Zur Gründung der neuen Plattform «Condorcet-Bildungsperspektiven» vor einem Jahr wurden zwei grossen Namen der europäischen Geistesgeschichte Referenz erwiesen: zum einen dem bedeutenden französischen Aufklärer und Wegbereiter einer öffentlich-rechtlichen republikanischen Schule, Marie Jean Antoine Condorcet, zum anderen Friedrich Nietzsche, dem Meister metaphorischer Eloquenz und zugleich einer der Wegbereiter eines tiefenpsychologischen Verständnisses des menschlichen Handelns. Ein wesentliches Element seiner Philosophie ist eben seine fortwährende Betonung der perspektivischen Gebundenheit menschlicher Wahrnehmung und weltanschaulicher Urteilsbildung. Inwiefern, fragen sich vielleicht manche Leserinnen und Leser, sind die Redaktion und die Gastautoren mit ihrem bildungspolitischen Anliegen, ihrem Engagement und ihrer Ausstrahlung in der Schweiz ihrer expliziten Berufung auf Condorcet und Nietzsche gerecht geworden? Anlässlich des ersten Geburtstags sei zu Ehren der Mitwirkenden der Condorcet-Bildungsperspektiven Folgendes gesagt:
Die Person Condorcet steht für das aufklärerische Anliegen par excellence, nämlich die «Vervollkommnung der menschlichen Vernunft», die insbesondere in einer Republik dem schulischen Unterricht obliege. Schule also als Wegbereiter menschlicher Emanzipation, diese wiederum als Voraussetzung der Demokratie. Nietzsche seinerseits verweist mit seiner Formel des «perspektivischen Sehens» darauf, dass es im persönlichen wie politischen Prozess keine objektive Vernunft gibt, der sich jedermann unterzuordnen habe, sondern trotz der allen gemeinsamen Vernunftfähigkeit unterschiedliche, persönlich gefärbte Sichtweisen und Interessen. Politisch ist deshalb der Dialog, das argumentative Aushandeln der letztlichen Entscheidungsfindung im politischen Raum die alleinige Methode der Wahl.
Wer die «Condorcet-Bildungsperspektiven» regelmässig liest, hat im ersten Wirkungsjahr Erstaunliches erlebt: Seit mehreren Jahrzehnten erleben wir in der Politik eine starke Links-Recht-Polarisierung, die vor allem vom Bestreben geprägt ist, welche Couleur sich öffentlich besser inszenieren kann – Politik sozusagen als Kampf in der politischen ARENA. Abgrenzung und Stigmatisierung der ‘Gegner’ bestimmen die Formen des politisch-medialen Kräftemessens. Auf der neuen Condorcet-Plattform nimmt man eine andere Kultur der politischen Auseinandersetzung wahr. Sie weist inhaltlich nicht weniger Differenzen in den Standpunkten auf. Mit viel Taktgefühl gelingt es der Redaktion aber, den Beiträgen zur Entwicklung einer Dialogkultur zu verhelfen, die diesen Namen verdient, in der also nicht ad personam andere Ansichten disqualifiziert, sondern Begründungen erwartet werden und diese den Kern der Diskussion ausmachen.
Condorcet verhilft zu einer Entwicklung einer Dialogkultur, die diesen Namen verdient, in der also nicht ad personam andere Ansichten disqualifiziert, sondern Begründungen erwartet werden und diese den Kern der Diskussion ausmachen.
Damit wird aber nicht einer neutralen Indifferenz das Wort geredet, sondern eben der Verpflichtung auf die menschliche Vernunft im Respekt gegenüber dem anderen Standpunkt. Aufklärung hat nichts mit sophistischer Überredungskunst zu tun, ebenso wenig – um mit Lessing zu sprechen – wie Toleranz mit Anything goes, im Gegenteil. Die Autoren der «Condorcet-Bildungsperspektiven»-Redaktion haben mit ihren Beiträgen wesentlich daran Anteil, wenn in der Schweiz die sachliche Debatte über Schul- und Unterrichtsentwicklung wieder mehr ins öffentliche Bewusstsein zu rücken beginnt. Dadurch wird der Versuch unternommen, die Partizipation der Lehrpersonen, Eltern und sonst bildungsinteressierten Bürgerinnen und Bürger wieder lebendig zu machen, die vor zwei Jahrzehnten stillschweigend an sogenannte Expertengremien übergeben wurden.
Der Blog leistet einen Beitrag dazu, den Lehrkräften Mut zu machen, den ‘aufrechten Gang’ wiederzugewinnen, dies anstelle der verbreiteten Ohnmacht gegenüber den notorischen Topdown-Dekreten durch die Bildungsverwaltung einerseits, aber auch anstelle von gehorsamer Loyalität, Konformität und Opportunismus andererseits.
Mir scheint also, dass der Blog einen sehr wertvollen Beitrag dazu leistet, den Lehrkräften Mut zu machen, den ‘aufrechten Gang’ wiederzugewinnen, dies anstelle der verbreiteten Ohnmacht gegenüber den notorischen Topdown-Dekreten durch die Bildungsverwaltung einerseits, aber auch anstelle von gehorsamer Loyalität, Konformität und Opportunismus andererseits. In diesem Sinn erweist «Condorcet-Bildungsperspektiven» ihrem Namensvetter sowie Friedrich Nietzsche sehr wohl die Ehre. Man kann der Redaktion und allen Mitwirkenden also nur gratulieren.
Beat Kissling