21. Dezember 2024

Der Condorcet-Blog enttäuscht mich zusehends

Ein Condorcet-Leser lässt seinem Ärger freien Lauf. Er antwortet der Condorcet-Autorin Christine Staehelin, nachdem diese auf seinen ersten Beitrag reagiert hat. Für Hans-Peter Köhli haben die vielen gescheiten Artikel auf dem Blog keine Wirkung mehr. Er verlangt nun den aktiven Widerstand.

Liebe Frau Staehelin

Ich finde es auch verheerend, was mit den Lehrberufen an der Volksschule
passiert ist. Das einstige freudige Einsteigen in idealistisches pädagogisches Wirken ist weit herum einer Suche nach profanem Geldverdienen gewichen. In unserem Quartierschulhaus in Zürich gibt es 26 Lehrstellen an der Primarschule, davon sind 23 (!) von Leuten mit halbem Pensum besetzt, gleich 46 Personen. Die Gründe dafür sind mannigfaltig, aber das Verhältnis zum Beruf und zu gewerkschaftlichen Belangen ist natürlich nicht das gleiche, wie wenn eine 100%ige Verpflichtung vorliegt. Ergo steht man den Reformen ziemlich gleichgültig gegenüber, und oft ist zu hören: Reformen? Sind mir egal – ich bin für zweieinhalb Tage angestellt, da lässt sich der blöde Lehrplan 21 verkraften, und ich ereifere mich auch nicht wegen anderer dummer Neuheiten. Leider ist zu befürchten, dass diese Mentalität bei vollen Stellen ebenfalls um sich gegriffen hat und die Lethargie ständig an Terrain gewinnt.

Handlungsbedarf im sonderpädagogischen Sektor

Christine Staehelin, Primarlehrerin in Basel, gab den Ball der Politik zurück. Hans Peter Köhli antwortet darauf.

Während die negativen Folgen des verfehlten LP mit seinem selbstgesteuerten Lernen oder die Probleme der Digitalisierung wohl erst in einiger Zeit so richtig sichtbar werden dürften und die Frühfremdsprachen ein heikles Politikum darstellen, ist meines Erachtens im Moment der sonderpädagogische Sektor das grösste Übel. Hier wäre es am nötigsten, zum Handeln überzugehen. Die ganze Theorie mit dem ambulanten Service der Heilpädagoginnen klappt meist überhaupt nicht wie gedacht. Erstens hat es viel zu wenige dieser ausgebildeten Therapeutinnen, zweitens bringen sie nur Unruhe für die zu behandelnden Kinder und in die betroffenen Klassen, und drittens dürfte wohl der Nutzen weniger Speziallektionen bei gleichzeitigem Verpassen des Klassenstoffes eher bescheiden sein. Viele Abteilungen sind immer mühsamer zu führen. Oft weiss man kaum mehr ein und aus, denn vor allem disziplinarische Probleme bringen die Lehrkräfte bald einmal an den Anschlag.

Kinder leiden oft unter ihrem Sonderstatus

Clevere Beamte in der Bildungsdirektion haben nun einen Trick gefunden, um vom Hauptproblem, den fehlenden Kleinklassen, abzulenken. Oft genügt ein einzelnes Kind, um eine Klasse zu drangsalieren. Lösung: Klassenassistentin. Das ist völlig unzweckmässig, und die Kosten sind happig. Zumindest im Kanton Zürich stellen aber die Schulpflegen reihenweise solche pädagogisch nicht ausgebildeten Personen ein, statt energisch die Wiedereinführung der bewährten Kleinklassen zu fordern. Dabei ist man sich weit herum einig: Die Abschaffung des bisherigen bewährten Systems war ein Fiasko. Es gibt nun einfach Kinder, die lassen sich nicht in normale Klassen eingliedern und leiden dort häufig unter ihrem Sonderstatus.

Die zum Teil hoch angesehenen Koryphäen, die hier regelmässig schreiben,
müssten doch in solchen Fällen vermehrt aktiv werden, entweder einzeln, im Verbund oder mittels Gründung von Komitees, IGs usw.!

Reichenbach sieht richtig: Die Reformer unternehmen alles, um ihre Neuerungen irreversibel zu gestalten. Auf diesen Punkt bezogen: Einer aus der Reformgilde sagte angesichts der Forderung nach Wiedereinführung von Kleinklassen triumphierend, dies sei ausgeschlossen, an der HfH werde gar nicht mehr für Klassenführung ausgebildet! Solche Arroganz bringt mich auf die Palme: Dann muss das halt wieder geändert werden! Aber als gewöhnlicher Sterblicher kann man lange bei der Bildungsdirektion protestieren, wie ich es gemacht habe, Effekt gleich null.

Blog enttäuscht zusehends
Die zum Teil hoch angesehenen Koryphäen, die hier regelmässig schreiben, müssten doch in solchen Fällen vermehrt aktiv werden, entweder einzeln, im Verbund oder mittels Gründung von Komitees, IGs usw.! Das hätte Gewicht! Es wäre z.B. lautstark bei Behörden oder bei politischen Parteien die rasche Wiedereinführung von Kleinklassen nach Basler Vorbild zu fordern und es sollten auch die andern Themen konkret angegangen werden. Nochmals: Ich habe mit viel Aufwand getan, was ich als Einzelner tun konnte. Der Blog enttäuscht mich zusehnds. Er liefert zwar Artikel am Laufmeter über alles Mögliche und Unmögliche – meist interessant, aber das Allerwenigste hat etwas mit realem Vorgehen gegen den Umsturz in unserem Schulwesen zu tun, so wie es doch eigentlich geplant gewesen wäre.

Mit freundlichen Grüssen!

Hans Peter Köhli

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Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitschrift des Lehrerinnen- und Lehrervereins Baselland (LVB) erschienen (Septemberausgabe 2019).

4 Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr Köhli
    Ich kann Ihre Kritik gut nachvollziehen – mich nervt pädagogisch-intellektuelles Geschnorr genauso, obwohl ich die Condorcet-Artikel weitgehend interessant finde.
    Wir sind am Aufbau einer IG mit eigener Webpage.
    Die Covid-Krise hat allerdings der Digitalisierung in der Schule Vorschub geleistet. Es gälte nun, die damit verbundenen Reformen sinnvoll aufzugleisen – allein mir fehlt der Glaube.
    Die Sonderpädagogik ist in vielen Kantonen ein Fiasko. Der heilpädagogisch begleitete Präsenzunterricht mit Teilabsenzen der zu fördernden SuS ist mitunter das Dümmste, das ich als Organisationsform je angetroffen habe.
    Mit freundlichen Grüssen
    Daniel Vuilliomenet, Sekundarlehrer

  2. Der Artikel-Schreiber hat wohl die Abstimmungsniederlagen der vergangenen Jahre vergessen. Mit wem will er denn seine Revolution starten? Und was ist gegen gescheite Artikel einzuwenden? Will er denn nichts mehr lernen. Weiss er alles?

  3. Um ein Missverständnis auszuräumen, Herr Köhli: Der Condorcet-Blog ist kein Kampfblog, sondern ein Club des gepflegten Widerspruchs, des Diskurses und des Vernetzens. Aber es gibt hier viele Autorinnen und Autoren, die sich in ihrer sonstigen Tätigkeit, alle nach ihren Möglichkeiten, durchaus energisch und vor allem beständig gegen die absurden Reformen und den Umbau unseres Bildungswesens einsetzen. Denken Sie beispielsweise an den fabelhaften Basellandschaftlichen LehrerInnenverband, dessen Vorstandsmitglied bei uns in der Redaktion arbeitet. Von uns aus werden NationalrätInnen, GrossrätInnen und GemeindepolitikerInnen bedient und JournalistInnen informiert. Ausserdem geben wir auch Schülerinnen und Schülern und deren Eltern eine Stimme. Somit handeln wir nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein! Wichtig ist es, das wir den Kritikerinnen und Kritikern ein Gefäss geben, an die Öffentlichkeit zu kommen und sie zusammenzubringen. Und so erfolglos sind wir ja nicht: Denken Sie an die Forderung nach der Lehrmittelfreiheit, die nun durch unseren Offenen Brief auch in anderen Kantonen Fuss fassen wird.Bleiben Sie uns treu, es lohnt sich.

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