In der Antwort auf meinen Kommentar zu seinen Gedanken über politische Bildung in der Schule scheint Georg Geiger das Thema «Partizipation der Lernenden» am meisten zu beschäftigen. Insbesondere meine Skepsis gegenüber dem schon lange praktizierten «Schüler- und Schülerinnenparlament» hat Alain Pichard und Georg Geiger zu euphorischen Schilderungen gelungener Projekte animiert. Dazu möchte ich Folgendes zu bedenken geben.
Natürlich ist nichts einzuwenden gegen altersgerechte Versuche mit Partizipation. Meine Skepsis richtet sich nicht gegen die Idee an sich, sondern gegen die Umsetzung und Wirkung in der schulischen Realität:
- Wie Georg Geiger zu Recht bemerkt, ist die heutige Schule durch engmaschige Vorgaben arg gebeutelt. Ich erinnere an das Budgetkorsett, die Bauvorschriften, den Lehrplan 21, die Schranken des «schulischen Rechts», versicherungstechnische Regeln, Stundentafel und Stundenplan, die «Schulleitbilder», die «Testitis», etc. Das Wesentliche ist verplant, also beschränkt sich die Partizipation auf kleine Spielräume bei der Pausenhofgestaltung, dem Getränkeautomaten, der Mitwirkung beim Schulhausfest, etc. Die Schüler lernen, dass sie über grundlegende Themen nicht mitzubestimmen haben, sondern sich nur zu relativ nebensächlichen Dingen innerhalb eines kleinen Rahmens äussern können.
Die Schüler lernen, dass sie über grundlegende Themen nicht mitzubestimmen haben, sondern sich nur zu relativ nebensächlichen Dingen innerhalb eines kleinen Rahmens äussern können.
Viele Hürden
2. In der Regel werden jeweils zwei Schüler(innen) pro Klasse als Delegierte gewählt, die im Schülerrat mitdiskutieren, der von einer rührigen Lehrkraft mit mehr oder weniger Geschick und manipulativem Flair gecoacht wird. Idealerweise werden die «Geschäfte» vorher in den Klassen besprochen und die Delegierten bekommen ihre Direktiven. So könnte ansatzweise «repräsentative Demokratie» erlebt werden. In der Praxis ergeben sich jedoch Hürden:
– Beteiligen sich alle Klassenlehrpersonen mit dem nötigen Einsatz, damit alle Schüler(innen), auch diejenigen, die nicht im Rat mitdebattieren, die Erfahrung von «Partizipation» machen können?
– Reicht die Zeit, wenn in den nächsten drei Wochen noch 79 Kompetenzen im Unterricht abgehakt werden sollen oder der Unterricht wegen eines Feiertages, wegen des Besuches der Zahnhygienikerin oder des Verkehrsinstruktors der Polizei, wegen des Skilagers oder wegen des Sportstages mehrmals ausgefallen ist?
– Fällt die Debatte des Schülerrates immer auf die gleiche Freistunde der Lehrperson, die verantwortlich ist, die Stunde, die zufällig gleichzeitig aber die einzige Geschichtsstunde ist, welche in der Stundentafel verblieben ist? Denn in die Freizeit könnte man die Ratsdebatte nicht legen. Idealistische Lehrpersonen wären sicher dabei, nicht aber unbedingt alle partizipierenden Jungpolitiker(innen).
Eventuell wenig nachhaltig
Das mag alles zugespitzt tönen, entspricht aber langjähriger Erfahrung und ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass die Sache mit der Partizipation in der Realität weniger nachhaltig ist, als es sich die glühenden Idealisten gerne vorstellen.
Läuft es gut, wird das Projekt als erzieherisch-bildungswirksamer Prachtserfolg verbrämt, läuft es schlecht, machen sich Enttäuschung und Gejammer breit: «Das hat ja alles keinen Sinn!»
- Wie erleben Schülerinnen und Schüler die Partizipation, wie erleben es die begeistert dafür eintretenden Lehrpersonen? Es gibt wohl keinen Berufsstand, der so sehr schwankt zwischen Euphorie und Zerknirschung wie derjenige der Lehrpersonen. Läuft es gut, wird das Projekt als erzieherisch-bildungswirksamer Prachtserfolg verbrämt, läuft es schlecht, machen sich Enttäuschung und Gejammer breit: «Das hat ja alles keinen Sinn!» Kinder und junge Pubertierende erleben es wohl ganz anders: Zunächst ist das einfach eine Angelegenheit der Schule nach dem Motto: «Die Lehrer(innen) wollen, dass wir mitbestimmen.» Für sie stehen momentane Bedürfnisse im Vordergrund, das Austesten, wie weit sie gehen können, welchen Wortführern sie folgen wollen, was sie wagen sollen, bei wem sie sich beliebt oder unbeliebt machen, wie sie sich durchsetzen können, welcher Unterricht zu Gunsten der Partizipation ausfällt, etc.
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Ein letzter Punkt: Nochmals: Ja, Georg Geiger und Alain Pichard, Erfahrung ist gut, Eure Beispiele klingen erfreulich, aber Erfahrung ist nicht alles. «Politische Bildung» muss darüber hinausgehen, die Erfahrung muss im Unterricht reflektiert und eingeordnet werden. Die Erfahrung lehrt nicht per se. Donald Trump hat in seinem Leben reiche Erfahrung gesammelt: als Immobilienspekulant, als Geschäftsmann, als Konkursit, als Familienvater, als Frauenverführer, etc. Aber hat er daraus gelernt? Hat er Zusammenhänge erkannt, die über das schlaue Durchwursteln zu seinem Eigennutz und zum Schaden seiner Opfer hinausgehen? Bei allen schulischen Projekten ist darauf zu achten, dass Einsichten über Zusammenhänge gewonnen werden können, die über die blosse Aktivität, das reine Agieren hinausführen. Dies sicher zu stellen, ist eine wesentliche Aufgabe der Schule.