Der Autor greift mit seinem Buch ein Thema auf, dass heute zunehmend im Brennpunkt pädagogischer und politischer Diskussionen steht. Seit ihren Anfängen hat er die Integrations- bzw. Inklusionsbewegung verfolgt und miterlebt. Dieser breite Erfahrungshintergrund, verbunden mit exzellentem Fachwissen, spricht aus allen seinen Ausführungen. Mit teils provokanten Thesen eröffnet er einzelne Kapitel, in denen er sie theoretisch erörtert und an praktischen Beispielen scharfsinnig und mit verblüffender Logik belegt.
Die Analyse des Autors umfasst alle Betroffenen der sogenannten Integration (wie er diese konsequent nennt) und reflektiert deren unterschiedliche Blickwinkel und Ansprüche.
Bonfranchi spricht aus, was viele in der Praxis tätige Pädagogen und Heilpädagogen heute nicht mehr zu sagen wagen.
Die Würde des Menschen respektieren
In denjenigen Kapiteln, die sich direkt mit der Alltagsrealität integrierter Schülerinnen und Schüler befassen, kommt die Kernforderung des Autors, die Würde dieser Menschen zu respektieren, deutlich zum Ausdruck. In wohltuender Direktheit zeigt er die Widersprüche zwischen den Idealvorstellungen von einer „Schule für alle“ mit der Realität auf. Er kommt zum Schluss, der Streit spiele sich in der Regel vornehmlich auf einer ideologischen Ebene ab. Genau damit spricht er aus, was viele in der Praxis tätige Pädagogen und Heilpädagogen heute nicht mehr zu sagen wagen.
Steigendes Mass an Separation
Aufschlussreich ist der Fokus auf die Auswirkungen der Integration für die Heilpädagogischen Schulen – in der Öffentlichkeit kaum diskutiert. Der Autor beschreibt sie aus eigener Erfahrung als „Restschulen“, die ein zunehmend heterogenes Spektrum an Schülerinnen und Schülern zu betreuen haben, und legt dar, wie gerade die Bemühungen um Integration ein steigendes Mass an Separation schaffen. Der Bezug zur eigenen Praxis wird spürbar, wenn Bonfranchi die Gründe ausleuchtet, warum Eltern schwer behinderter Kinder eine Integration wünschen, sogar im Wissen darum, dass ihr Kind nicht optimal gefördert werden kann.
Einen sensiblen Bereich greift er mit der Frage auf, welche Menschen mit einer Behinderung für eine Integration kaum in Frage kommen, weil sie bezüglich der gesellschaftlichen Normen von Intelligenz, Arbeitstugend und Schönheit unter einer kritischen Grenze bleiben. Die philosophiegeschichtlichen Bezüge sind in diesem Kontext sonst selten erwähnt. Das führt ihn zu grundsätzlichen philosophischen und ethischen Überlegungen, um einen objektiveren Massstab zur Beurteilung von Integrationsbemühungen zu erlangen.
Hilfreich ist insbesondere seine Synopse der integrations- bzw. inklusionskritischen Literatur, in die sich Bonfranchis Schrift einfügt. Sie gibt einen Überblick über die aktuelle Diskussion, leuchtet die entsprechenden Positionen differenziert aus und ordnet die aus der Praxis beschriebene Problematik in die entsprechenden (heil-)pädagogischen, psychologischen, philosophischen und bildungspolitischen Hintergründe ein.
Der Autor bleibt schliesslich nicht bei der Kritik der Integrations- bzw. Inklusionsbewegung stehen, sondern entwickelt Lösungsansätze, wie z.B. gemeinsame Projekte zwischen Sonder- und Regelklassen im gleichen Schulhaus als Verbindung schaffende Anlässe, die den Bedürfnissen aller gerecht werden und die Menschenwürde als conditio sine qua non zur Grundlage haben.
Ein mutiges Buch
Es ist ein mutiges Buch, das mit Sorgfalt und Fachkenntnis die Frage der Integration/Inklusion diskutiert. Es greift wichtige und bisher noch wenig diskutierte Fragestellungen auf und beleuchtet sie nicht nur aus (heil-)pädagogischer und gesellschaftspolitischer, sondern speziell auch aus ethischer und philosophischer Perspektive, was man in vergleichbaren Publikationen kaum findet.
Die gelungene Verbindung von Praxis und Theorie ist eine spezielle Stärke des Autors. Damit spricht er eine Leserschaft an, die mit der bisherigen Literatur nur schwer erreicht wurde. Ebenfalls neu für die integrations-/inklusionskritische Literatur sind seine Darlegungen zur Integration speziell in der Schweiz. Insgesamt wird die Thematik breit und differenziert ausgeleuchtet. Dem Werk ist daher eine weite Verbreitung zu wünschen.
Dr. Eliane Perret, Heilpädagogin und Psychologin