27. Juli 2024

“Hier spüren die Lehrkräfte, wir werden gebraucht”

2. Teil des Interviews mit den beiden Schulleitern der Bieler Brennpunktschule, Ruth Wiederkehr und Kurt Neujahr. Hier geht es um die einschneidenden Änderungen, welche das Kollegium in den letzten drei Jahren für ihr Schulhaus beschlossen haben. Was sich auf den ersten Blick wie eine Agenda der Bildungsbürokratie liest, zeigt bei näherer Betrachtung, was möglich ist, wenn die Änderungen von der LehrerInnenschaft ausgehen und man der Weisheit der Praxis vertraut. Das Interview führte Alain Pichard

Foto: fabü

Condorcet

Der ganz grosse Schritt passierte im Jahr 2015, da wurde eure Schule in vielen Bereichen umgemodelt (siehe Beinwiler Retraite). Wie war so etwas möglich?

Neujahr

Wir hatten uns über all die Jahre zu einem gefestigten Kollegium entwickelt und waren daher reif für diesen Schritt!

Wiederkehr

Wir luden die Klassenlehrer in eine Retraite ein, zusammen mit Fachlehrpersonen, die bei uns eine tragende Rolle spielten. Dort machten wir einerseits eine schonungslose Analyse der bestehenden Situation und andererseits forderten wir die Kolleginnen und Kollegen auch auf, ihre Traumschule zu entwickeln. Im Vorfeld besuchten wir auch einige andere Schulen.

Condorcet

Das geschah ohne Mithilfe der PH oder eines Coaches?

Neujahr

Die haben wir ganz aussen vorgelassen. Das haben wir alles selbst in die Hand genommen.

Condorcet

Der markanteste Eingriff war die Aufhebung der Sekundar- und Realklassen. Ihr habt das Modell 3b (siehe Kasten) eingeführt. Und das in einer Stadt, die das Modell 3a (Real-und Sekndarklassen, mit Niveaukursen) für alle Oberstufen kennt!

Wiederkehr

Das segregative Modell war nicht mehr zu rechtfertigen. Die Realklassen wurden immer mehr zu den ehemaligen Kleinklassen, mit fast 100%-igem Anteil fremdsprachiger SchülerInnen.

Condorcet

Den Preis für die teilweise Aufhebung der Selektion mussten allerdings die vorher abgeschirmten Sekundarschüler bezahlen, die nun in Mischklassen unterrichtet wurden. Gab das keine Probleme mit den Eltern?

Wiederkehr

Das war natürlich auch unsere grosse Befürchtung. Wir luden die Eltern ein und erklärten ihnen die Situation. Wir verschwiegen ihnen nicht, dass es von allen Seiten eine Anpassungsleistung brauche. Wir wiesen aber auch auf die Chancen hin.

Neujahr

Schliesslich gab es nur ein einziges Umteilungsgesuch! Und die ersten Erfahrungen zeigen es: Es kommen genau so viele Schülerinnen ins Gymnasium und genau so viele bleiben auch drin. Ausserdem begannen wir erst nur mit zwei Klassen. Die beiden anderen Parallelklasse wurden wie bis anhin unterrichtet. Und nach einem Jahr wurde evaluiert. Und da waren dann alle dafür, dass sämtliche Klassen in Mischklassen unterrichtet werden.

Wiederkehr

Ein grosser Pluspunkt war natürlich, dass wir schon früh die Spezialstunden in einen Teamteaching-Unterricht haben einfliessen lassen.

Condorcet

Und das war ohne weiteres möglich?

Neujahr

Wir haben die Behörden  immer informiert. Manchmal ging es nur über den Versuchsstatus. Aber die Wirkung war einfach immens. Ein guter Teamteaching-Unterricht kann sehr vieles auffangen. Heute ist unsere Praxis längst legitimiert und könnte auch in anderen Schulen umgesetzt werden.

Condorcet

Aber in einer Stadt, welche ein Oberstufenmodell gewählt hat, einfach ein anderes integrativeres zu installieren, ist in einer Zeit, in der alles vereinheitlicht werden soll, schon speziell.

Neujahr

Ich glaube, dass die Behörden, die lokale Schuldirektion und das Schulamt von unserem Kurs überzeugt sind und uns deshalb unterstützen. Sie wissen, dass wir auf die besonderen Bedingungen unseres Quartiers reagieren, teilweise auch reagieren müssen und keine Profilierung suchen.

Wiederkehr

Und es herrscht ein Vertrauen zwischen uns und den Behörden. Sie sehen, welche Arbeit wir hier leisten und wie die Resultate sind.

Condorcet

Kommen wir noch einmal zur Personalpolitik. Wer in eurer Schule arbeitet, wer einmal hier eine Stellvertretung gemacht hat, spricht zwar von herausfordernden Schulsituationen, schwärmt aber vom Geist, der in diesem Kollegium herrscht. Ihr scheint eine verschworene Gemeinschaft zu sein, bestehend aus markanten Lehrerpersönlichkeiten. Wie habt ihr das geschafft, mit einer Schule, die nicht immer den besten Ruf hatte, in einer Zeit, in der die Bewerbungen auf Stellenausschreibungen nicht zu Dutzenden hineinsprudeln?

Neujahr

Wir haben früher als alle anderen Schulen unsere Lehrer selbst gewählt, das war sicher ein ganz wichtiger Punkt. Und wir haben dabei genau darauf geachtet, dass diese Leute zu uns passen…

Wiederkehr

… und dass sie Ideen hatten. Dass sie eine Vorstellung von Unterricht hatten. Denn wir boten ihnen ja auch etwas. Grosse pädagogische Freiheiten! Wir unterstützten immer pädagogische Initiativen, die von unseren Lehrkräften kamen. Das führt auch zu einer grossen Arbeitszufriedenheit. Ausserdem haben wir den jungen Lehrkräften immer sehr viel Unterstützung zukommen lassen, was natürlich bei unseren Verhältnissen besonders nötig war. Und ausserdem haben wir auch sehr früh eine attraktive und aktualisierte Homepage aufgeschaltet.

Condorcet

Habt ihr aber immer die richtigen gefunden? Gab es nicht Probleme bei der Auswahl.

Wiederkehr

Natürlich gab es die. Wir haben manchmal nur drei Bewerbungen erhalten und da ist es oft vorgekommen, dass uns keine überzeugte.

Condorcet

Und, wie reagiertet ihr da?

Neujahr

Wir haben noch einmal ausgeschrieben und gewartet.

Condorcet

Und? Konntet ihr dabei immer gut schlafen?

Wiederkehr

Am Anfang nicht. Aber mit der Zeit wird man gelassener!

Neujahr

Wir versuchen, nie eine Stelle zu besetzen, nur damit sie besetzt ist. Es kam sogar einmal vor, dass wir erst am letzten Freitag der Sommerferien, also drei Tage vor Schulbeginn, eine Stelle besetzten. Und ab und zu haben wir uns mit Stellvertretungen über die Runden gebracht. Früher hatten wir immer einen Plan B. Heute wissen wir, dass das Alphabet noch mehr Buchstaben hat.

Condorcet

Ihr seid heute eine 2-er Schulleitung. Eine gute Lösung?

Neujahr und Wiederkehr (gleichzeitig)

Ja, auf jeden Fall

Neujahr

Wir kennen uns mittlerweile sehr gut. Es braucht nicht ständig Absprachen…

Wiederkehr

Und es ist auch eine Frage der Entlastung. Ich würde nie in einer Einerschulleitung arbeiten wollen. Man kann sich vielmehr in die Gebiete

Das Schulleitungsbüro ist immer offen.

einarbeiten.

Schulleiter sollten auch unterrichten

Neujahr

Und ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen, der mir sehr wichtig ist, weil er zurzeit auch diskutiert wird. Meiner Meinung nach sollte ein Schulleiter auch noch unterrichten. Ich finde das ganz wichtig. Schule leiten ist kein Verwaltungsjob.

Condorcet

Also die Zürcher Regelung, wonach Leute auch in Schulleitungen gewählt werden können, die keine Lehrbefähigung haben, lehnt ihr ab?

Neujahr

Für unsere Situation ganz klar, ja.

 

Wiederkehr

Und wir haben ja auch eine pädagogische Aufgabe. Und die besteht meiner Meinung nach auch darin zu sehen, wenn etwas nicht gut läuft. Und das kann man wohl nur, wenn man selbst unterrichtet.

Schluss des 2. Teils des Interviews. Der 3. Teil folgt in einer Woche!

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