Allen Aktiven des Condorcet-Blogs ein Dankeschön zum Einjährigen
Es sind besondere Zeiten, in die diese Ein-Jahresfeier des Condorcet-Blogs fällt. Eine Pandemie legt weltweit das Wirtschafts- und Kulturleben ebenso lahm wie soziale Einrichtungen und nahezu das gesamte öffentliche Leben. Ausgeh- und Kontaktverbote erzeugen zwangsläufig Berufs- und Konsumverbote, erzwingen das Schließen der Schulen (Unterrichtsverbote) und führen zum Verlust der kulturellen Angebote. Damit fehlt nicht nur der Resonanzraum der Öffentlichkeit für das Individuum, sondern auch der Lebensraum demokratischer Gemeinschaft. Öffentlichkeit und Diskurs sind die Grundlage freiheitlicher, gleichberechtigter und selbstbestimmter Gesellschaften, die ein Auskommen im Einvernehmen suchen. Der Beginn des zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts fühlt sich daher an wie eine Dystopie. Über 70 Jahre Frieden und Wohlstand (zumindest in den westlichen Ländern Europas) sind für uns so „normal“, dass die Gefährdungen des demokratischen Fundaments durch gesellschaftliche und/oder technische Entwicklungen nicht wahrgenommen oder, falls sie doch bemerkt werden, nicht „für wahr“ genommen werden. Wir sind – wieder einmal, was wohl eine Frage des Alters ist – mitten im Umbruch, diesmal algorithmisch berechnet.
Warum sehen wir nicht, was offensichtlich ist?
Die Frage: „Warum sehen wir nicht, was offensichtlich ist?“, könnte auch die Ausgangsfrage des Condorcet-Teams gewesen sein. Warum sehen wir nicht, dass unsere Gesellschaften und Sozialeinrichtungen umgebaut werden nach den technischen Anforderungen der Datenökonomie, nach den Parametern des „unbeschränkten Digitalkapitalismus nach amerikanischem Vorbild einerseits und orwellianischer Staatsüberwachung in China andererseits “, wie es der deutsche Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier auf dem Deutschen Kirchentag 2019 in Dortmund klar formulierte? Eine Bundespräsidentin oder einen Bundespräsidenten gibt es in der Schweiz in dieser Form nicht, wie ich beim Recherchieren für diesen Textes gelernt habe. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft kennt weder Staatsoberhaupt noch Regierungschef. Diese Funktion wird vom gesamten Bundesrat als Kollegium wahrgenommen, ein Mitglied jeweils für ein Jahr zur Präsidentin, zum Präsidenten gewählt. Möglicherweise ist dieses Kollegialitätsprinzip in der Schweizer Politik eine der Grundlagen des Erfolges der Condorcet-Teams: die Bereitschaft und der Wille zu Argument und Diskurs.
Das spiegelt sich in den Beiträgen in den Kontroversen und ist die zentrale Qualität der Texte: Man traut der Leserin, dem Leser das Selberdenken zu.
Das spiegelt sich in den Beiträgen in den Kontroversen und ist die zentrale Qualität der Texte: Man traut der Leserin, dem Leser das Selberdenken zu. Wer heute von Liberalität und Offenheit für die Meinungen auch des politisch Andersdenkenden spricht, wer sich dabei auf den liberalen Aufklärer Jean-Marie de Condorcet (1743- 94) und seine Frau, Sophie de Condorcet (1764 – 1822) beruft, ist in einer ach so individualisierten und ach so konsumgesättigten Welt eher Außenseiter. Doch braucht es die Wenigen, die sich den Mut des Selbstdenkens als Angebots zum Selberdenken bewahren, den Mut zur Kontroverse aufbringen, um in einer zunehmend „smarten“, sprich algorithmisch optimal berechneten Welt mental und menschlich zu überleben. Danke dafür.
Professor Dr. Phil Ralf Lankau HS Offenburg