20. April 2024

«Streulicht» von Deniz Ohde – Eine Buchbesprechung

Condorcet-Autor Georg Geiger beginnt das Jahr 21 mit einem Lesevorschlag! Das Buch von Deniz Ohde: Streulicht kann fast als Romanform der soziologischen Analyse von Aladin El-Mafaalani gelesen werden, ein Buch, das unser Georg Geiger bereits im Juli vergangenen Jahres in unserem Blog vorstellte (https://condorcet.ch/2020/07/mythos-bildung-eine-buchbesprechung/).

Georg Geiger, Gymnasiallehrer in Basel

Das deutsche Pendant zum französischen Tandem Didier Eribon und Annie Ernaux heisst Aladin El-Mafaalani und Deniz Ohde. Wer die eher trockene soziologische Analyse der ungerechten Gesellschaft und der Rolle des deutschen Bildungssystems des Erziehungswissenschaftlers El-Mafaalani, wie er sie in seinem neusten Buch «Mythos Bildung» veröffentlicht  hat, literarisch eindrücklich veranschaulicht haben möchte, dem oder der sei der ebenfalls im Jahre 2020 erschienene Roman «Streulicht» dringend empfohlen, mit dem es die 32-jährige Autorin verdientermassen auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat.

Am 6. Juli 2020 ist auf dem Condorcet-Blog meine Besprechung des Buches «Mythos Bildung» erschienen: Mit seinem nüchternen soziologischen Blick stellt El-Mafaalani die soziale Herkunft von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt seiner Analyse. Er geht dabei von drei Voraussetzungen aus: Die heutige Gesellschaft produziert soziale Ungleichheiten, die ohne die Schule noch viel grösser wären. Mit dem Vorwurf «Du hast leider Deine Chance nicht genutzt!» wird paradoxerweise soziale Ungleichheit durch eben dieses Bildungssystem überhaupt erst legitimiert. Aber leider gibt es neben der Bildung keinen anderen gesellschaftlichen Bereich, der diesen Kreislauf durchbrechen könnte.

Im Modus des Mangels ist der Zugang zu Bildung als Selbstzweck weitgehend versperrt.

Kinder aus sozialen Unterschichten entwickeln intuitiv Denk- und Handlungsmuster, um den Mangel zu managen. Diese verinnerlichte Grundhaltung nennt er den «Habitus», der schon sehr früh im Menschen gebildet wird. Im Modus des Mangels ist der Zugang zu Bildung als Selbstzweck weitgehend versperrt. Man orientiert sich auf Grund der finanziellen Knappheit an Kurzfristigkeit und Funktionslogik. Alles ist nutzenorientiert, Umgang mit Optionen gibt es kaum und der Zeithorizont ist sehr kurz. Bei Kindern mit Migrationshintergrund kommt noch dazu, dass sie einerseits von den Eltern geschubst werden, schulisch erfolgreich zu sein und sozial aufzusteigen, andererseits gezogen werden, der eigenen Herkunft treu zu bleiben. Die Lehrer*innen, mit denen sie es zu tun haben, stammen mehrheitlich aus der bildungsbürgerlichen Mittelschicht, die oft ohne böse Absicht die Potenziale der Kinder schichtspezifisch verzerrt einschätzen.

Ein Arbeiterkind kommt zurück

Der Roman «Streulicht» von Deniz Ohde beginnt mit der Beschreibung des Ortes, an dem sie aufgewachsen ist: «Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte. Niemandem hier fällt das mehr auf, und auch mir wird es nach ein paar Stunden wieder vorkommen wie die einzig mögliche Konsistenz, die Luft haben kann. Jede andere wäre eine fremde. Auch mein Gesicht verändert sich am Ortsschild, versteinert zu dem Ausdruck, den mein Vater mir beigebracht hat und mit dem er noch immer selbst durch die Strassen geht. Eine ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht.» So ist es nicht verwunderlich, dass die Ich-Erzählerin in dem Roman keinen Namen hat. Das Arbeiterkind kommt zurück an den Ort, wo es aufgewachsen ist, um an der Hochzeit ihrer Kindheitsfreunde Sophia und Pikka teilzunehmen. Und während es die alten Wege geht, erinnert es sich an den Vater, der 40 Jahre Aluminiumbleche in Laugen legte, an den Grossvater, der wie sein Sohn nichts wegwerfen konnte, an die Mutter, die ihre anatolische Herkunft verdrängte, Mann und Kind verliess und früh starb. Und an den Schulabbruch und die Scham und die Angst, nicht zu bestehen und als Aufsteigerin nicht dazu zu gehören.

Nicht einfach eine Autobiographie

Deniz Ohde, Autorin: Ich muss dieses Haus verteidigen.

Orte sind der Autorin im Zusammenhang mit der sozialen Herkunft wichtig, wie sie in der Sendung «52 beste Bücher» von Radio SRF2 vom 13.November 2020 erläutert. Im Roman wird sie vom Gefühl überfallen, «dass jemand hereinkommt, dass jemand den Schlüssel in der Wohnungstür dreht und ich dieses Haus verteidigen muss, aber gegen was, gegen den Druck von aussen gegen die Scheiben, gegen die tiefhängenden sauren Wolken, gegen Besuch, der sich nicht angekündigt hat, gegen die Fremden im Ort.» Der Frankfurter Industrieplatz Höchst mit seinem angrenzenden Stadtteil Sindlingen  schimmert hier wohl durch, aber es wäre schade, dieses Buch einfach auf eine autobiographische Verarbeitung zu reduzieren denn zu präzise, zu unerbittlich und zu treffend sind diese Orte, diese Menschen und diese Institutionen, um nicht ein hohes Mass an beklemmender Verallgemeinerung in sich zu tragen.

Wünsche waren eine Sache der anderen, der Sentimentalen (der Frauen) oder derer, die es sich leisten konnten

Möglichst einfach durchkommen

Ihr Vater, dessen ganzes Leben die Ich-Erzählerin als «eine einzige Ersatzhandlung» beurteilt, hatte mit 16 angefangen zu arbeiten, «etwas anderes, ein eigenes Wollen, war für ihn nicht denkbar gewesen.» Das Wünschen war verboten, gehörte in die Welt der Groschenromane. «Wünsche waren eine Sache der anderen, der Sentimentalen (der Frauen) oder derer, die es sich leisten konnten.» Und er benahm sich auch als erwachsener Vater, «als wäre man immer noch gefangen in einer Zeit, in der Selbstbeschränkung notwendig gewesen war;» Er war gnadenlos im Umgang mit dem eigenen Körper und er war davon überzeugt, «man müsse seinen Unterhalt aus eigener Kraft bestreiten und dürfe nichts für sich in Anspruch nehmen, schon gar keine Staatsgelder; auch nicht, wenn man ein Recht auf sie hatte.» Dies alles führte dazu, dass er seiner Tochter sogar das Lösen freiwilliger Zusatzaufgaben mit folgender Begründung auszureden versucht: «Das Wichtigste im Leben ist, möglichst einfach durchzukommen.» Sich anstrengen führe zu nichts, davon war er überzeugt. Und so lebte er im Gefühl, seine Tochter durch ihr Abitur, ihr Studium und ihren Umzug in eine andere Stadt an eine Welt verloren zu haben, zu der er nicht gehörte. Sinnigerweise hört das Buch mit einem väterlichen Ratschlag für seine Tochter auf, der da lautet: «Wenn’s nichts wird, kommst wieder heim.»

Er war gnadenlos im Umgang mit dem eigenen Körper und er war davon überzeugt, «man müsse seinen Unterhalt aus eigener Kraft bestreiten und dürfe nichts für sich in Anspruch nehmen, schon gar keine Staatsgelder; auch nicht, wenn man ein Recht auf sie hatte.»

Die Mutter der Protagonistin machte aus ihrer anatolischen Herkunft ein verbrämtes Märchen und sie kaschierte ihre Unterwerfung unter den Ehemann und dessen Kultur mit vordergründiger Härte und Ungerührtsein. Die Befreiung gelang nur mit der Trennung. Im Kontrast mit dem kleinbürgerlichen Paradies der selbstsicheren Mutter der Freundin Sophie wird schmerzhaft deutlich, wie deren Arglosigkeit auf die Tochter abgefärbt hatte und wie bei der Ich-Erzählerin stattdessen ein Gefühl einer «tiefsitzenden Verunsicherung» sich breitgemacht hatte.

Lehrkräfte kommen schlecht weg

Die Lehrerinnen und Lehrer und die Schule als Institution kommen in diesem Roman ganz schlecht weg. Das muss man nüchtern zur Kenntnis nehmen, auch gerade, wenn man selbst Lehrer ist. Da ist der Herr Kaiser, «der eigentlich Wissenschaftler werden wollte», sich aber nicht getraute und wohl glaubte, «dass Lehrersein der einfachere und sicherere Weg sei.»

«Orientierungsphase. Danach wird ausgesiebt, wenn klar ist, wer der Sache gewachsen ist. Abitur, das ist kein Spass.»

Oder die Musiklehrerin, die sich überschwänglich verbeugte, «als stünde sie in einem Konzertsaal. Vielleicht hatte sie Dirigentin werden wollen», ganz so, wie es auch der ursprüngliche Wunsch des Sportlehrers gewesen war, Leichtathlet zu werden. Und da ist der Schulleiter, der am Elternabend stolz erklärte: «Orientierungsphase. Danach wird ausgesiebt, wenn klar ist, wer der Sache gewachsen ist. Abitur, das ist kein Spass.» Wenn im Gymnasium  die Lehrer scheinbar zusammenhangslos durch den Raum riefen «Ihr seid die Elite!», so handelte es sich für die Ich-Erzählerin um eine implizite Aufforderung, «aber welches Verhalten genau von mir verlangt wurde, was genau damit zusammenhing, dass ich zur Elite gehören sollte, verstand ich nicht, und es war auch keine Frage, die ich mir bewusst stellte, sondern vielmehr eine allgemeine Ratlosigkeit, die sich daraus ergab.» Und es erstaunt, nicht, dass diese Schulkarriere nicht gradlinig verlief und dass hier eher Identität entzogen statt gebildet wurde. Die Ich-Erzählerin, war nicht «schaumgeboren, sondern staubgeboren; russgeboren, geboren aus Kochsalz in der Luft, das sich auf die Autodächer legte. Geboren aus dem sauren Gestank der Müllverbrennungsanlage, aus den Flusswiesen und den Bäumen zwischen den Strommasten, aus dem dunklen Wasser, das an die Wackersteine schlug, einen Film aus Stickstoff und Nitrat, nicht Gischt.»

 

Deniz Ohde: Streulicht. Roman Berlin 2020 Suhrkamp Verlag, ISBN 978-3-518-42963-1

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