18. November 2024

Einspruch: Nicht Projektunterricht, sondern Unterricht ist eine Königsdisziplin

In seinem Beitrag «Einspruch, Kollege Kalberer: Projektunterricht ist eine Königsdisziplin» widerspricht Condorcet-Autor Alain Pichard der dort skizzierten Kritik am konstruktivistischen Lernkonzept. Hier der Einspruch zu Alain Pichards Einspruch! Lutz Wittenberg

Lutz Wittenberg, TG, Berufsschullehrer: Mehr ideologisch als sachlich motiviert

Vorab: Wir sind alle Kinder unserer Zeit und nicht gefeit, unreflektiert auf der Zeitgeistwelle zu surfen. Und wir haben die Aufgabe, darauf hinzuweisen, wenn jemand dies tut. Alain Pichard macht das zweifelsohne in vorbildlicher Art. Selbstverständlich ist aber auch er nicht gefeit vor interpretativen Verzerrungen unserer Zeit.

Der Vernunft folgend, war auch ich mit meiner Familie in diesen Sommerferien in der Schweiz unterwegs, unter anderem im Nationalpark. Meine Kinder waren vor allem gespannt, ob sie wohl einen Adler sehen werden, aber leider blieben unsere Wanderungen in dieser wunderschönen Umgebung diesbezüglich erfolglos.

Schliesslich buchten wir eine geführte Wanderung ins Val Trupchun, in dem man fast immer verschiedene Wildtiere beobachten kann. Um den Sprachduktus von Alain Pichard aufzugreifen, «dozierte» der sympathische Führer fortwährend Interessantes zu Fauna und Flora der Bergwelt. Unter anderem konnten wir ausführlich Murmeltiere aus nächster Nähe betrachten, während die niedlichen Tiere immer wieder pfiffen.

Der Führer erläuterte uns dazu, dass Murmeltiere unterschiedliche Warnpfiffe von sich geben würden: Mehrfache, eher ruhige Pfiffe bedeuten Bodenalarm, z.B. wenn ein Fuchs oder ein Mensch sich nähert, so dass sich die Grossfamilie in die Bauten zurückziehen kann. Einmalige, kurze und eher vehemente Pfiffe stehen hingegen für Luftalarm, die ein sofortiges Flüchten wegen eines gesichteten Adlers auslösen. Deshalb sei es genau dann sinnvoll, nach oben zu schauen, um eventuell einen Adler beobachten zu können. Leider hörten wir solche Pfiffe während dieser Wanderung nicht.

Zum Glück hatte der Führer im Nationalpark so viel Interessantes «doziert».

Doch auf dem Heimweg pausierten wir auf dem Julier-Pass und liefen noch ein wenig durch die imposanten Berge. Plötzlich ertönt ein kurzer, scharfer Pfiff eines Murmeltiers. Meine Kinder schauten sofort nach oben und sichteten ein kreisendes Adlerpaar. Über eine Stunde hinweg verschwand es immer wieder hinter dem Gipfel und kam dann wieder – herrlich! Wir alle waren begeistert. Zum Glück hatte der Führer im Nationalpark so viel Interessantes «doziert».

Aber wie hat er eigentlich «doziert»? Oh Schreck – über weite Strecken auch theoretisch. Aber mit ausgeprägtem Bezug aufs Konkrete. Und hat er überhaupt «doziert»? Mit dem Hinweis auf den Luftalarm hat er uns die Werkzeuge in die Hand gegeben, wie wir uns selbständig die Natur aneignen können. Natürlich hat er uns nicht nur ein Bild eines Adlers gezeigt oder gar auf dem Computer einen gezeigt, sondern hat ausführlich und lebendig von ihm erzählt. Er war selbst tief beeindruckt von den Wundern der Natur, und unsere Begeisterung ist an seiner noch gewachsen. Auch dadurch sind wir auf immer weitere Fragen gestossen, das heisst, unser Interesse und unsere Aktivität wurden stark unterstützt.

Alain Pichard macht meines Erachtens unbegründet Stimmung gegen vermittelnde Formen des Klassenunterrichts.

Alain Pichard: Projektunterricht ist eine Königsdisziplin
Bild: fabü

Lange Rede von ausserhalb der Schule, kurzer Sinn: Auch wenn Alain Pichard am Ende seines Artikels Stellung nimmt gegen einseitige Darstellungen des konstruktivistischen Lernens, in dem er vor «pädagogischen Kitsch und PH-Wunschprosa» warnt, macht er doch letztlich meines Erachtens unbegründet Stimmung gegen vermittelnde Formen des Klassenunterrichts. Beispielsweise enthält er sich jeglicher Begründung, wenn er bezüglich der Entwicklung der Lernfähigkeit des Schülers sagt: «Diese Lernziele kann der Projektunterricht und auch die Individualisierung sicher besser erreichen als eine dozierende, sprich theoretische Variante.» Gehört es denn nicht zur Entwicklung der Lernfähigkeit, einem Lehrer oder auch einem Mitschüler genau zuzuhören oder sich etwas zeigen zu lassen? Oder haben meine Kinder dadurch, dass sie vorher darauf hingewiesen wurden, schlechter gelernt, wie man Adler entdecken kann?

Ein guter lehrerzentrierter Unterricht hat mit dieser Karikatur nichts zu tun.

Die Lehrperson bringt das Klassengespräch erst  in Gang

Verblendet hier nicht eine gravierende, mehr ideologisch als sachlich motivierte Verzerrung eine realistische Meinungsbildung, wenn über Unterrichtsmethoden diskutiert wird: Die konstruktivistische Begründung, wieso wir Lehrer eigentlich gar nicht mehr unterrichten, sondern ausschliesslich beobachten, Lernstile evaluieren und ein wenig coachen sollen, arbeitet ja genau mit dieser Karikatur des Langweile ausstrahlenden, monologisierenden Lehrers, der es bestenfalls fertig bringt, mit einem Frage-und-Antwort-Schema die Schüler in einen stupides Wechselspiel zu involvieren. Als ob der Unterrichtsstil im Sinne des Nürnberger Trichters sozusagen die Normalität im heutigen Schulzimmer wäre.

Ohne Anleitung, Ansprache, Herausforderung und didaktisch geschickter, altersentsprechender Hinführung passiert gar nichts
Bild: api

Ein guter lehrerzentrierter Unterricht hat mit dieser Karikatur nichts zu tun. Es ist ja nicht erst seit Hattie bekannt, dass wir die geistige Aktivierung unserer Schüler verantworten, beim Projektunterricht wie bei allen anderen relevanten Methoden auch. Von selbst konstruiert sich im Gehirn des Schülers gar nichts. Ohne Anleitung, Ansprache, Herausforderung und didaktisch geschickter, altersentsprechender Hinführung auf Inhalte, die dem Schüler bis dato nichts sagen, sind keine Voraussetzungen geschaffen, damit der Schüler etwas ‘be-greifen’ kann. Die Tatsache, dass der Lehrer versucht, seine Schüler in einen Dialog zu verwickeln, sie zum Nachdenken anzuregen und sie im Klassengespräch aufeinander Bezug nehmen zu lassen – einander überhaupt zuhören zu lernen – ist eine besonders effiziente Methode des sozialen/gemeinsamen Lernens, das so z. B. im Projektunterricht auch nicht per se gegeben ist. Wenn man dort will, dass die Schüler zusammenarbeiten, sich gegenseitige unterstützen, herausfordern, motivieren …, muss der Lehrer dies in einem längerdauernden Prozess mit ihnen systematisch aufbauen.

Alain Pichard benutzt zwar nicht den Kampfbegriff des Frontalunterrichts, aber er übernimmt argumentationslos Vorwürfe, indem er schreibt, dass Vertreter der Direkten Instruktion nicht «berücksichtigen, was die Schüler interessiert, was ihre Interessen bindet, wie sie herausgefordert werden, was sie langweilt und wann sie wirklich nachhaltig lernen.» Bei dem erwähnten eigenen Beispiel einer direkten Instruktion teile ich natürlich seine Einsicht, dass Unterricht manchmal auch nicht so gut gelingt, wie wir es uns wünschen. Daraus aber zu schliessen, dass man Schülerinteressen dann nicht berücksichtigt habe usw. ist wohl eher ein Kurzschluss als eine logische Schlussfolgerung.

Am Schluss halt doch eine Portion “Wunschprosa!”

Fast am Schluss des Artikels meine ich dann doch, «PH-Wunschprosa» zu lesen: «Projektunterricht ist eine Königsdisziplin, die der Lehrkraft und den Lernenden viel abverlangt.» Und weiter: «Es ist unbestritten, dass eigenständig erworbene Erkenntnisse sich nachhaltiger im Gehirn einer Schülerin festsetzen, als wenn man ihnen die Lerninhalte einfach doziert.» Ist es nicht so, dass jede Erkenntnis – so auch die vermittelte – letztlich selbst gemacht und verstanden werden muss? Und wenn die Erkenntnis eingetreten ist, dann sollten wir froh sein und nicht vermittelte Erkenntnisse gerade wieder unbegründet abwerten.

Der grosse Vorteil des Klassenunterrichts liegt darin begründet, dass der Lehrer bei geschickter Führung der Klasse viele Mithelfer hat, wenn ein oder mehrere Schüler Mühe haben, etwas zu verstehen.

Wenn Erkenntnisse im Unterricht nicht gewonnen werden, wurden die Hindernisse, die dem entgegen standen, nicht richtig erkannt und angegangen. Immer klappt dies leider nicht, wie wir wissen. Das liegt aber nicht nur an der Auswahl der Methoden. Der grosse Vorteil des Klassenunterrichts liegt darin begründet, dass der Lehrer bei geschickter Führung der Klasse viele Mithelfer hat, wenn ein oder mehrere Schüler Mühe haben, etwas zu verstehen: Wenn die Klassenkollegen mit ihren Worten erklären, kann dies Wunder wirken. Beim Projektunterricht erhoffen wir uns genau das, nur kann der Lehrer diesen Akt der gegenseitigen Hilfe definitionsgemäss weniger unterstützen.

Urs Kalberer, Sekundarlehrer

Nun bringen Schüler «bildungsferner Schichten» (schreckliche Bezeichnung der Empiriker!) leider häufiger solche Hindernisse mit in den schulischen Lernprozess als solche aus «bildungsnahen Schichten». Hier ist es eine zentrale Aufgabe der Institution Schule, solche Benachteiligungen möglichst abzubauen. Urs Kalberer greift das in seiner Kritik der konstruktivistischen Didaktik auf, indem er schreibt: «Schulprojekte sind deshalb zutiefst ungerecht, da Schüler, welche am wenigsten schwach abschliessen, das nötige Hintergrundwissen notgedrungen anderswo (z.B. im Elternhaus) erworben haben. Es ist ein nobles Ziel, Schülern kritisches Denken und Zusammenarbeit beibringen zu wollen, doch die dazu angewendeten Methoden passen nicht.»

Meines Erachtens ist die mangelnde Chancengleichheit beim konstruktivistischen Ansatz ein wesentlicher Punkt in der Methodendiskussion, der viel zu wenig gewichtet wird – insbesondere unter den sich dem linken Spektrum zugehörigen Bildungsinteressierten. Aus sozialen Gründen ist es unsere Pflicht, ohne Vorbehalte und romantischem Zeitgeist zu untersuchen, wie die Schule diese soziale Aufgabe besser umsetzen kann. Den meisten Studien zufolge geht bei offenen Unterrichtsformen die soziale Schere auf – das dürfen wir nicht bedingungslos hinnehmen. Auch die Tatsache, dass viele kapitalstarken Stiftungen offene Unterrichtsformen propagieren, beruhigt den sozial denkenden Menschen eher nicht.

Damit ist freilich nicht gesagt, dass wir eine Erziehung zur Eigenständigkeit wieder vergessen sollten – aber: Ist Klassenunterricht eigentlich wirklich ein Hemmnis dafür? Ich meine nicht.

Lutz Wittenberg

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Jakob Heer – Pionier der Volksschule

Die Studien über die Verschlechterungen unserer Volksschule häufen sich. Ist unser zeitgemässes Bildungswesen noch fortschrittlich? Fortschritt bezeichnet grundlegende Verbesserungen durch bedeutende Veränderungen bestehender Zustände (Wikipedia). Zeitgemäss kann man auch sein, wenn man gleich gut oder gleich schlecht ist wie die anderen. Unser “Bloghistoriker” Peter Aebersold wagt einen Vergleich unserer heutigen Volksschule mit den Anfängen der Volksschule im Bergkanton Glarus und fragt: “Könnten unsere heutigen Schüler bei den Glarner Mathematikaufgaben von 1836 mithalten?”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert