20. April 2024

Auswirkungen der Massnahmen der Corona-Epidemie auf Jugendliche

Professor Allan Guggenbühl zeigt in seiner Analyse, was vielen Jugendlichen in der gegenwärtigen Coronakrise vorenthalten wird. Lesen Sie aber auch, was man dagegen tun könnte.

Online stört mich überhaupt nicht

«Mich stört es überhaupt nicht, wenn der Unterricht online stattfindet. Im Gegenteil: So kann ich mich auf meine Interessen konzentrieren!», teilt mir der 17-jährige Jugendliche mit. Die Privatschule, die er besucht, hat ganz auf Online-Unterricht umgestellt. «Die meisten Kollegen und Kolleginnen interessieren mich nicht!», fügt er hinzu. Seine Aussage ist nicht typisch. Sie widerspricht unserer Vorstellung, dass alle junge Menschen wegen der Massnahmen infolge der Carona-Epedemie leiden.

Viele Jugendlichen lassen sich beeindrucken und meistern die Krise sehr gut.

Bei Beurteilung der Situation der Jugendlichen muss man darum vorsichtig sein und berücksichtigen, dass jeder Jugendliche auf seine Art reagiert. Wie er oder sie mit Corona umgeht, hängt jedoch nicht nur von der Persönlichkeit, sondern auch vom familiären Kontext, den schulischen Massnahmen und Vorbelastungen ab. Viele Jugendlichen lassen sich beeindrucken und meistern die Krise sehr gut. Sie können die Massnahmen nachvollziehen und sich auf die neuen Herausforderungen einstellen. Es gibt jedoch eine nicht geringe Anzahl Jugendlicher, die aufgrund ihrer Lebenssituation, ihrer Persönlichkeit, mangelnder familiärer Ressourcen oder einer Vorbelastung überfordert sind. Um diese geht es in den folgenden Ausführungen.

Jugendalter als Übergangsphase

Jugend zu Hause: regelmässige Nahrungszufuhr

Das Jugendalter ist eine Übergangsphase. Entwicklungspsychologisch steckt der junge Mensch mit einem Fuss in der Kindheit, mit beiden anderen in der Erwachsenenwelt. Er lebt in einem Zwiespalt. Die meisten Jugendlichen zwischen 14 und 18 leben bei den Eltern. Dies kommt ihnen durchaus entgegen: Für regelmässige Nahrungszufuhr ist gesorgt, die Wäsche wird erledigt und man hat ein Dach über dem Kopf mit Internetanschluss! Die Eltern sind nicht nur physisch präsent, sondern sie wollen über das Leben ihrer Söhne und Töchter informiert sein, engagieren sich für ihre Söhne und Töchter und schalten sich nicht nur bei Problemen ein. Zuhause zu wohnen ist oft bequem. Das Problem ist jedoch: Mit ihren Gedanken und Fantasien sind sie woanders.

Sie wollen gleichaltrige Mitmenschen kennenlernen und eigene Antworten auf ihre Probleme finden. Dazu braucht es spontane Begegnungen in einer von den Erwachsenen abgetrennten Subkultur.

Abgetrennte Subkultur ist nötig

Die Eltern bleiben ihre wichtigsten Bezugspersonen, doch gleichzeitig träumen sie von Erlebnissen in der Welt dort draussen und schmieden eigene Pläne. Mental wenden sie sich ausserfamiliären Themen zu und wollen ausserdem wissen, wer sie sind. Es geht ihnen um die eigene Identität. Bei dieser Suche nach sich selbst spielen Kontakte mit Gleichaltrigen und die gemeinsamen Interessen eine grosse Rolle. Sie wollen gleichaltrige Mitmenschen kennenlernen und eigene Antworten auf ihre Probleme finden. Dazu braucht es spontane Begegnungen in einer von den Erwachsenen abgetrennten Subkultur. Dort trifft man nicht nur Kollegen, die man mag und zu denen sich eine Freundschaft entwickelt, sondern auch ärgerliche, unnahbare, unsympathische und charakterlich fremde Personen. Das ganze Panoptikum verschiedener Persönlichkeiten gilt es kennenzulernen. Neben Peers sind auch Erwachsene wichtig, die nicht zur Familie gehören. Diese können inspirieren und repräsentieren oft Themen und Haltungen, die in der eigenen Kernfamilie nicht abgehandelt werden.

Für viele Schüler und Schülerinnen ist das schulische Lernen lediglich ein Nebengeschehen.

Schule bietet Orientierung

Die Schule ist bei uns der Ort, wo solche Begegnungen möglich sind. Der Jugendliche partizipiert in einem System, in dem er verschiedenartigste Mitmenschen antrifft. Projekte werden geschmiedet, Intrigen gesponnen und Fantasien ausgetauscht. Es geht nicht nur um die Mitschüler, sondern auch um die Lehrpersonen und andere Erwachsenen, die in der Schule arbeiten. Über sie setzen sie sich nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit den Problemen und Themen der Aussenwelt auseinander. Sie sind auch eine grosse Hilfe bei der Orientierung in der immensen Informations- und Faktenflut, der man im Internet begegnet. Die Schule ist darum auch der Ort, wo Jugendliche sich selbst erfahren, wo sie sich mit Mitmenschen austauschen und ein Profil entwickeln, das sich von familiären Werten unterscheidet. Ausserschulische Tätigkeiten werden wichtig, wie Sport, Musik und der Ausgang. Es geht um die Einführung ins Leben. Für viele Schüler und Schülerinnen ist das schulische Lernen lediglich ein Nebengeschehen.

Der Kontakt droht sich auf bewusste verbale Interaktionen zu beschränken. Gemeinsames Blödeln, Schubsen, Stossen, Schreien, Singen, Händeschütteln, Sportlern und Umarmen sind nicht mehr möglich. Nähe ist untersagt.

Corona verändert den Eintritt ins Leben

Corona verändert diesen Eintritt ins Leben. Auf einen Schlag hat sich die Aussenwelt verändert, kann man als Jugendlicher nicht mehr seine Rolle in der ausserfamiliären Eintritts- und Experimentierzone einnehmen. Der spontane Austausch unter Gleichaltrigen und der mit Bezugspersonen sind erschwert. Abstandsregeln, Maskenpflicht, Hygienevorschriften und vermehrter Online-Unterricht führen zu einer Distanzierung unter Jugendlichen und ihren Bezugspersonen. Der Kontakt droht sich auf bewusste verbale Interaktionen zu beschränken. Gemeinsames Blödeln, Schubsen, Stossen, Schreien, Singen, Händeschütteln, Sportlern und Umarmen sind nicht mehr möglich. Nähe ist untersagt. Wenn solche Anschlusshandlungen ausbleiben, verändert sich die Qualität der zwischenmenschlichen Begegnungen. Man konzentriert sich auf die akustischen Signale und registriert weder mimische Ausdrucksweisen noch Gerüche und Berührungen. Das Ausbleiben dieser Interaktionen wirkt sich unweigerlich auf die psychische Verfassung der Beteiligten aus. Wenn zudem der Unterricht grösstenteils online durchgeführt wird, dann vergrössert sich die Distanz unter den Jugendlichen und in der Beziehung zu Erwachsenen. Menschliche Begegnungen leben von direkten Begegnungen. Zufällige oder beabsichtigte Berührungen, diskretes Beschnuppern, humoristische Einlagen und das unmittelbare, empathische Eingehen auf das Gegenüber sind zentrale Qualitäten menschlicher Gemeinschaften, wie es die Schulen sind.

Förderung der spielerischen Aktivitäten

Was ist zu tun? Für Lehrpersonen bedeutet dies, dass zusätzliche Anstrengungen notwendig sind, um die Schüler und Schülerinnen in ihren Situationen abzuholen und an die schulische Gemeinschaft anzubinden. Nicht nur persönliches Nachfragen ist wichtig, sondern auch eine Neugier auf die Themen, die sie zuhause und in der Freizeit beschäftigen. Vielleicht lässt man sie ihr Zimmer fotografieren, tauscht im Klassenchat Bilder über das Essen aus, das man eingenommen hat, oder fordert sie auf zu präsentieren, was sie sich auf YouTube angesehen haben. Wichtig ist auch die Förderung spielerischer Aktivitäten.

Nicht nur in der Schule, sondern auch in der Familie

Nicht nur in der Schule, sondern auch in der Familie braucht es eine bewusste Hinwendung und Pflege gemeinsamer Spielaktivitäten. Spiele bringen Menschen in eine andere Stimmung und ermöglichen kämpferischen, lockeren oder spassigen Kontakt untereinander. Der dritte und vielleicht wichtigste Punkt sind Geschichten. Gemeinschaften leben von Geschichten, die ihre Herausforderungen, Probleme und Hoffnungen widerspiegeln und in einem anderen Topos abhandeln. Sie können als Gefäss eigener Ängste dienen. Dank dem  Umweg über Geschichten ist es leichter, Antworten auf Probleme zu finden und Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Wichtig ist jedoch, dass Geschichten keine moralische Botschaft oder Lehrsätze enthalten. Sie sollen aussergewöhnliche Herausforderungen in den Vordergrund stellen und auf den Zeigfinger verzichten.

Dank der Hinwendung zum imaginären Raum, in denen Geschichten stattfinden, werden eigene Ressourcen geweckt, findet man eine gemeinsame Sprache und einen Gegenentwurf zu eigenen Problemen und Herausforderungen. Sie wecken Fantasien und erschliessen eigene Ressourcen. Wichtig ist jedoch, dass Geschichten keine moralische Botschaft oder Lehrsätze enthalten. Sie sollen aussergewöhnliche Herausforderungen in den Vordergrund stellen und auf den Zeigfinger verzichten. Im Projekt Cliqcliq versuchen wir dies mit der Folgegeschichte einer Familie Stampfli in Münkelsdorf. Die Geschichte habe ich für Jugendliche geschrieben, um ihnen eine Sprache für ihre Herausforderungen und Probleme zu geben. Stampflis müssen verschiedene aussordentliche Situationen bewältigen. In der Geschichte werden die jugendlichen Zuhörer jedoch immer wieder aufgefordert, selber Antworten zu finden und sie auf die eigene Situation zu übertragen. Solche Geschichten eignen sich dazu, mit Jugendlichen während der aktuellen Krise ins Gespräch zu kommen und ihre Ängste zu thematisieren, ohne dass ihre Privatsphäre verletzt wird.

Allan Guggenbühl

Die Geschichteserie kann bei www.cliqcliq.ch oder www.ikm.ch angehört werden.

 

 

 

 

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