5. Dezember 2025

Hochsommerliche Gedankensplitter zur heisslaufenden Prüfungsmaschinerie

So heiss wie das Wetter lief zum Semesterende in der ganzen Schweiz die Prüfungsmaschinerie. Nun wird in allen Kantonen das Prüfungskraftwerk heruntergefahren. Und man steht da als einzelner Lehrer, der da ebenfalls mit seinen SchülerInnen durch musste, und man realisiert, dass man immer noch einen hochroten Kopf hat von all dem Prüfen und Benoten, jedoch kaum Zeit hatte, darüber nachzudenken, ob das alles Sinn macht. Condorcet-Autor Georg Geiger hat jetzt Zeit und hat auch nachgedacht

Es gab mal Zeiten, da durfte und musste jeder Lehrer und jede Lehrerin ganz individuell seine bzw. ihre Maturprüfungen gestalten. Dann begann man in den Fachgruppen einen Teil der Prüfungen gemeinsam zu erarbeiten, ohne dass einem dadurch das Recht auf individuelle Themen und Fragestellungen genommen wurde. Doch schon bald ertönte von oben der Ruf nach Prüfungsgerechtigkeit: Nun mussten pro Schulstandort etwa die gleichen Deutsch-Maturthemen angeboten werden. Und es wunderte niemanden, dass auch das den Standardisierungsfans noch nicht genügte. Plötzlich wurde die Zweitkorrektur der Maturaufsätze durch die ExpertInnen kritisiert. Beispiele für faule und willkürliche ExpertInnen fanden sich schnell und wurden gerne süffisant zum Besten gegeben. Also schaffte man die Zweitkorrektur der Maturaufsätze durch die ExpertInnen ganz ab. Nun sprachen die Herren von oben plötzlich von der Aufwertung der Fachschaften. Will heissen: Kolleginnen und Kollegen mussten diese Zweitkorrektur übernehmen. Die ExpertInnen sind nur noch an den mündlichen Prüfungen anwesend, was viele von ihnen sehr bedauern. Und zu guter Letzt erhält man von der Schulleitung ein einseitiges Merkblatt, auf dem genau festgehalten ist, welche und wie viele Maturaufsätze auf Grund welcher Kriterien gegengelesen werden müssen und welche nicht.

Immer mehr Hierarchisierung

Die Qualitätskontrolle wird immer mehr hierarchisiert. In jedem Fach nehmen sog. RessortleiterInnen die von den Fachgruppen gemeinsam erarbeiteten Maturvorschläge (inklusive Erwartungshorizonte) entgegen und beurteilen sie vergleichend. Die Prüfungshoheit liegt zwar formal immer noch bei den einzelnen RektorInnen, aber die RessortleiterInnen greifen zunehmend in die Erarbeitung der Prüfungsthemen ein. Und der nächste Schritt kündigt sich bereits an: Steuerungswissen müsse gesammelt werden, wird von oben moniert. Zum Beispiel: Welche Textsorte wird am häufigsten gewählt? Welche literarischen Texte sind beliebt, welche unbeliebt? Das ergibt dann bald mal, ich fress einen Besen, eine Liste mit Prosatexten und Gedichten, die als Kanon vorgeschrieben werden. Vorstellbar ist mittlerweile auch, dass Literaturinterpretationen nicht mehr Gegenstand der schriftlichen Deutschmatur sein dürfen.

Stattdessen gibt es bereits klare Vorgaben, wie hoch die Anzahl Wörter pro Aufsatz zu sein hat. Ja, das lässt sich doch bestens prüfen: Hat der Kandidat die geforderten 1000 Wörter nun geliefert oder nicht?

Bei gewissen Maturprüfungen taucht die Pädagogische Hochschule als Autorschaft auf, welche das Erstellen der Prüfungsaufgaben für die überforderten LehrerInnen übernimmt. Bei der Berufsmatur werden nur noch pragmatische Textsorten als Prüfungsthemen angeboten, die Interpretation literarischer Texte ist immer weniger erwünscht. Stattdessen gibt es bereits klare Vorgaben, wie hoch die Anzahl Wörter pro Aufsatz zu sein hat. Ja, das lässt sich doch bestens prüfen: Hat der Kandidat die geforderten 1000 Wörter nun geliefert oder nicht?

Und weil man Schulen gerne wie Flughäfen standardisieren will, geht man nun auch noch den Ergänzungsfächern an die Gurgel. Die Ergänzungsfächer (EF) sind die einzigen Wahlmöglichkeiten für GymnasiastInnen, abgesehen von den Schwerpunktfächern. Die bei den SchülerInnen sehr beliebten EF sind im zweitletzten Jahr mit 2 Stunden und im Maturjahr mit 4 Stunden dotiert und sie werden in der Regel alternierend mit Englisch geprüft. Etliche Schulen prüfen die Ergänzungsfächer jedoch nicht mehr an der Matur, sondern nur noch Englisch. Und in Zukunft, so wird gefordert, sollen das alle Schulen so machen. Man halte sich vor Augen, was das heisst: Geprüft werden neben Mathematik und den Schwerpunktfächern nur noch Sprachfächer – ich glaube, mich laust ein Affe! Das kann’s doch nicht gewesen sein zum Abschluss eines gymnasialen Bildungsweges: nur noch Mathe und Sprachen, keine zwingende Literaturinterpretation mehr, nur noch pragmatische Textsorten (Leserbrief, Kommentar, Erörterung, Rede, Essay) mit quantitativen Vorgaben, und alles genauestens kontrolliert von RessortleiterInnen. Qualitätsmanagement vom Feinsten, jubeln die Herren da oben, und wir, die kleinen Schulmeisterlein, schütteln bloss noch den vom vielen Prüfen hochroten Kopf …

Georg Geiger

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Matthias Burchardt, Jg. 1966, hat in an der Universität zu Köln Germanistik, Philosophie, Pädagogik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studiert und mit dem Ersten Staatsexamen abgeschlossen. Promoviert hat er über die Anthropologie Eugen Finks. Als gefragter Referent und streitbarer Publizist vertritt er in Presse, Rundfunk und Fernsehen humorvoll und kontrovers Positionen zu PISA, Bologna und nicht zuletzt zum Digitalisierungshype. Befragt wird er von Michael Meyen, seit 2002 Professor für Allgemeine und Systematische Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Matthias Burchardt ist in unserem Blog kein Unbekannter. Er ist Mitbegründer und Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen, die mit unserem Blog verbunden ist und in Österreich, Deutschland und der Schweiz kritisch Stellung zu bildungspolitischen Fragen bezieht. Burchardt formuliert messerscharf und rhetorisch brillant den bildungspraktischen Nutzen einer quantifizierenden empirischen Bildungsforschung und den Verlust an Augenmaß in der Bldungspolitik.

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