Vor mir liegt ein Papier des Basler Erziehungsdepartementes, das einen Überblick über den Stand der Dinge bei der Umsetzung des IT-Projektes an den Mittelschulen vermittelt. Ich sehe ein Organigramm, in dem gegen 50 Leute in verschiedenen Gremien und Funktionen aufgeführt sind.
Eine Energiebilanz der Digitalisierung an den Schulen findet man nirgends.
Der Ausbau und die Modernisierung der IT-Infrastruktur an den Mittelschulen erfordert einmalige Investitionen in der Höhe von 2.85 Millionen Schweizer Franken und wiederkehrende Kosten von 1.1 Millionen ab dem Jahre 2021. In einem einzigen Satz wird in diesem ausführlichen Papier empfohlen, unter anderem auch auf die ökologischen Folgen „mit der nötigen Besonnenheit und kritischen Haltung“ zu reagieren. Eine Energiebilanz der Digitalisierung an den Schulen findet man nirgends.
Klimanotstand in Basel
Bekanntlich hat der Basler Grosse Rat schon vor geraumer Zeit auf Anregung der protestierenden Jugendlichen der Fridays-for-Future-Bewegung den Klimanotstand ausgerufen. An der Jahresversammlung der Basler Schulsynode verlangte ich ebenfalls eine Abstimmung darüber. Der Vorstand der Standesorganisation machte mir mit ernster Miene klar, dass eine solche Abstimmung nicht rechtens sei. In abgeschwächter Form liess man dann ohne eigentliche Abstimmung mein Anliegen folgenlos über die Bühne ziehen.
In den Schulen wird an Streiktagen regulär unterrichtet
Die Schulen in Basel-Stadt haben sich mittlerweile mit der protestierenden Jugend arrangiert. Es gibt eine flotte, geschmeidige Absenzenregelung des Erziehungsdepartements, die regelmässig vor einem anstehenden Freitagsstreik den KollegInnen in Erinnerung gerufen wird. Lehrkräfte dürfen sich am Streik nicht beteiligen, und an den Schulen wird an den Streiktagen regulär unterrichtet. Viele Lehrkräfte stehen zwar dem Anliegen der Jugendlichen positiv gegenüber, aber selbst fühlt man sich nicht wirklich in der Pflicht, auch etwas zu unternehmen. Als sei das Ganze nur ein Problem der Jugend. Es gibt hie und da gewisse Arbeitsgruppen an einzelnen Schulen, freiwillige Konferenzen, die sich mit Fragen der Ökologie und der Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Aber wie gesagt, freiwillig und natürlich ohne Kosten. Kein Klima-Organigramm mit 50 Verantwortlichen, kein Startkapital von gegen 3 Millionen, um die Implementierung der Klima-Thematik in den Schulalltag zu organisieren. Und auch der LehrerInnengewerkschaft fällt zu diesem Thema kaum etwas ein.
Viele Lehrkräfte stehen zwar dem Anliegen der Jugendlichen positiv gegenüber, aber selbst fühlt man sich nicht wirklich in der Pflicht, auch etwas zu unternehmen.
Ein Lehrplanziel reicht nicht
Die Herausforderungen der Klimakatastrophe für die Bildung werden immens sein und sie werden leider noch kaum wahrgenommen. Es geht mir nicht um Alibi-Hauruck-Übungen etwa im Stile Neuseelands oder Italiens, wo ein neues Schulfach „Klimawandel und nachhaltige Entwicklung“ eingeführt wird. Aber es reicht bei weitem nicht aus, in unserem Land lediglich darauf zu verweisen, dass ja im Lehrplan 21 der Klimawandel als Teilelement in den Fachbereichen „Natur, Mensch, Gesellschaft“ und „Räume, Zeiten und Gesellschaften“ vorkomme.
„Beim Klimanotstand agiert der Mensch komplett irrational. Er will es nicht wissen.“ ETH-Klimaforscher Reto Knuti
Das Dilemma ist viel grösser und viel komplexer. Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sind sich grundsätzlich uneins darüber, wie gross das Ausmass des Klimanotstandes wirklich ist und welche Strategien aus dieser Notlage führen könnten. Ein Beispiel gefällig für diesen verwirrten Zustand: Im Online-Magazin Republik vom 23. November des vergangenen Jahres gibt der renommierte ETH-Klimaforscher Reto Knutti Auskunft über den Stand der Dinge. „Beim Klimanotstand agiert der Mensch komplett irrational. Er will es nicht wissen.“ Er will nichts wissen davon, dass höhere Durchschnittstemperaturen nicht einfach zurückgehen, auch wenn wir die Emissionen auf null bringen. Er will nichts wissen davon, dass die Zunahme der Schäden nicht linear verläuft. Er will nichts wissen von sogenannten Kipppunkten, wo dann die Auswirkungen massiv und irreparabel werden. Er tröstet sich mit folgenden Kurzzeitprognosen: „Der Klimawandel wird uns in der Schweiz in den nächsten zwanzig Jahren nicht massiv treffen. Es wird ab und zu etwas kosten. Starke Niederschläge, Überschwemmungen. Hin und wieder wird es sehr heiss, dann kostet es für die Landwirtschaft ein paar Milliarden.“ Und den nächsten Satz will er dann wiederum nicht hören: „Für meine kleine Tochter sieht es anders aus.“ Denn eine durchschnittliche Erhöhung von weltweit 5 Grad, wie es bis zum Ende des Jahrhunderts prognostiziert werde, bedeute massivste Veränderungen. „5 Grad in die andere Richtung, als Vergleich, das war die letzte Eiszeit.“ Welche Folgen schon nur die Kleine Eiszeit von 1570 bis 1700 hatte, kann man bei Interesse im Buch „Die Welt aus den Angeln“ des zeitgenössischen Historikers Philipp Blom nachlesen, der als Quintessenz seiner vergleichenden Forschung in einem zweiseitigen Interview im Tages-Anzeiger vom 23. Dezember 2019 nachdenklich und ratlos zugleich bilanziert: „Wir brauchen radikale Lösungen. Wir müssen eine andere Gesellschaft wollen. Unsere Wirtschaft ist auf Wachstum ausgerichtet, unsere Identität wird über Konsum definiert. Vom Wirtschaftswachstum hängt alles ab, auch die Demokratie. Wir müssen uns aber bewusst werden: Als eine solche Gesellschaft werden wir es nicht schaffen.“
Man hat kein einziges der Umweltprobleme durch Eigenverantwortung gelöst, durch den freien Markt, durch spontane Innovation.
Der Staat gibt die Regeln
Doch zurück zum Interview mit dem Metereologen Knutti: Die wohl interessanteste Passage ist diejenige nach der Frage, welche Politik uns aus unserer Notlage führen könne. „Man hat kein einziges der Umweltprobleme durch Eigenverantwortung gelöst, durch den freien Markt, durch spontane Innovation“, bilanziert der Wissenschaftler trocken. Und er legt nach: „Es ist egal, welches Beispiel Sie wählen: Katalysator, Partikelfilter, Kläranlagen, FCKW: Veränderungen gab es nur, wenn der Staat Regeln aufgestellt hat. Früher hat man den Abfall in den Wald geworfen, die Munition in den See und den Atommüll ins Meer. Heute muss der Abfall gesammelt, verbrannt oder recycelt werden. Früher liess man das Abwasser einfach in unsere Seen fliessen. Heute braucht jedes Haus Abwasserleitungen. Wer würde Kläranlagen infrage stellen? Gegen die schlechte Luftqualität, das Waldsterben, den sauren Regen wurden Partikelfilter und Katalysatoren eingeführt. Es gibt Luftreinhalteverordnungen, Schadstofftests für Autos. Man kann nicht mehr einfach einen grossen Kamin aufstellen und Rauch rauslassen. Man hat FCKW verboten wegen des Ozonlochs, und Atomkraftwerke dürfen die Wassertemperatur des Flusses, den sie zum Kühlen brauchen, nicht über einen Grenzwert erwärmen, weil sonst die Fische sterben. Man kann argumentieren: Es kann ja auch nicht jeder bauen, wie er will. Oder es kann auch nicht jeder fahren, wie er will. Für die Gesellschaft ergeben diese Regeln durchaus Sinn: Freiheit, solange nicht andere dadurch zu Schaden kommen. Wie man das jetzt immer bewerten will, eine Sache ist mit Blick in die Vergangenheit klar: Ohne Anreize oder Zwang ist im Umweltbereich selten etwas passiert. Wenn die Fossilen wenig kosten, die Schäden vom Steuerzahler übernommen werden und der Staat nicht lenkend eingreift, gehen die Emissionen rauf, rauf, rauf.“
Eine diametral entgegengesetzte Einschätzung liefert das konservative Leitblatt der bürgerlichen Elite unseres Landes, die NZZ. Im Leitartikel „Die Jugend hat recht“ vom 28. Dezember 2019 bilanziert Peter A. Fischer die Dinge auf seine Art: „Das bereits Erreichte ist technologischer Innovation zu verdanken, die primär der freiheitliche Kapitalismus generiert hat. Er plant nicht zentral und kennt das Endresultat nicht von vornherein.“ Aber von vornherein ist für den Journalisten klar: „Der freiheitliche Kapitalismus und das Wirtschaftswachstum sind somit der Schlüssel, um Umweltprobleme zu beheben.“
Ich sollte in der Schule sein
Mitten in diesem Meinungsstreit steht stellvertretend für einen Teil der jungen Generation Greta Thunberg, die ihre Rede am UNO-Klimagipfel Ende September vergangenen Jahres mit folgendem Satz eröffnet hat: „All dies ist falsch. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte in der Schule sein, auf der anderen Seite des Ozeans. Trotzdem seid ihr alle zu mir gekommen, um Hoffnung zu schöpfen. Wie könnt ihr es wagen?“ Und in ihrer politischen Einschätzung beruft sie sich beharrlich und immer wieder auf das, was auch an den Schulen schon längst zum Allgemeinwissen gehören sollte: „Seit über 30 Jahren sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse kristallklar. Wie könnt ihr es wagen, weiter wegzuschauen und zu sagen, dass ihr genug tut, wenn die erforderlichen politischen Massnahmen und Lösungen noch nirgends in Sicht sind?“
Wie sollen wir die Schule neu organisieren?
Die Schule ist kein Hort des gesicherten Wissens mehr. Wir stehen als LehrerInnen und als SchülerInnen im Fahrtwind eines aufkommenden Sturmes, wo wir uns plötzlich über die Generationengrenze und die traditionelle Rollenverteilung in der Schule hinwegsetzen müssen angesichts einer Welt, die auf gestandene Klimaforscher nicht hört und sich an 17-jährigen Aktivistinnen doch wieder etwas aufbauen will. Wir sind alle etwa gleich ratlos und gleich informiert. Was nun?
So unausweichlich die Digitalisierung ist, so unausweichlich ist der Klimanotstand.
Auf alle Fälle nicht mehr so weiter machen wie bisher. Am nächsten grossen Klimastreiktag vom 15. Mai könnten wir uns auch an den Schulen in neuen Rollen ausprobieren: Wir könnten uns als LehrerInnen mit den SchülerInnen zusammensetzen und uns fragen: Vermitteln wir das nötige Wissen, das uns als Rüstzeug dienen kann, um aus dieser Katastrophe noch herauszufinden? Wie gehen wir mit der politischen Orientierungslosigkeit um, als Junge, als Alte ? Wie bringen wir Greta Thunberg, Reto Knutti und Peter A. Fischer in unseren Köpfen zusammen? Was wollen wir konkret ändern? Wie wollen wir uns an unseren Schulen neu organisieren, und was kostet das? Und wer bezahlt das? Und wie sorgen wir dafür, dass wir im Meinungsstreit nicht doktrinär werden und die Schule nicht mit Verweis auf den Notstand zur Indoktrinationsmaschine verkommen lassen? So unausweichlich die Digitalisierung ist, so unausweichlich ist der Klimanotstand. Diese beiden Entwicklungen laufen parallel und wir müssen noch lernen, sie zusammenzudenken und in beiden Bereichen zu handeln.
Georg Geiger
Die Lehrer, Eltern und Erzieher haben es in der Hand, sie brauchen nicht auf Staat und Wirtschaft zu warten. Ich denke da an das Lehren und nachhaltige Trainieren von umweltschonenden Sozialkompetenzen, die man auch für eine ungewisse Zukunft gut gebrauchen kann.
Ein solches Beispiel wäre die Sozialkompetenz „verzichten können“. Die Lehrer haben sicher viele Ideen, wie man das in den Unterricht, Projekte usw. einbauen kann: Sie könnten mit den Schülern freiwillige Verträge abschliessen, dass man den Schulweg zu Fuss oder mit der ÖV statt mit dem Auto unternimmt, dass man in den Ferien nicht das Flugzeug benutzt (ein Thema für den Elternabend), dass man eine gewisse Zeit auf das Handy oder Gamen (5G!) verzichtet usw. usw.
Letzteres wäre ein Beispiel, wie man lernen könnte, mit der Digitalisierung verantwortungsbewusst umzugehen. Das ist sicher eine langfristige Überzeugungsaufgabe, bei der der Lehrer als Vorbild vorangehen muss, damit er glaubwürdig wirkt. Aber man braucht nicht zu warten und kann schon morgen damit ernst machen.