21. November 2024

Britische Schulreformen und die Schweiz, Teil 1

In den Jahren 1992 bis 1994 besuchten britische Schulexperten und Schulpraktiker über 50 Schullektionen in einem Dutzend Schulen in der Schweiz, um das Schweizer Schulsystem zu studieren und mit dem britischen zu vergleichen. Weil die britischen Schulreformen zu einem Desaster geführt hatten, begannen 1995 in London Versuche mit der Einführung des Klassenunterrichts nach dem Vorbild der besuchten Zürcher Schulklassen. Die wissenschaftliche Auswertung wurde 1997 von der Universität Cambridge als Buch veröffentlicht. Unser Bildungshistoriker vom Dienst, Peter Aebersold, hat diese bemerkenswerte Geschichte für Sie aufgearbeitet. Wir veröffentlichen hier den ersten Teil.

Britische Schulreform von 1967

Die britische Schulreform geht auf den „Plowden-Report“ von 1967 zurück. Dieser empfahl, dass es im Lehrplan mehr um „spielerische Aktivitäten“ und „individuelles Entdecken“ gehen solle als darum, Wissen zu erwerben und Fakten auswendig zu lernen. Die Schule müsse den Kindern erlauben, „sich selbst zu sein“, um sich „auf ihre Weise und in ihrem Tempo“ entwickeln zu können. Die propagierten Lehr- und Lernformen förderten „erlebnisorientiertes“, „spielerisches Lernen“, die Rolle des Lehrers als Animator und Organisator, den „individualisierten Unterricht“ und den „Gruppenunterricht“ vor dem Klassenunterricht.

Labour-Mann Professor Hasley klagte an

1993 machte der Gründer der neuen „Gesamtschule“ (comprehensive system), Professor Halsey, seine eigene Partei für Jahrzehnte des Schulversagens und des Wertverlustes verantwortlich. Die Schulreform habe die Schüler im Stich gelassen, zu schlechtem Unterricht und zu zerrütteten Familien geführt.

International Assessment of Educational Progress (IAEP)

Die Schweiz nahm 1991 zum ersten Mal an internationalen Tests in Mathematik und Naturwissenschaften mit grossen repräsentativen Stichproben von 13-jährigen Schülern teil. Das International Assessment of Educational Progress (IAEP) wurde von Schülerinnen und Schülern in rund zwanzig Ländern unter der Schirmherrschaft des US-Bildungsministeriums durchgeführt. Die Resultate der Schweizer Schüler lagen bei den höchsten Durchschnittswerten in Mathematik und Naturwissenschaften. Die Werte, die das niedrigste Zehntel aller Schweizer Schüler erreichte, lagen sehr weit vor dem entsprechenden Anteil der Schülerinnen und Schüler in Grossbritannien und allen anderen Ländern in dieser Umfrage. China, Korea und Taiwan hatten ähnliche Durchschnittswerte wie die Schweiz; aber für das unterste Zehntel der Schüler lag die Schweiz immer noch weit vorne.

Aufgrund der inzwischen anerkannten Notwendigkeit, die schulischen Leistungen in Grossbritannien zu verbessern, insbesondere bei Schülern mit unterdurchschnittlichen Fähigkeiten, waren die englischen Schulexperten an der Schweiz mit ihren Erfolgen bei den schwachen Schülern sehr interessiert.

Schweizer Pädagogen mit internationalem Ruf

Johann Heinrich Pestalozzi, in England ein Begriff

Die britischen Schulexperten wiesen auf die lange Schweizer Tradition und die Reihe pädagogischer Denker hin, die internationales Ansehen erworben haben: Rousseau, Pestalozzi und Fröbel (Mitarbeiter Pestalozzis und Schulreformer in Deutschland) waren im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert aktive Reformer. Im 20. Jahrhundert führten Binet und Piaget grundlegende Arbeiten zur Messung und Entwicklung der Intelligenz und der Fähigkeiten von Kindern durch.

Dass Pestalozzis Schwerpunkt vor über zweihundert Jahren auf der Förderung des Rechnens in jungen Jahren gelegen habe, sei auch heute noch von Interesse, wenn man sich die IAEP-Umfrage ansehe, die die herausragenden Leistungen der Schweizer Schüler in Mathematik und besonders in Arithmetik (Grundrechenarten) zeigten. Die Schweizer Reformer förderten ein besseres Verständnis der Lehrer von der frühkindlichen intellektuellen und emotionalen Entwicklung, eine engere Lehrer-Schüler-Beziehung und eine familiäre Unterrichtsatmosphäre.

In der Schweiz führten die Lehrer die Schüler im Ganzklassenunterricht aktiv beim Lernen, wie das schon von Pestalozzi und Fröbel empfohlen wurde. Während in England dieser Ansatz grösstenteils durch Methoden ersetzt wurde, bei denen die Lehrer ihre Zeit –  zwangsläufig in Minutenportiönchen –  auf ihre vielen Schüler aufteilen müssen.

Das britische Expertenteam bestand neben den untersuchenden Wissenschaftlern aus erfahrenen Schulinspektoren, Schuldirektoren und langjährigen Schullehrern.

Britische Schulexperten besuchen die Schweiz

Das britische Expertenteam bestand neben den untersuchenden Wissenschaftlern aus erfahrenen Schulinspektoren, Schuldirektoren und langjährigen Schullehrern. Es wurden Schulen in den Kantonen Zürich, Bern und St. Gallen besucht und auch Diskussionen mit Schulexperten, Lehrerausbildnern, Berufsberatern und Lehrlingsausbildnern grosser Firmen geführt. Schulen mit über- und unterdurchschnittlichen Leistungen wurden ausgewählt.  Schweizer Lehrer und Pädagogen machten Gegenbesuche in England. In einer anschliessenden Vergleichsstudie zwischen Grossbritannien und dem europäischen Kontinent wurden neben der Schweiz auch Deutschland und andere Länder einbezogen.

 Grossbritannien hatte seit langem ein grosses Defizit an ausgebildeten Handwerkern und technischen Berufsleuten mit soliden Grundkenntnissen in Mathematik, Naturwissenschaften und praktischen Fächern.

Grossbritannien hatte seit langem ein grosses Defizit an ausgebildeten Handwerkern und technischen Berufsleuten mit soliden Grundkenntnissen in Mathematik, Naturwissenschaften und praktischen Fächern. Deshalb lag der Fokus des Besuchs darin, wie man die unterdurchschnittlichen Leistungen der Schulabgänger auf ein Niveau heben könnte, das ihnen erlauben würde, sich auf den wegen dem technischen Fortschritt anforderungsreichen Arbeitsstellen behaupten zu können. 

Die kleineren Schweizer Sekundarschulen (250-500 Schüler) seien intimer als die englischen Gesamtschulen mit etwa 1000 Schülern.

Schulstrukturen im Vergleich

Die britischen Experten waren insbesondere von den föderalen, direktdemokratischen Strukturen mit der Kantonshoheit im Erziehungswesen, von den Volksentscheiden in Sachfragen und von der Lehrerwahl in den Gemeinden beeindruckt. Der obligatorische Schulbeginn lag in der Schweiz 18 Monate später als in England. Den Besuchern fiel auch die freundliche Atmosphäre und die Abwesenheit von Spannungen und Feindseligkeiten zwischen Schülern und Lehrern auf. Die kleineren Schweizer Sekundarschulen (250-500 Schüler) seien intimer als die englischen Gesamtschulen mit etwa 1000 Schülern. Eine gute soziale Atmosphäre ermögliche besseres Lernen und sei ein ganzheitliches Ziel der Pestalozzi-Schule.

Die Rolle des Klassenlehrers wieder mehr gewichten

Die Rolle des Klassenlehrers wurde als besonders wichtig für die Klassenatmosphäre bezeichnet. Weil die Real- und Sekundarschullehrer die Mehrzahl der Fächer und die gleiche Klasse während drei Jahren unterrichten, würden sie die Stärken und Schwächen jedes Schülers kennen, ihm bei seinen Problemen zu einem früheren Zeitpunkt helfen sowie die Klasse nach solchen Gesichtspunkten organisieren können. Die Schweizer Lehrer würden grossen Wert auf die Entwicklung der sozialen Verantwortung bei den Schüler legen. Die „Menschenbildung“ für das demokratische Zusammenleben sei zum Beispiel als Aufgabe der Schule im Zürcher Lehrplan 1991 festgelegt.

Mathematik und Arithmetik

Grosse Probleme in der Mathematik …

Die schlechten Kenntnisse in Mathematik (vorwiegend bei den Grundrechenarten) der britischen Schulabgänger mit durchschnittlichen oder unterdurchschnittlichen Noten galten seit langem als Hindernis, um eine Ausbildung in einem technischen oder handwerklichen Beruf antreten zu können. Beim IAEP-Test erreichte das oberste Viertel der englischen Schüler nur das Schweizer Durchschnittsresultat. Das unterste Viertel der Schweizer Schüler erreichte sogar das Durchschnittsresultat der englischen. Anstatt die Grundlagen im Rechnen zu fördern, wurden in England schon jüngere Schüler in Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Statistik unterrichtet. Die britischen Experten waren überrascht von den guten Leistungen der Realschüler und ihrer einheitlichen, ordentlichen und sauberen Heftführung. Ihrer Ansicht nach hatten unterdurchschnittliche Schweizer Schüler ein Niveau, das in England erst ein bis zwei Jahre später und nur von Durchschnittsschülern erwartet wurde.

Ihrer Ansicht nach hatten unterdurchschnittliche Schweizer Schüler ein Niveau, das in England erst ein bis zwei Jahre später und nur von Durchschnittsschülern erwartet wurde.

Im britischen Lehrplan gab es für die Mathematik unter anderem sogenannte Untersuchungen („Investigations“). Das sind zeitaufwändige offene Aufgaben, für die es keine einzelne korrekte Lösung gibt, weil nicht das „Produkt“, sondern der „Prozess“ wichtig sei. Die Schüler müssen beschreiben, wie sie vorgehen wollen, was sie getan haben, welchen Schwierigkeiten sie begegnet sind (das gibt eine gute Note) , welche falschen Lösungswege sie verfolgt haben usw.

Beim Schweizer Ansatz müssten die Aufgabenstellungen realistisch und lösbar sein, damit die verfügbare Zeit effizient genutzt wird und möglichst alle Schüler in der Klasse die Aufgaben beherrschen.

 

Quellen:

Helvia Bierhoff, S. J. Prais: SCHOOLING AS PREPARATION FOR LIFE AND WORK IN SWITZERLAND AND BRITAIN. Discussion Paper no. 75. National Institute of Economic and Social Research, London February 1995

Helvia Bierhoff, S. J. Prais: From School to Productive Work: Britain and Switzerland Compared, University Press, Cambridge 1997

Robin Alexander, Jim Rose, Chris Woodhead: Curriculum Organisation and Classroom Practice in Primary Schools. Department of Education and Science. London 1992. http://www.educationengland.org.uk/documents/threewisemen/threewisemen.html

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Während sich in unseren Gefilden die Mathematik zu einem der unbeliebtesten Fächern (nach Französisch) entwickelt, hat sie in den asiatischen Ländern einen ganz anderen Stellenwert. Der Condorcet-Blog berichtete darüber. Nun hat die Basler Zeitung einen Bericht über die Goldmedaillengewinnerin der Schweizer Mathematik-Olympiade veröffentlicht. Sie heisst Yanta Wang und stammt – wie könnte es anders sein – aus China.

Ein Kommentar

  1. Und was sagt uns das? Richtig…!
    Inzwischen hat die Schweiz mit dem Leerplan 21 den britischen Weg eingeschlagen. Macht aber nichts, denn das Ziel scheint ja zu sein, dass am Schluss weltweit alle gleichwenig können.

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