Vor der digitalen Ära äusserte sich die Fiktionsbedürftigkeit des kultivierten Menschen nicht zuletzt in der Orientierung an Vergangenheit und Zukunft. Die digitale Spätmoderne, in der wir leben, hingegen ist eine Kultur, die um einen Gegenwartspunkt kreist, die Aktualitätsspitze, das letzte Posting. Aber wer den Menschen stets im Hier und Jetzt haben will, muss ihn schliesslich als eine Art defizitäre Maschine betrachten, denn nur der Algorithmus ist stets im Hier und Jetzt. Der Mensch braucht das Schauen nach vorne und hinten, für die Möglichkeiten, sich der Differenz des Neuen zu öffnen.
Philipp Tingler in (NZZ, 21.10.20 aus “Wird alles neu, oder bleibt alles wie früher?” S. 32)