Liebe Condorcet-Leserinnen und -Leser,
Heute geht es um ein Thema mit Zündstoff und Explosionsgefahr, fast wie im Nahost-Konflikt. Vorsicht! Vordergründig geht es um Franz Weinert, den früheren Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, inzwischen allgemein bekannt durch seine Kompetenz-Definition, die offenbar besser ist als das, was man später daraus gemacht hat.
Ebenso geht es aber auch um gewisse Grundfesten politischer Überzeugungen gerade im pädagogischen Bereich. Mir fiel vor einiger Zeit der folgende Artikel von Weinert in die Hände, der als Festvortrag 1999 vor der Max-Planck-Gesellschaft gehalten wurde:
https://www.pedocs.de/volltexte/2014/9029/pdf/Karg_Hefte_4_Weinert_Begabung_und_Lernen.pdf
Darin wagt Weinert Thesen, für die heutzutage ein Normalbürger auf politischen Versammlungen progressiver Parteien wohl Schwierigkeiten bekäme. Er spricht von den Ursachen von Leistungs-unterschieden zwischen verschiedenen Individuen. Einerseits werden diese Leistungsunterschiede ja ständig betont durch Tests wie PISA & Co, andererseits gibt es das neue Credo, in der “inklusiven Bildung” dürfe es eigentlich gar keine Disparitäten mehr geben, denn sie seien vorwiegend auf soziale Ursachen zurückzuführen und folglich zu beseitigen.
Zu Beginn stellt er fest: “‘Man ist nicht begabt, sondern man wird begabt’, wurde zur hoffnungsvollen Maxime, später zur verzweifelten Hoffnung ungezählter Lehrer; die Egalisierung der geistigen Entwicklung unterschiedlicher Menschen durch kompensatorische Bildung wurde zum fundamentalen Ziel vieler Politiker.”
Das heißt natürlich nicht, dass kompensatorische Maßnahmen keinen Sinn ergeben. Gewiss muss denjenigen geholfen werden, die eben schwache Lerner sind. Aber im Gegensatz zu vielen anderen weist Weinert auch auf den Faktor “Zeit” hin, den man nicht einfach vernachlässigen sollte: “Wer weniger kann und weniger weiß als andere, muss eben mehr Zeit für zusätzliche, nachholende und ergänzende Lernschritte investieren, um jene Aufgaben meistern zu können, die bessere Schüler bereits früher beherrschen. […] Ein statistischer Witzbold hatte deshalb schon früh errechnet, dass man die Schulzeit einfach auf einhundertzwanzig Jahre verlängern müsste, damit jeder und jede Heranwachsende einen universitären Abschluss erreicht.”
Zur Präzisierung schreibt Weinert: “Auch unter optimalen schulischen Bedingungen gilt: Hält man bei unterschiedlich begabten Schülern die Lernzeit konstant, so ergeben sich große Leistungsunterschiede; will man die gleichen anspruchsvollen Schulleistungen erreichen, so sind – wenn es überhaupt gelingt – extreme Differenzen der Lernzeit zu erwarten.”
Die Unterschiede der Lerngeschwindigkeiten sind vom ersten Schuljahr an (oder noch davor) bis hin zur Universität erheblich, und sie scheinen über längere Zeiträume bei Individuen konstant zu bleiben.
Eigentlich müsste das jeder schon gemerkt haben, der im Bildungsbereich tätig ist: Die Unterschiede der Lerngeschwindigkeiten sind vom ersten Schuljahr an (oder noch davor) bis hin zur Universität erheblich, und sie scheinen über längere Zeiträume bei Individuen konstant zu bleiben.
Wie Weinert berichtet, entwickelte sich nach Veröffentlichung eines Buches von Herrnstein und Murray in den USA ein regelrechter “Krieg” zwischen den Anhängern unterschiedlicher Theorien beim Thema “kompensatorische schulische Maßnahmen zur Chancengleichheit”. Dieser Krieg habe “zur Bildung sozialanthropologischer Profilierungsneurosen” beigetragen.
Theoretische Voreingenommenheit
“Eine Durchsicht der wissenschaftlichen wie der populärwissenschaftlichen Literatur zeigt aber, dass sich die radikalen Standpunkte in vielfältigen Schattierungen als mehr oder minder einseitige theoretische Voreingenommenheiten in vielen humanbiologischen und pädagogisch-psychologischen Arbeiten wiederfinden.”
Wir kennen das ja auch bei uns aus jüngster Zeit. Erst werden in großen Tests wie PISA Leistungsunterschiede gemessen, und dann fragt man, woher die wohl kommen und ob das so hingenommen werden kann. Die einen (heutzutage vermutlich eine Mehrheitsfraktion) propagieren dann die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit durch kompensatorische Maßnahmen und suchen die Schuld für alle Unterschiede immer in der Gesellschaft, die anderen beharren auf individuelle Leistungsunterschiede, die man halt zum Teil so nehmen müsse, wie sie sich darstellen. Diese verbissene Diskussion findet sich praktisch überall, wo schulische Leistungsunterschiede überhaupt thematisiert werden. Weinert stellt dazu fest:
Daraus ergibt sich eine erhebliche Ideologieanfälligkeit der ganzen Forschungsrichtung.
“Das Fatale am gegenwärtigen Erkenntnisstand ist, dass sowohl erb- als auch umwelttheoretische Deutungen der individuellen Entwicklung möglich sind. Daraus ergibt sich eine erhebliche Ideologieanfälligkeit der ganzen Forschungsrichtung.”
Pädagogische Egalisierungsillusion
Das sagt jemand, der noch vor 20 Jahren als “Psychologie-Papst” gelten konnte. Das Wort “Ideologieanfälligkeit” in Bezug auf eine Forschungsrichtung (!) muss man sich dabei auf der Zunge zergehen lassen, ebenso wie die o.g. “Profiliserungsneurosen”. Bei Weinert fällt sogar das Wort “pädagogische Egalisierungsillusion”. Manche Forscher werden das gar nicht gerne hören. Spötter könnten zudem auf die Idee kommen, das zerklüftete föderale Schulsystem in Deutschland würde diese ganze Auseinandersetzung praktisch widerspiegeln, auch durch parteipolitisch motivierte Schulreformen im Rhythmus von Landtagswahlen. Ein Thema für Satiriker und Karikaturisten.
Bei PISA 2015 war es beispielsweise so (laut Tabelle 8.2 im Langbericht), dass in der Rubrik “soziale Disparitäten” in Deutschland 15,8 % der Leistungsunterschiede durch die soziale Herkunft erklärt werden konnten, in der Schweiz 15,6 % und im OECD-Durchschnitt 12,9 %. Das bedeutet aber eben auch, dass 84 % bzw. 87 % der Unterschiede andere Ursachen haben müssen, über die gleichwohl nie gesprochen wird. Die scheinen völlig uninteressant zu sein, obwohl sie natürlich weit überwiegen. Dass die Differenz von 3 Prozentpunkten hier geradezu unerträglich sein soll, scheint eine Erfindung interessierter Kreise zu sein. Es sollte wohl andere, wichtigere Ungerechtigkeiten in diesem Land geben.
Am Schluss stellt Weinert klar, “dass etwa 50 Prozent der geistigen Unterschiede zwischen Menschen genetisch determiniert sind, ungefähr ein Viertel durch die kollektive Umwelt und ein weiteres Viertel durch die individuelle, zum Teil selbst geschaffene Umwelt erklärbar sind.”
Dieses Statement sollte man vielleicht vergrößern, vervielfältigen, einrahmen und dann in unzähligen Exemplaren in den Schreibstuben der Schulministerien, Schulverwaltungen, Landesinstituten für Schulentwicklung, pädagogischen und didaktischen Fachbereichen und Forschungsinstituten, in den GEW-Niederlassugen und auch in den Parteizentralen so aushängen, dass die in den Büros arbeitenden Leute den Text gar nicht ignorieren können.
Auch Elsbeth Stern schreibt in ihrem Buch “Intelligenz” (mit A. Neubauer), Intelligenz sei zur Hälfte genetisch bedingt. Egal wie man dies nun interpretiert und wie das genau vor sich geht, der Anteil der Gene kann jedenfalls nicht vernachlässigt werden. Ebenso kann man auch den Einfluss der Umwelt (in den zwei Versionen “kollektiv” und “individuell”) nicht vernachlässigen, alles korreliert dann auch noch miteinander: Die individuell gewählte Umwelt hängt natürlich auch von den anderen Faktoren ab.
Wikipedia schreibt: “Die Korrelationen zwischen Intelligenz und Schulerfolg gehören zu den höchsten in der psychologischen Diagnostik.” Dazu ist allerdings in den PISA-Berichten nichts zu finden, das Wort “Intelligenz” scheint dort nicht vorzukommen. Für viel wichtiger scheint man Korrelationen zwischen Schul- bzw. Testerfolg und sozialer bzw. ethnischer Herkunft zu halten, von denen man implizit und aus einer rein theoretischen Sicht zu glauben scheint, dass es sie eigentlich gar nicht geben dürfte.
Bei PISA 2015 liest sich das dann so: “Auch wenn die Abstände im Kompetenzniveau zwischen sozialen Schichten in den letzten Jahren kleiner geworden sind, bleibt das Bemühen um eine Verringerung der Disparitäten beim Kompetenzerwerb und bei der Bildungsbeteiligung nach wie vor eine der vorrangigen bildungspolitischen Aufgaben.”
Das ist natürlich eine wahre Sisyphus-Aufgabe, denn die PISA-Macher und Schulpolitiker werden nie zufrieden sein, solange noch irgendwelche Disparitäten vorhanden sind. Eine Bagatellgrenze, ab der solche Disparitäten als tolerabel gelten könnten, wird nie diskutiert, obwohl PISA sich selbst die Kompetenz zutraut, “bildungspolitische Aufgaben” nach offenbar absoluten Maßstäben zu definieren. Andererseits ist PISA natürlich nur eine reine Wissenschaft und hat mit Politik oder Interessen NICHTS zu tun, so wird es dem einfachen Volke jedenfalls erzählt.
Und wieder sind es 3 Prozentpunkte, über die man sich aufregt.
Und dann hat Herr Schleicher in Interviews immer noch Salz in diese vermeintliche Wunde geschüttet: Deutschland stand wiederholt am Pranger wegen des angeblich zu hohen Zusammenhangs zwischen PISA-Testerfolg und sozialer Herkunft. Allerdings wurde dies für die Schweiz auch gesagt.
Da wird genüsslich vorgerechnet, dass es Unterschiede zwischen den Kantonen gibt, die es nach Meinung der Autoren offenbar nicht geben dürfte. Und wieder sind es 3 Prozentpunkte, über die man sich aufregt: In zwei Kantonen (Aargau und Waadt) erklären sich 14 % der Unterschiede bei den Leistungen in Mathematik durch den sozialen Status gegenüber nur 11 % im schweizerischen Durchschnitt. Ein riesiger Skandal, der unmöglich hingenommen werden kann! Einfach schrecklich, das liegt an einer “schulischen Segregation”! Dafür lohnt es sich gewiss, das gesamte Schulsystem von Grund auf umzukrempeln mit dem Risiko, die chaotischen deutschen Verhältnisse zu bekommen. Das nimmt man dafür bestimmt gerne in Kauf.
Loriot lässt grüßen: “Das Bild hängt schief.”
In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag
Wolfgang Kühnel
Im NZZ am Sonntag vom 6.5.2018: “Wie klug machen uns die Gene” konnte man folgendes von Elsbeth Stern zu Intelligenz und Genen lesen, Zitat:
«Ich halte viel von Robert Plomin», sagt Elsbeth Stern, Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich, «aber wie
andere reine Intelligenzforscher hat auch er eine sehr naive Vorstellung von Schule.» Für Plomin sei Intelligenz gewissermassen ein Selbstläufer. «Intelligenz ist aber nicht in den Genen festgeschrieben», sagt Stern.
«Es braucht eine Umwelt, damit sie sich entfalten kann. Das intelligenteste Kind wird Differenzialrechnungen nicht verstehen, wenn es nicht in der entsprechenden Umwelt aufwächst.»
Dazu ein Zitat von Franz Weinert (2001, S. 85): “Unabhängig von den unterschiedlichen Fähigkeiten und Talenten der Schüler muss alles gelernt werden, was später gewusst und gekonnt wird. Lernen ist der mächtigste Mechanismus der kognitiven Entwicklung. Das gilt uneingeschränkt sowohl für hochbegabte Kinder als auch für schwächer begabte Schüler.“