht im Strukturellen, sondern in der Art und Weise, wie das Kollegium über Schule denkt: Das Denken bestimmt das Sein. In der Forschung wird von kollektiver Wirksamkeitserwartung gesprochen. Gelingt es einer Schule, eine gemeinsame Vision von Bildung zu entwickeln, Kriterien für Unterrichtsqualität zu bestimmen und als Richtschnur im Alltag zu nehmen, dann kann sie selbst in der Krise vieles bewirken.

Dabei steht im Zentrum dieses Denkens nicht die Frage: Haben wir ausreichend Tablets? Sondern die pädagogische Frage schlechthin: Wer ist der Mensch?

Ausweg Schulfernsehen?

Nun wird es dauern, bis alle Schulen sich auf diesen Weg gemacht haben. Bleibt also keine Alternative, als weiterhin durch die Krise zu stottern? Eine gibt es, die bereits in den Siebzigerjahren im Zug der Diskussionen um die damals befürchtete Bildungskatastrophe eingeführt wurde und institutionell verankert ist: das Schulfernsehen. Bei allem pädagogischen Bedenken gegenüber  dem Fernsehen, in der Krise könnte es zum Heilsbringer werden. Viele Sender haben bereits Angebote, der entscheidende Schritt aber fehlt. Für jede Klassenstufe müsste vonseiten des Ministeriums ein Krisenstundenplan entwickelt werden, mit festen, verbindlichen, fokussierten und rhythmisierten Sendezeiten, die didaktisch auf höchstem Niveau sind. Lernende hätten so eine Struktur, Lehrpersonen eine Unterstützung, Eltern eine Entlastung. Eine Bildungskatastrophe könnte so zumindest abgefedert werden.

Wer aus pädagogischer Sicht erfolgreich durch die Krise kommen und vor allem auch aus der Krise lernen möchte, der muss für eine Rehumanisierung der Schulen eintreten. Technik allein verbessert nicht den Unterricht Haben wir genug Tablets? Ist das wirklich die entscheidende Frage?

Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.

Dieser Text erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung

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