22. Dezember 2024

Gestatten, François Schmid-Bechtel – Journalist und Wichtigtuer

Was führt einen Journalisten dazu, schon am ersten Tag nach der vom Bundesrat befohlenen Schulschliessung über die Schulen zu schreiben, dass diese ratlos seien, die Corona-Krise «Versäumnisse» aufdecke und dass nur wenige Schule zeigten, «wie es richtig geht». (Luzerner Zeitung 16.3.20) Ganz einfach, es braucht ein (vermutlich erfundenes) Einzelbeispiel ohne Einbettung, Null Recherche und eine grosse Portion Ignoranz.

Alain Pichard, Lehrer mit 43-jähriger Berufserfahrung, Gewerkschafter, Initiant der Aktion 550gegen550, Mitherausgeber des Einspruchs, GLP

Am Freitag, den 13. März, um 16.00 Uhr, verfügte der Bundesrat die landesweite Schliessung der Schulen. Über das Wochenende arbeiteten zahllose Informatikbeauftragte in den Schulen an der Erstellung von Online-Foren. Schulleitungen nahmen Kontakt zu ihren Lehrkräften auf, Sitzungen wurden einberufen, Lernplattformen auf die Server geladen.

Die Klassenlehrer erfassten und bereinigten alle Klassenchats, E-Mail-Adressen der Schüler und deren Eltern. Viele Klassenlehrkräfte schrieben ihnen einen Brief, den sie noch am Samstag per Post verschickten. Die Homepages der Schule wurden aktualisiert, Behördenbriefe aufgeschaltet.

Haushalte haben oft keinen Laptop, nur das Handy

Am Montag trafen sich die Klassenlehrkräfte in den Schulen des Landes, organisierten Betreuungspläne, Materialabholungen, Elterninformationen. Dann wurden die Online-Foren gespiesen. Man holte sich Infos über die SchülerInnen, die zu Hause kein WLan, keinen Laptop, keinen Drucker haben. Unser Informatikbeauftragte arbeitete am

François Schmid-Bechtel, Journalist der Luzerner Zeitung: “Die Schulen sind ratlos.”

Wochenende bis tief in die Nacht, um Gebrauchsanweisungen für die DiskStation für Schüler und Eltern zu entwerfen. Dann musste unsere Schule 20 (!!!) Laptops zur Verfügung stellen, diese aufbereiten und ein Ausleihedokument konzipieren. Hausdienst und Schulleitungen organisierten die Abholaktion. Dann folgten intensive pädagogische Diskussionen. Welche Aufträge wollen wir erteilen? Wie betreuen wir die Kinder? Wie verhindern wir, dass die Schüler nur noch am Compi sitzen? Soll es eine Präsenzpflicht geben, gibt es genug Kapazität auf dem Server, welches ist die Rolle der Eltern? Am Montagnachmittag war das meiste einigermassen geklärt. Wochenpläne wurden nun formuliert, Aufträge eingetippt, Abgabemodalitäten festgelegt, Fristen beschlossen.

Telefongespräche

Anschliessend wurden SchülerInnen und Eltern bedient, Dutzende von Telefongesprächen folgten. Ja, stellen Sie sich vor, Herr Schmid, es gibt tatsächlich Kinder und Eltern, die noch telefonieren wollen und nicht alles auf Anhieb verstehen.

Viele SchülerInnen waren bedrückt. Es gab sogar Tränen.

Es folgte die Abholaktion von Material. Viele SchülerInnen waren bedrückt. Es gab sogar Tränen. Vor allem unsere 9. KlässlerInnen waren traurig. Sie bangen um ihr Abschlusstheater, auf das sie sich so gefreut haben. Abschlusstheater, so etwas von vorgestern, nicht wahr, Herr Schmid? Sie befürchteten die Absage ihrer Abschlussreise …

Schüler richteten Arbeitsplätze ein, fotografierten sie und schickten sie dem Klassenlehrer.

Schliesslich beginnt die Fernschulung zu laufen. Tagebucheinträge, Fotos von Arbeitsplätzen, Youtube-Videos, Zusammenfassungen, Bücher lesen und immer wieder die Aufforderung: Denkt über euer Leben nach, schreibt uns eure Sorgen, freut euch am Schönen … usw.

Eine Mutter schreibt mir: «Ich möchte mich herzlich bei Ihnen bedanken für die strukturierte und organisierte Planung der Fernschulung für Ihre Klasse. Ich finde es eine fantastische Idee, ihnen Präsenszeiten zu geben und sie so stark darauf hinzuweisen, dass sie weiter arbeiten müssen, inklusive mit Aufträgen mit Abgabeterminen. Sie erleichtern uns Eltern die Disziplinierung der Kinder zu Hause, die nicht immer einfach ist, besonders da wir auch arbeiten müssen, auch wenn wir zu Hause sind (homeoffice). Machen Sie so weiter und alle werden diese schwierige Zeit ohne zu viel Mühe überstehen. Ich bin froh, dass es so engagierte Lehrpersonen gibt wie Sie. Nochmals, vielen Dank!»

Eine andere: «Danke, danke für die hoffnungsvollen Worte!»

Ist das tatsächlich nur unsere Schule, die sich so einsetzt? Dies es «packt»? Herr Schmid schreibt bereits am ersten Tag der Schulschliessungen:

Keine “Arbeitsblattitis”, gesucht wurden Aufträge, welche die Kinder nicht nur am Compi beschäftigen.

«Aber wenn wie jetzt die Schulen geschlossen werden, herrscht mancherorts nur noch Ratlosigkeit. Man ist nicht gerüstet, um die Schüler zuhause mit Lernstoff und Aufgaben zu versorgen. Einige wenige Schulen zeigen, dass das im digitalen Zeitalter durchaus geht. Warum nicht überall?»

Offensichtlich hat Herr Schmid Verbindung zu einer Zentrale, die ihm genau Bescheid gibt, wie viele Schulen es seiner Meinung nach «packen» und welche nicht.

Schliesslich folgt die umwerfende Erkenntnis: «Bildungsämter und Schulen sind nun gefordert. Es kann nicht sein, dass Tausende von wissbegierigen Schülern für Wochen, vielleicht sogar für Monate auf dem Trockenen sitzen.»

Ich kann Ihnen versichern, Herr Schmid: Alle Schulen, die ich kenne, all meine Berufskollegen und ihre Schulen haben es «gepackt»! Meine Grosskinder in Zürich und Biel, meine Freunde mit schulpflichtigen Kindern, sie wurden alle angeschrieben, «angedockt», beliefert und betreut.

Ein Mädchen schickt einer Lehrerin eine Arbeit nicht zum abgemachten Termin. Diese versucht sie telefonisch zu erreichen. Sie telefoniert nach Hause. Niemand nimmt ab. Um 22.30 Uhr ist der verlangte Text im Server. Am nächsten Tag rechtfertig sich die Schülerin, sie sei um 17.00 Uhr eingeschlafen. Erst gegen 20.00 Uhr erwacht. Die Mutter noch am Arbeiten. Vater nicht mehr zu Hause. Bruder am Gamen. Nachtessen aus dem Kühlsschrank. Völlig alleine. Es folgte ein halbstündiges Telefon mit der Lehrerin. Die Pädagogin spricht ihr Mut zu. Gemeinsam vereinbaren sie eine Strategie. Die Mutter versteht kaum Deutsch. Kann nicht helfen. Ist müde …

Sofies Welt: Für starke Schülerinnen und Schüler ein wunderbares Buch.

Einigen Schülern gab ich das Buch «Sofies Welt» mit. Sie erhielten den Auftrag, die ersten 50 Seiten zu lesen. Ein Schüler schrieb mir am Samstagabend: «Ich finde dieses Buch hervorragend. Es ist genau das Richtige für mich, da ich mir schon davor manchmal schwierige Fragen gestellt habe und über das Leben grübelte, sowie über die Natur staunte. In diesem Buch bin ich schon auf Seite 180. Darf ich weiterlesen, oder sollte ich doch lieber noch warten?»

Ein Mädchen schrieb: «Irgendwie spielt man nicht mehr so richtig zusammen. Früher sassen wir stundenlang im Sandkasten, spielten mit Puppen oder fuhren mit unseren Fahrrädern die Strasse neben unserem Haus rauf und runter. Jetzt ist es anders, wahrscheinlich sind wir zu alt zum Spielen.»

Sehen Sie, Herr Schmid, dass ist die Realität. Nicht nur die Schule, auch die Elternhäuser, die Kinder sind gefordert. Und wir lernen jeden Tag dazu. Das haben Sie nicht nötig. Sie schwadronieren: «Jede Krise ist eine Chance. Die Verbreitung des Corona-Virus wird noch viele andere Mängel und Versäumnisse zum Vorschein bringen.»

Sie haben Recht. Es klappt nicht überall gleich gut. Schulleitungen mit Charisma, partizipierende und initiative Lehrkräfte (und auf diese kommt es letztendlich an) sind nicht überall gleich verteilt. Wie auch sonst in unserer Bildungslandschaft. Es gibt da sicher Qualitätsunterschiede. Heute gab es bei uns die erste Videokonferenz in unserer Schule. Sie funktionierte klappte nicht auf Anhieb. Bis Sonntagmittag war das App dann installiert, die Lehrkräfte instruiert und die Lehrkräfte konnten auf diesem Weg kommunizieren.

Ihr Metier, Herr Schmid, ist die Sportreportage, was ich – Google sei Dank – recherchieren konnte. Vorzugsweise der FC Luzern. Bleiben Sie dabei!

image_pdfAls PDF herunterladen

Verwandte Artikel

Linke Bildungspolitik: Eine starke öffentliche Schule für alle

Anlässlich einiger kantonaler Wahlen bat die Redaktion des Condorcet-Blogs einige BildungspolitikerInnen, ihre Sicht über eine moderne Bildungspolitik zu formulieren. Mit Miriam Locher beginnen wir diese Serie. Miriam Locher ist eine profilierte Bildungspolitikerin der SP, die – nach Aussage unseres Redaktionsmitglieds Philipp Loretz – einer neuen Generation angehört.

2 Kommentare

  1. Den Artikel – oder einen ganz ähnlichen – hatte ich auch in der Aargauer Zeitung gelesen und mich über die Ignoranz des Verfassers geärgert.
    Der Text sagt Trauriges über unsere Medienlandschaft aus: Fakten zählen nichts mehr, dafür kriegt jeder Sport- oder sonstwas-Journalist eine Plattform, seine unqualifizierte Meinung über die Schule (und jedes andere Thema) herauszuposaunen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert