19. März 2024

Wo holistische Modelle scheitern: Ein Unterrichtsprotokoll

Ein junger Lehrer unterrichtet an einer 7. Reaklasse zwei Lektion NMM-Natur. Er will es gut machen, ganz wie er es in seiner Ausbildung gelernt hat: Gruppenarbeiten, selbstentdeckendes Lernen, Diskussionen. In der Absicht, dass die Schüler etwas lernen. Er stösst auf Hindernisse und reagiert. Lesen Sie das anonymisierte Unterrichtsprotokoll von B. auf unserem Condorcet-Blog.

B. arbeitet nicht mehr an dieser Schule.

Ich hatte als Fachlehrer eine Doppellektion im NMM-Natur an einer 7. Realklasse zu geben. Ich gebe gerne Naturlektionen. Es ging um den Themenbereich Mensch und Tier. Und da es sich um eine disziplinarisch schwierige Klasse handelte, bereitete ich mich auch entsprechend sorgfältig vor. Meine Doppellektion sah methodisch sämtliche als modern geltenden methodischen Ansätze vor, so wie es heute in den Lehrerausbildungsstätten gelehrt wird. Ich plante:

1. ein Präkonzept zu erheben: Gruppenauftrag, Zuordnungen, intern differenziert, anschliessende Diskussion über Ergebnisse, Erfahrungsaustausch

2. und wenn noch Zeit bleibt, mit dem Film “Geschichte der Naturlandschaft Schweiz” weiterzuarbeiten (samt Erstellen eines gemeinsamen Filmprotokolls).

Für die Vorbereitung der Doppellektion (es beinhaltete neben Wandtafel-Einträgen auch das Bereitstellen von Material) benötigte ich knapp 50 Minuten, was ich am Mittag in der Schule erledigt hatte.

Dieses Protokoll verfasste ich dann kurz nach den beiden gehaltenen Lektionen:

13.45 Uhr 

Ich betrete das Klassenzimmer, es ertönt ein rechtes Gegröle, ich werde begrüsst mit: Hallo, Herr B., wie geht’s, Herr B? Drei Schüler reden miteinander, nehmen keine Notiz von mir. A. kommt zu mir und will etwas sagen. Es herrscht grosser Lärm. Ich rede laut, betone, dass ich jetzt hier sei, schicke alle an die Plätze, fordere A. auf, die Hand zu heben, um zu sagen, was er wolle. A. meint, er habe Kopfweh. Was ich damit tun solle, frage ich. Er brummelt etwas. Ich wiederhole noch einmal, dass ich immer noch nicht wisse, was er mir sagen wolle, ob er nach Hause gehen wolle, ich sei kein Arzt. Daraufhin winkt er ab.

13.50 Uhr  

Ich erkläre die Unterrichtsinhalte und fordere die Klasse auf, sich in den NMM-Raum zu begeben. Vorher gebe ich an, was mitzunehmen sei: Dossier, Schere, Leim, Schreibzeug. Die Klasse grölt laut, alle rennen hinunter, die Türe ist verstopft, es kommt zu wüsten Wortwechseln, Sachen fallen auf den Boden.

13.55 Uhr 

Ich erkläre den Auftrag und weise die SchülerInnen auf die Plakatdarstellung an der Wandtafel hin. Auch die Gruppen mit Namen sind an der Wandtafel aufgeführt. Trotzdem kommt es vor, dass ich mich zur Tafel drehen muss. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, höre ich ein lautes Zischen, vermutlich von E. und J. Ich ermahne die Betreffenden, dass sie mit den Geräuschen unverzüglich aufhören sollen. Sie erklären, sie täten ja gar nichts. Ich drehe mich wieder um, um etwas zu zeichnen, und höre erneut – laut vernehmbar – ein Glucksen, was von einem Kichern begleitet wird. V. nervt sich und fordert laut Ruhe. Ich kann die Täter nicht genau eruieren, spreche aber E. noch einmal direkt an und verwarne ihn.

14.05  

Die (einfachen) Aufträge sind erklärt, die Gruppen eingeteilt (8 Gruppen, und H., ein motivierter und ambitionierter Schüler erhält einen Zusatzsprachauftrag). Rund die Hälfte der SchülerInnen hat weder Leim noch Schere, andere holen das Schreibzeug. Ich habe vorgesorgt und halte Ersatzwerkzeug bereit. Die Gruppen sind auf dem Stockwerk verteilt und können auch auf dem Gang arbeiten. Ich gehe von Gruppe zu Gruppe. Im Gang bemerke ich, wie drei Gruppen, Schk., A. /J, Ay., R. / S. und B. miteinander reden, ohne am Auftrag zu arbeiten. Ich ermahne sie, setze sie auseinander, markiere Präsenz. Alle drei Gruppen wissen trotz Erklärung und schriftlich formuliertem Auftrag nicht, was zu tun ist. Ich erkläre ihnen den Auftrag noch einmal, betone, sie müssten bis 14.25 Uhr fertig sein. Ich gehe in den NMM-Raum, dort  arbeiten die Gruppen relativ gut. Ich hole die Gruppe im Gang und zeige, wie gearbeitet wird. Noch zehn Minuten. A. fragt mich, ob er auf die Toilette gehen dürfe. Ich erkläre ihm, es dauere noch zehn Minuten, der Gruppenauftrag müsse fertig werden. Das sei kein Problem, meint A., geht auf die Toilette und erscheint nach 7  Minuten wieder. Die Schülerin in seiner Gruppe macht alles alleine, schafft es aber nicht, zeitgemäss fertig zu werden. Ebenso die anderen Gruppen im Gang: S. und B. machen alles falsch, was man falsch machen kann. Nur zwei Gruppen schaffen den Auftrag in der entsprechenden Zeit.

Pause

Nach der Pause sind 5 Schüler nicht im NMM-Raum. Sie seien oben im Klassenzimmer, heisst es. Ich lasse sie holen. Sie sagen lachend, sie hätten gedacht, die 2. Lektion finde oben im Klassenzimmer statt. Die Klasse beginnt plötzlich zu grölen. Es folgt ein hysterisches Kreischen, einige flippen fast aus. Der Grund: Notizzettel sind wie ein Kifferjoint zusammengedreht im Mundwerk des Skeletts hinter dem Lehrerpult zu sehen, ein anderer Notizzettel hängt im Genitalbereich. Ich nehme die Papiere weg, versuche zu beruhigen, was nur schwer gelingt. Ar. lacht sich fast „kaputt“. Ich kann einige nicht bremsen und muss sie hinausschicken. Riesige Unruhe, ich werde laut, die Klasse verstummt. Ein Gespräch über die Ergebnisse ist so nicht möglich. Ich entschliesse mich, auf Präsentation und Interpretation der Resultate zu verzichten. Ich fahre mit dem begonnenen Film fort und bitte die Klasse, die Dossiers hervorzunehmen. 8 SchülerInnen haben keine. Ich schicke sie hinauf, um sie zu holen. Erneut lautes Gegröle und Gekreische. Ich wende mich an die Schüler, die sich im NMM-Raum befinden, ob sie sich nicht manchmal genieren wegen ihres Verhaltens. Mehrere SchülerInnen (vor allem die Mädchen) beklagen sich heftig über ihr Benehmen. „Es ist peinlich,“ meint V. „Wir sind eine Behindertenklasse,“ meint ein anderer. Ich sage ihnen, dass ich hier sei, damit sie etwas lernen. Sie müssten halt auch Mitverantwortung übernehmen. Sie meinen, das nütze ja eh nichts.

14.45

Ich beginne den zweiten Teil, das Abspielen einer DVD, allerdings ohne die acht SchülerInnen, die immer noch oben im Klassenzimmer sind, um angeblich ihr Dossier zu suchen. Die Fragen zum Film haben sie schon das letzte Mal erhalten. Da zwei Schüler nicht da waren und mit Se. auch noch ein Neuer in der Klasse ist, wiederhole ich die ersten Fragen des Filmprotokolls und lasse die aufmerksamen SchülerInnen die Antworten vorlesen. Das geht sehr gut, sie machen mit.

14.50

Ich möchte den Film jetzt zeigen, aber die 8 SchülerInnen sind immer noch nicht da. Ich schicke B. hinauf, da er nun auch gemerkt hat, dass er das Dossier mit den Fragen zum Film nicht bei sich hat. Ich schalte noch eine Frage dazwischen, B. kommt hinunter (mit seinem Dossier). Die anderen seien oben am suchen (es sind jetzt bereits 11 Minuten vergangen!!!). Ich starte den Film.

14.53 

Die SchülerInnen von oben treten in den NMM-Raum. Ich schicke sie hinaus, während der Film läuft und stelle sie zur Rede. Sechs haben das Dossier nicht mehr, zwei haben es gefunden. Ich notiere die Namen.

14.58

Ich halte den Film an. Die SchülerInnen sollen die Fragen 10-14 beantworten. Viele haben Mühe, wissen nicht, was gesagt wurde, ich helfe, werde aber von J. immer wieder mit bewusst falschen Antworten (“Wiesentier?”– Antwort: “Nashorn”, kicher, kicher) unterbrochen. Es wird lauter.

15.02

Ich habe genug. Jetzt ändere ich den Unterrichtsstil und schalte um. Ich beschliesse, die Klasse eng zu führen. Kündige dies an und schicke den ersten Schüler, der herummault, mit einem Schreibauftrag hinaus. Ich sorge für strikte Ruhe. Ich zeige Filmsequenzen, halte den Film an, lasse mir die Antworten diktieren, schreibe sie an die Tafel, die Klasse schreibt ab. Es herrscht Ruhe, zum ersten Mal kommt so etwas wie Konzentration auf, wir kommen vorwärts. Ein weiterer Schüler wird mit Auftrag (den er ohnehin nicht machen wird) hinausgewiesen.

15.20

Ich sammle das ausgeliehene Material ein. Es fehlen zwei Scheren und drei Leimstifte. Nach längerem Insistieren kommen die Scheren zum Vorschein, die Leimstifte bleiben verschwunden.

Mein Fazit:

Ich kann in dieser Klasse kaum einen fördernden, den konstruktivistischen Prinzipien verpflichtenden individualisierenden NMM-Unterricht durchführen. Darunter leiden vor allem die leistungswilligen SchülerInnen, die es regelrecht „anscheisst“. Andere SchülerInnen sind völlig überfordert, wenn ich nicht individualisiere, das heisst ganz einfach, Aufträge zu erteilen. Individualisierung aber setzt die Bereitschaft voraus, selbständig zu arbeiten. Mir fällt der aussergewöhnlich rüde Umgangston während der Gruppenarbeit auf. Aus den nichtigsten Anlässen (A: “Wo hast du das hingeklebt?” – S.: “Unter Säugetiere.” – A.: “Halt d’Fresse du huere Lugisiech!”) werden kränkende und unschöne Dialoge geführt. Der von mir in der letzten Viertelstunde praktizierte „geführte Unterricht“ sorgt dagegen für Ruhe, ist etwas effizienter und führt zu kleinen Lernerfolgen.

Der Lehrer – er ist nicht der Klassenlehrer – schickte mir sein Unterrichtsprotokoll, das er ursprünglich für die Schulleitung erstellt hat. Es ist anonymisiert.

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2 Kommentare

  1. Die von Lehrer B. geschilderte Unterrichtssituation ist typisch für ein Klima an einer Kleinklasse. Ein Problem unter anderem ist hier, dass er eben nicht ca. 6 – 8 SchülerInnen hat, sondern ev. über 20. Da lassen sich solche Verhaltensauffälligkeiten nicht lösen und auch nicht regeln, weil es mehrere Untergruppen gibt. Ein Beziehungsaufbau zu diesen Schülern, was unbedingt vor dem eigentlichen Unterricht als Bildungsauftrag, erfolgen müsste, ist schlicht und einfach nicht möglich. Lehrer B. unterschätzt auch, dass diese Schüler ihn nicht als Herrn B. wahrnehmen, sondern als einen Funktionsträger. Seine Person ist ihnen völlig egal. Sie wissen auch sehr wohl, dass es für ihr berufliches Weiterkommen überhaupt keine Rolle spielt, ob sie hier im Unterricht mitarbeiten oder nicht. Sie werden immer am Rande der Gesellschaft Hilfsarbeiten ausführen müssen. Oft ist es auch so, dass diese Haltung ihnen bereits von klein auf durch das (Arbeits-)Schicksal des Vater in dieser Art und Weise vorgelebt worden ist. So wird es dann zu einer Haltung. Als ehemaliger Kleinklassenlehrer habe ich mit diesen Schülern über ihr Schicksal, ihre Stellung in unserer Gesellschaft oft, fast täglich, gesprochen, diskutiert. So entstand eine Beziehung und nach mehreren Monaten waren sie auch bereit, schulisch mitzuarbeiten. Aber immer erst dann, wenn ich das Gefühl hatte, dass sie mich nun auch als Menschen nicht als angestellter Lehrer wahrnehmen, der eben auch nur seinen Job machen muss. Weil sie wissen, dass sie am Rande der Gesellschaft stehen, stehen werden, wollen sie wenigstens jetzt, während der Schulzeit, noch etwas Spass haben und wann ist der Spass am grössten, wenn sie einen Vertreter dieser oberen Schicht so richtig schön ärgern können. Und das haben sie dann auch getan. Weil Lehrer B. diese Zusammenhänge nicht klar sind, er erwähnt Ähnliches an keinem Ort seines Protokolls, musste er scheitern.

  2. Auch hier machen wir es kurz: Die Fachhochschulkonzepte taugen nichts. Gar nichts! Wenn glücklicherweise eine Idealfall-Klasse am Start ist, dann klappt ein derartiges Szenario vielleicht. Doch keinesfalls darf in einer solchen Situation Führungsverantwortung an Schüler übertragen werden (Sus holen…).
    Front-al ist eben doch nicht grundsätzlich falsch, da Fronten bestehen, die es zu bewirtschaften gilt. Das Ende der beschriebenen Lektion zeigt es überdeutlich. Lassen wir die Träumer an den PHs weiterträumen und wenden wir uns der Realität zu. Einfacher wird es für Einsteiger, wenn Schulen Coaches bereithalten, die nicht selber PH-indoktriniert sind…

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