PRO: Zu oft wird der Bildungsbegriff im gymnasialen Schulalltag gleichgesetzt mit Wissensvermittlung
Dass in den 2020er Jahren die Frage gestellt wird, ob Kompetenzorientierung auch an Gymnasien angezeigt sei, irritiert. Die Frage müsste eher lauten: Wie setzen die Gymnasien die vor über 25 Jahren von der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) empfohlene Kompetenzorientierung um? Denn der angesprochene Rahmenlehrplan hat fünf Kompetenzbereiche festgelegt, bei denen jeweils zwischen Grundkompetenzen und ergänzenden Kompetenzen unterschieden wird. Selbstredend muten rückblickend einige Formulierungen dieses in die Jahre gekommenen Rahmenlehrplans hölzern und überholt an. Das dürfen sie, denn zwischenzeitlich hat sich die fachdidaktische Forschung intensiv damit auseinandergesetzt, wie im qualitätsvollen Fachunterricht die Kompetenzentwicklung der Lernenden gefördert werden kann.
Zweifellos soll – wie hier – im Sinne der wissenschaftlichen Redlichkeit die Grundsatzfrage gestellt werden dürfen, ob der damals eingeschlagene Weg der Gymnasien der richtige ist. Folgende drei Kritikpunkte an der Kompetenzorientierung stehen oft im Zentrum und sollen in der Folge geklärt werden: Niveauverlust aufgrund einer Abkehr vom Fachwissen; Verflachung der Bildung durch Ausrichtung auf Nützlichkeit; Lehrpersonen fungieren nur noch als Coaches.
Gemeint sind die kognitiven Möglichkeiten, die Fertigkeiten sowie die Gestaltungs- und Urteilsfähigkeiten, in einem spezifischen Gebiet Probleme zu lösen, sowie die Bereitschaft, dies auch zu tun.
Das Fachwissen behält seine zentrale Bedeutung
Die Befürchtung, dass Kompetenzorientierung zu einer Abkehr von Fachwissen und dadurch zu einem Niveauverlust führt, wird besonders häufig geäussert. Vermutlich liegt dieser Fehleinschätzung die alltagssprachliche Bedeutung des Begriffs «Kompetenz» zugrunde, die oft nur das Handeln umfasst. Das pädagogisch-didaktische Verständnis von Kompetenz ist aber ein anderes. Es geht auf Wolfgang Klafkis Kompetenzmodell der kritisch-konstruktiven Didaktik der 1970er Jahre zurück. Gemeint sind die kognitiven Möglichkeiten, die Fertigkeiten sowie die Gestaltungs- und Urteilsfähigkeiten, in einem spezifischen Gebiet Probleme zu lösen, sowie die Bereitschaft, dies auch zu tun. Zwischenzeitlich wurde dieses Verständnis weiter konkretisiert. Im Einklang mit der Kompetenzdefinition nach Franz Weinert (Leistungsmessungen in Schulen, 2001) wird deshalb in der Schweiz im Gegensatz zu Deutschland von den drei sich bedingenden Kompetenzfacetten gesprochen: dem Inhaltsbereich, den Handlungsaspekten und den Bereitschaften. So werden im Lehrplan 21 beispielsweise in den natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern zusätzlich zu den Kompetenzbeschreibungen immer verbindliche Fachbegriffe festgeschrieben. Damit behält im Rahmen der Kompetenzorientierung das Fachwissen seine zentrale Bedeutung.
Kompetenzen entstehen, wenn eine Person in einem kreativen Akt Ressourcen mobilisiert und kombiniert. Auch dazu muss Reife, nämlich Maturität, erreicht werden.
Die Befürchtung, dass die Kompetenzorientierung zu einer Ausrichtung auf Nützlichkeit statt zu Bildung führt, greift ebenfalls zu kurz. Denn zu oft wird der Bildungsbegriff im gymnasialen Schulalltag gleichgesetzt mit «Wissensvermittlung». Im Grunde geht es aber um einen durch Wilhelm von Humboldt in Theorie und Pragmatik erweiterten Bildungsbegriff. Die Selbstständigkeit, also ein Sich-Bilden der Persönlichkeit, wird bei ihm zum Leitgedanken. Damit zeigt sich die hohe Kongruenz zum Kompetenzbegriff, wie er in der französischen Schweiz und in der Berufsbildung angewendet wird: Kompe- tenzen entstehen, wenn eine Person in einem kreativen Akt Ressourcen mobilisiert und kombiniert. Auch dazu muss Reife, nämlich Maturität, erreicht werden.
Die Qualität der Lehrmittel zählt
Schliesslich müssen Lehrpersonen im kompetenzorientierten Unterricht genauso führen und nicht nur coachen. Sie führen mittels ihrer Professionalität. Im Zentrum eines kompetenzfördernden Unterrichts stehen dabei die durch die Lehrperson bereitgestellten Angebote sowie deren Nutzung durch die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Die Seite des Angebots wie Lehrmittel oder Lernaufgaben modulieren Lehrpersonen durch ihre Fachkompetenz und Persönlichkeit. Die Qualität der so eingesetzten Lehrmittel oder Lernaufgaben hängt dabei ausschliesslich von den fachlichen und fachdidaktischen Fähigkeiten der Autorinnen und Autoren ab und nicht davon, ob Lehrmittel oder Aufgaben lernziel- oder kompetenzorientiert sind. Auch die Seite der Nutzung wird nach wie vor durch die Lernenden selbst und ihre Voraussetzungen moduliert. Es verändert sich wenig: Nur der Fokus auf Kompetenzförderung, also auf den Lernprozess, ist neu.
Prof. Dr. Markus Wilhelm, PH-Luzern