22. November 2024

Eine Chemotherapie für die Schule?

Vor exakt 6 Jahren schrieb Mathias Brodkorb, Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern und SPD-Mitglied, einen Artikel zu Richard Davids Prechts Buch “Anna, die Schule und der liebe Gott”. Er erschien in der Bildungszeitschrift “Profil”. Die Condorcet-Redaktion ist der Meinung, dass dieser Text nichts an seiner Aktualität eingebüsst hat. Deswegen veröffentlicht sie ihn hier noch einmal für die Condorcet-Leserschaft.

Bild: api bearbeitet

Precht hat derzeit ohne Zweifel einen richtigen Lauf: Nach seinen ersten Erfolgsbüchern folgten in wenigen Jahren drei weitere über Liebe, Egoismus und Allerwelts-Ontologie. Seit September 2012 ist Precht mit seiner Sendung “Precht” auch noch ganz offiziell Deutschlands öffentlich-rechtlicher Fernsehphilosoph. Beste mediale Ausgangsbedingungen also, um den nächsten publizistischen Knaller zu platzieren. Irgendwie kann man das ja auch verstehen: Ruhm ist schließlich vergänglich. Da will die kurze Zeit möglichst effektiv genutzt sein. Also folgte im April 2013 mit “Anna, die Schule und der liebe Gott” Prechts sechster ‘Knüller’.

Wer wissen will, was Precht über die Schule denkt, muss das Buch gar nicht lesen. Ein Blick auf die Titelgrafik seines Buches genügt!

Bild: randomhouse

Das Dumme daran – wenn ein Autor sein Publikum in kurzen Zyklen mit umfangreichen Texten überschüttet – ist nur, dass zur Aufrechterhaltung des Wahrnehmungspegels eine Eskalation der in den Büchern vertretenen Thesen unvermeidbar ist. So sind sie eben, die Regeln der Mediendemokratie. Für Precht ist das aber augenscheinlich kein Problem. Wer wissen will, was er über Deutschlands öffentliche Schulen denkt, muss das Buch dabei nicht einmal lesen. Es reicht völlig hin, einen Blick auf die Titelgrafik zu werfen: Gezeigt wird ein verschüchtertes Mädchen an einer Schultafel, das – offenbar als Strafaufgabe – immer wieder den Satz “Ich darf nicht denken” notieren muss. Das ist es also, was unsere Lehrerlein den armen Schülerlein tagtäglich eintrichtern!? Da ist wirklich Fremdschämen angesagt. Entweder dafür, dass Precht wirklich so einfältig denkt, oder dafür, dass er dem Verlag nicht in den Arm gefallen ist.

Den Anlass für das Buch hat dabei offenbar Prechts neunjähriger Sohn Oskar geliefert. Der sei nämlich “ein neugieriges, ungemein wissbegieriges Kind” (104), habe aber eben überhaupt keine Lust auf Schule:

“Was ich gerne hätte, wäre ein Kind, das voll Freude in eine ganz andere Schule geht. Eine Schule, die ein Lern-Abenteuer ist, die die Neugier entzündet, die Potenziale entfaltet und den Sinn dafür schärft, wie unendlich spannend die Welt ist. Doch wenn Oskar an die Schule denkt, auf die er geht, denkt er an Langeweile und an mühseliges Stillsitzen.” (105)

Precht argumentiert nicht wie ein Philosoph sondern wie ein betroffener Vater

Nun muss man gar nicht darüber spekulieren, ob Oskar nicht vielleicht doch ganz gute Lehrer hat und der Herr Precht etwas übertreibt. Entscheidender scheint vielmehr der Hinweis, dass Precht mit seiner autobiographischen Erfahrung alles andere als ein Einzelfall ist. Zahlreiche Eltern werden zu Bildungsexperten, sobald ihre eigenen Kinder zur Schule kommen. Allerdings kommen die wenigsten deshalb gleich auf die Idee, ein ganzes Buch darüber zu schreiben. Überraschend ist dieser Schritt vor allem deshalb, weil man im ersten oder zweiten Semester an jeder deutschen Universität entweder in einem Aristoteles- oder einem Popper-Seminar lernen kann, dass Induktion kein logisch gültiges Schlussverfahren ist. So mag zwar der kleine Oskar auf eine miserable öffentliche Schule gehen, aber daraus folgt mitnichten, dass alle öffentliche Schulen miserabel sind. Aber für eben diese Kleinigkeit, nicht von Einzelfällen vorschnell auf die Allgemeinheit zu schliessen – in politischen Kontexten nennt man das ‘Vorurteile’ und noch viel Schlimmeres –, hat Herr Precht entweder keine Zeit oder keinen Willen, denn dass er als Philosoph um diese logische Selbstverständlichkeit nicht weiss, wird man nicht ernsthaft glauben können.

Die differenzierten und sachlichen Urteile sind Prechts Sache also nicht.

Die differenzierten und sachlichen Urteile sind Prechts Sache also nicht. Beispiel gefällig? Das Schulsystem – und darunter versteht der Autor in aller Regel natürlich das öffentliche – sei einem “krebskranken Patienten” vergleichbar und bedürfe dringend einer “umfangreichen Therapie” (112). In seiner überschiessenden Ausdruckslust geht Precht dabei offenbar jede Sensibilität für die Wirkung seiner Bilder verloren. Nehmen wir das Ganze also doch einfach mal auseinander: Ein krebskranker Patient ist in aller Regel dem mehr oder weniger zeitnahen Tode geweiht. Ist das tatsächlich die Lage, in der sich Deutschlands Bildungssystem offenbar bereits seit Jahren befindet? Mit den Leistungsdaten einer weltweit einigermassen wettbewerbsfähigen Ökonomie wie der deutschen passt das jedenfalls nur schwer zusammen.

Rettung verspricht dem Krebskranken nur die Chemotherapie, wenn wir Mistelzweigexperimente der Einfachheit wegen einmal außen vor lassen. Und das ist offenbar die Rolle, die Precht sich selbst zugedacht hat: Er ist der große Oberarzt in einer schulonkologischen Abteilung und für eine flächendeckende schulische Chemotherapie zuständig. Seine Chemotherapie heißt “Bildungsrevolution” und das Karzinom “Bildungskatastrophe”. Dabei sei allerdings an drei Kleinigkeiten erinnert: 1.) Eine Chemotherapie ist eine ziemlich giftige Angelegenheit. Folglich geht es den Patienten 2.) bei einer Chemotherapie auch ziemlich schlecht – nicht selten schlechter als ohne Chemotherapie. 3.) Die Überlebensrate ist je nach Karzinomart und individueller Krankengeschichte sehr unterschiedlich – und je nach Kompetenz des Arztes übrigens! Mit anderen Worten: Viele Patienten überleben den Krebs auch trotz Chemotherapie nicht und kaufen sich zu ihrem Tod auch noch das elende Sterben ein. Im Ernst: Geht es eigentlich auch eine Nummer kleiner?

Was ein wirklich Krebskranker bei der Lektüre derart gedankenlos hingeschriebener Vergleiche denken mag, ist dabei außerdem eine Frage ganz eigener moralischer Dimension.

Kolossale Widersprüche

Aber Precht ist nicht nur der Mann der lauten Töne, sondern auch der Widersprüche. Derer gibt es so zahlreiche, dass es nötig ist, sich auf die gröbsten zu konzentrieren:

Ob “Bildungskatastrophe” oder “nationaler Notstand” (314) – eines ist klar: Unsere Schulen und damit unsere gesamte Gesellschaft sind am Ende. Woher Precht das weiß?

Einmal mit PISA, einmal gegen PISA, wie es gerade so passt

Nun, er hat aufmerksam die PISA-Studien der vergangenen Jahre gelesen: “Nach Erkenntnis von OECD-Studien hat Deutschland inzwischen eines der schlechtesten Schul- und Bildungssysteme unter allen Industrienationen der Welt.” (15) Immer wieder wird sich Precht im Folgenden auf die PISA-Studien berufen, um sein Plädoyer für die Gemeinschaftsschule zu begründen, wie sie die “Sieger wie Finnland oder Schweden” (71) oder “Schweden, Finnland oder Dänemark” (301) aufwiesen. Was Jürgen Kaube Precht jüngst in der FAZ vorgeworfen hat, nämlich “intellektuelle Schlampigkeit” (Jürgen Kaube: Oh ihr Rennpferde, fresst einfach mehr Phrasenhafer!, in: FAZ vom 28. April 2013), lässt sich dabei auch nahtlos auf Prechts Umgang mit den PISA-Daten übertragen. Dass Finnland bei den PISA-Studien stets gut abschneidet, ist allseits bekannt (Anmerkung der Redaktion: Finnland ist inzwischen in den PISA-Ranglisten stark abgestiegen). Daraus lässt sich lediglich schlussfolgern, dass Gemeinschaftsschulen hohen Leistungen nicht entgegenstehen müssen, aber eben keinesfalls, dass Gemeinschaftsschulen eine notwendige Bedingungen für eben diese sind. Das wird allein schon deutlich, wenn man einen Blick auf die anderen skandinavischen Staaten wirft: Seit wann nämlich gehören zum Beispiel Schweden und Dänemark zu den PISA-Hochleistern? Im Bereich Lesekompetenz erreicht Deutschland bei ‘PISA 2009’ 497 Punkte, Schweden ebenfalls und Dänemark 495 Punkte. In Mathematik sind es für Deutschland 513 Punkte, für Schweden nur 494 Punkte und Dänemark 503 Punkte. Bei den Naturwissenschaften erreicht Deutschland 520 Punkte, Schweden 495 Punkte und Dänemark 499 Punkte. Mit anderen Worten: Precht hat sich offenbar nicht einmal die Mühe gemacht zu überprüfen, ob die empirischen Fakten seine steilen Thesen überhaupt stützen. Tatsächlich nämlich versucht er der deutschen Öffentlichkeit mitunter Schulsysteme als Vorbilder zu verkaufen, deren Leistungsparameter in Wahrheit schlechter sind als die deutschen.

Denn nur wenige Seiten, nachdem Precht sich unter Bezugnahme auf die PISA- Studien in Rage geredet und so seine Forderung nach einer umfassenden Bildungsrevolution begründet hat, kritisiert er eben jene PISA-Studien im Abschnitt “Die falsch vermessene Schule” aufgrund ihrer empirischen Haltlosigkeit in Grund und Boden

Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Denn nur wenige Seiten, nachdem Precht sich unter Bezugnahme auf die PISA- Studien in Rage geredet und so seine Forderung nach einer umfassenden Bildungsrevolution begründet hat, kritisiert er eben jene PISA-Studien im Abschnitt “Die falsch vermessene Schule” aufgrund ihrer empirischen Haltlosigkeit in Grund und Boden: Die Studien würden den Menschen nicht umfassend abbilden, sondern eben nur seine scheinbar auf dem Markt verwertbaren Kompetenzen, überhaupt würden multiple-choice-Testungen den Kern von Bildung verfehlen und die PISA-Studien seien deshalb “schwerer szientistischer Aberglaube” (93).

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Für diese Thesen gibt es in der Tat gute Argumente und es wäre ohne Zweifel lohnend, hierüber bildungspolitische Debatten zu führen. Aber zur Erinnerung: Zwischen PISA-Lob und vernichtender PISA-Kritik liegen bei Precht nur knapp zehn Seiten! Selten hat sich jemand mit so lautem Getöse mit einer Hochleistungskettensäge den Ast selbst abgesägt, auf dem er sitzt. Da Prechts gesamte Argumentation für eine “Bildungsrevolution” ohne den Nachweis darüber, dass wir uns in einer nahezu hoffnungslosen und fatalen Lage befinden, völlig in sich zusammen purzelt, gibt es letztlich keinen schärferen Kritiker Prechts als Precht selbst.

Aber zur Erinnerung: Zwischen PISA-Lob und vernichtender PISA-Kritik liegen bei Precht nur knapp zehn Seiten! Selten hat sich jemand mit so lautem Getöse mit einer Hochleistungskettensäge den Ast selbst abgesägt, auf dem er sitzt.

Bildung contra Ausbildung

Auf den ersten Seiten des Buches ist Precht ganz in seinem Element. Wie er da locker, elegant und in kleinen Häppchen einen Streifzug durch die jüngere deutsche Geistesgeschichte präsentiert und uns dabei mit Kant, Herder und Hegel bekannt, wenn auch nicht vertraut macht, bis er schließlich etwas länger bei Humboldt verweilt: Das ist echte Salonphilosophie. Nirgendwo tiefgründig, nirgendwo hintergründig, aber doch irgendwie gebildet. Und darauf wird zurückzukommen sein.

Alexander von Humboldt statue outside Humboldt University Berlin, Germany

Bei Humboldt wird es offenbar selbst Precht warm ums Herz. Humboldt sei es noch um echte Bildung, um die “Allgemeinbildung als wahre Menschenbildung” (82) gegangen, nicht um bloße Ausbildung, und dies sei auch sein zu erhaltendes “Erbe” (40). Ohne die durch Allgemeinbildung hervorgerufene Persönlichkeitsentwicklung sei eine entwickelte Demokratie außerdem nicht zu haben. Bei der echten Bildung, die Precht meint, geht es allerdings nicht um die “Abrufbarkeit von Wissen auf Zeit” (46), sondern um das “Können” (47). Er geht damit en passant jener Kompetenzorientierung der OECD auf den Leim, die er gleich auf der ersten Seite seines Buches noch kritisiert hatte (9). Von all der Philanthropie bleibt auf den folgenden Seiten des Buches nicht viel übrig.

Precht geht der neumodischen Kompetenzorientierung auf den Leim

Galt ein solides Allgemeinwissen früher einmal als Grundlage von Freiheit und Selbstbestimmung, weil nur mit Hilfe dieses Allgemeinwissens eine Fülle von Lebensmöglichkeiten offen stand, unterwirft Precht die Bildung in seiner Weltsicht konsequent einem pragmatischen Zugriff und damit – wie die Ausbildung – unmittelbarer Verzweckung, obwohl er genau das Gegenteil behauptet: “Demnach wäre Bildung heute nicht mehr das Konzept, einen jeden Gymnasiasten in die Lage zu versetzen, aufgrund eines bewältigten Fachwissens alles studieren zu können. Es wäre vor allem dies: sich in der Welt und mit sich selbstzurechtzufinden. […] Viel zwingender als früher steht es im Dienst des Zurechtfindens.” (174) Dass vor diesem Hintergrund “Algebra und Analysis” (244) als ebenso überflüssig erscheinen wie korrekte Rechtschreibung (261) oder “altgriechische Grammatik” (264), da es doch völlig hinreichend sei, die wichtigsten altgriechischen Wörter und Silben zu kennen, um sich ein paar Fremdwörter zu erschließen, ist nicht weiter erstaunlich, aber dennoch so ziemlich das Gegenteil von einer “Allgemeinbildung als wahrer Menschenbildung”. Vor diesem Hintergrund ist es nur noch performativ putzig, dass ausgerechnet der Salonphilosoph Precht gegen traditionelle bildungsbürgerliche Überzeugungen argumentiert – eben jene kulturellen Dispositionen, ohne die er weder seine Bücher schreiben noch in seinen Fernsehsendungen eben jene Effekte auf Seiten des Publikums erzielen könnte, die seinen Status als einen weisen und belesenen Mann begründen. In Wahrheit nämlich lebt Precht selbst am meisten von der klassischen bildungsbürgerlichen Attitüde, die er für alle anderen für überflüssig zu erklären nicht müde wird. Ohne Bildungsbürgertum also hätte es Precht wohl nie so weit gebracht.

Abschaffung der Noten

Bild:api

An der Vergabe von Noten lässt Precht kein gutes Haar. Für ihn verbirgt sich dahinter ein System der Schülerunterdrückung und “Diktatur” (134). Die Herleitung dieser Argumentation erfolgt dabei unter Bezugnahme auf eine pädagogisch zunächst ganz plausible Position, wofür er sich auch der Schriften des griechischen Philosophen Aristoteles bedient (81f): Menschen lernen nur dann effektiv Neues, wenn sie mit Begeisterung bei der Sache sind. Was sich neurowissenschaftlich aufwendig belegen lässt, ist auch auf der Ebene des gesunden Menschenverstandes höchst plausibel. Fühlt sich ein Schüler von den Darbietungen der Lehrkraft aus welchem Grund auch immer gelangweilt, wird mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht dasselbe Lernergebnis eintreten, als wenn der Betreffende mit Lust und Freude bei der Sache ist.

Precht verweist in diesem Zusammenhang nun auf die Tatsache, dass Menschen intrinsisch, also durch sich selbst zum Beispiel durch pure Lernfreude, oder extrinsisch, also durch Anreize von außen, motiviert werden können. Was zu einem besseren Ergebnis führt, ist dabei für ihn völlig klar:

“Wer für sein Tun oder Lernen einen extrinsischen Anreiz bekommt, verliert oft und schnell seine intrinsische Motivation. Die Ursprungsmotivation wird durch die Belohnung korrumpiert und somit zerstört.” (213) Die Schlussfolgerung scheint auf der Hand zu liegen, die Noten müssen als extrinsische Motivation entfallen, um die Lernfreude bei den Schülern zu stärken: “Ein Schulsystem, das seine Schüler mit der Aussicht auf Zensuren belohnt (oder bestraft), entwertet die Lust am Lernen zu einem Mittel zum Zweck.” (ebd.) Statt der Zensuren plädiert Precht für eine wertschätzende Anerkennungskultur der Lehrkräfte, zum Beispiel durch Lob, auf der Grundlage individueller Leistungsnormen und -beurteilungen: “[…] verbale Belohnungen, also Lob und Zuspruch, verderben normalerweise nicht die Eigenmotivation, sondern werden zumeist als eine Anerkennung empfunden, welche unsere Autonomie stärkt.” (214)

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Manchmal kann es in der Tat nützlich sein, sich bei großen Denkern der Vergangenheit der Plausibilität seiner eigenen Position zu versichern. Bereits Aristoteles wusste, dass sich Menschen intrinsisch und extrinsisch motivieren oder motivieren lassen können. Hierzu unterschied er wie auch sein Lehrer Platon drei grundsätzliche Lebensgüter sowie die ihnen entsprechenden Lebensweisen: die auf die Sache selbst und damit die theoretische Betrachtung (θεωρία) ausgerichtete, die auf die Ehre (τιμή) und die auf den Genuss (ἡδονή) ausgerichtete Lebensweise. Diesen drei Gütern und Lebensweisen müssen wiederum drei seelische Strebevermögen entsprechen: die Begierde (ἐπιθυμία) – zum Beispiel könnte man Schüler mit Süßigkeiten belohnen mit dem Effekt, dass sie irgendwann nur noch lernten, wenn eben diese dargeboten würden; das Ehrvermögen (θυμός) – in schulischen Kontexten könnte dies zum Beispiel durch das Lob der Lehrkraft aktiviert werden; die Vernunft (νου῀ς) – in diesem Fall belohnt sich der Schüler dadurch, dass er tut, was die Sache selbst erfordert und beim intellektuellen Nachvollzug dieser Sache Freude empfindet. – Dass die Begierde etwas Extrinsisches ist, liegt auf der Hand. Aristoteles macht jedoch darauf aufmerksam, dass dies für die Ehre ganz genauso gilt, scheint diese doch »in den Ehrenden mehr zu sein als in den Geehrten«. Die Ehre wird dem Betreffenden ja von einem anderen gewährt, insofern ist sie zwar immateriell, aber dennoch durch und durch extrinsisch kontaminiert, weil sie »von außen« kommt. Allein die Freude daran, der Sache selbst zu folgen bei dem Versuch, die Welt zu verstehen, kann nach Aristoteles also als im eigentlichen Sinne intrinsisch angesehen werden.

Bild: api

Und damit hätten wir den entscheidenden Widerspruch in der Argumentation Prechts: Es ist zwar wahr, dass Noten einen überwiegend extrinsischen Charakter tragen – absolut zwingend ist dies keinesfalls, denn wenn man gute Noten erhält, heißt dies noch lange nicht, dass man deshalb lernt –, allerdings trifft dies ebenso auf jedes Lob zu, das eine Lehrkraft ausspricht – eine Tatsache, auf die Precht paradoxerweise selbst hinweist (81). Prechts Vorschlag läuft somit darauf hinaus, eine Besserung der Schule durch Ersetzung eines vorwiegend extrinsisch funktionierenden Mechanismus durch einen anderen extrinsischen Faktor herbeizuführen, obwohl doch genau der Mangel an intrinsischer Motivation als das Kernproblem herausgearbeitet wurde. Genau genommen gibt es analytisch gar keinen wirklich relevanten Unterschied zwischen einer Note und einem Lob oder einer Ermahnung. Was genau ist denn eine »2« anderes als ein in Zahlen verkleidetes Lob im Sinne von »gut«? Und was genau ist der Unterschied zwischen einem besonders großen Lob und einer »1«? Es gibt keinen, außer jenen natürlich, dass Noten hoch verdichtete Urteile darstellen und insofern undifferenzierter ausfallen als schriftliche oder mündliche Beurteilungen. Genau deshalb lässt es sich auch keine gute Lehrkraft nehmen, Noten durch schriftliche oder mündliche Erläuterungen zu präzisieren.

Nehmen wir, wenn auch nur für wenige Minuten, an, Precht hätte recht: das deutsche Bildungssystem läge vollständig am Boden, die Lehrkräfte wären überwiegend ‘Gurken’ und alles müsste anders werden. Wie wahrscheinlich wäre es dann eigentlich, dass Precht mit seinem Buch einen Beitrag zur Besserung leisten würde? Und damit meine ich gar nicht seine einzelnen Vorschläge, sondern seinen Ton. Überall nämlich sieht er nur Versager: in der Politik, in der Verwaltung, in den Schulen. Wie wahrscheinlich also ist es wohl, dass eine Lehrkraft mit dreißig Jahren Berufserfahrung, die erhebliche Mängel in ihrer Arbeit aufweist, diese Kritik und Prechts Anregungen annehmen kann, wenn sie von ihm zugleich aufs Übelste beschimpft wird? Precht opfert die Inhalte seines Buches einem maximal alarmistischen Ton und damit seinen Verkaufserfolgen. Und das ist das wirklich Ärgerliche: Er überzieht in der Beurteilung von öffentlichen Schulen und Lehrkräften derartig, dass man vor lauter Zurückweisung dieser Übertreibungen kaum noch dazu kommt, mit derselben Intensität die tatsächlichen Mängel im Schulsystem zu diskutieren.

Er überzieht in der Beurteilung von öffentlichen Schulen und Lehrkräften derartig, dass man vor lauter Zurückweisung dieser Übertreibungen kaum noch dazu kommt, mit derselben Intensität die tatsächlichen Mängel im Schulsystem zu diskutieren.

Jemand, der wirklich glaubt, das pädagogische Verhältnis zwischen Lehrkräften und Schülern läge in Deutschland im Argen, wäre im Umgang mit den Lehrkräften daher selbst auf eine pädagogische Vorgehensweise angewiesen. Aber genau dies führt zum letzen großen Widerspruch: Überall ist davon die Rede, dass zeitgemäße Pädagogik nur noch individuell daher kommen dürfe, denn nur unter Berücksichtigung individueller Lernstände und -voraussetzungen bei den Schülern könnten diese erfolgreiche Bildungsbiographien absolvieren. Diese Einsicht ist so richtig wie alt. Es bleibt nur eine Frage: Warum fordern die meisten Ratschlaggeber dieser Art, darunter auch Precht, zwar eine postmoderne Individualisierung des Unterrichts für die Schüler, verhängen aber für die Lehrer nach dem Muster des Einheitsbreis eine pädagogische Monokultur (kein Frontalunterricht, stattdessen offener Unterricht und Projekte; keine Instruktionen, dafür Lerncoaching etc.). Könnte es nicht sein, dass eine echte Kultur der Individualisierung diese auch auf die Lehrkräfte zu erstrecken hätte? Könnte es nicht sein, dass es Lehrkräfte gibt, die fantastischen Frontalunterricht machen, die dabei trotzdem individuelle Bedürfnisse nicht aus dem Blick verlieren und die man mit offenem Unterricht geradezu quälen würde – und auch ihre Schüler – und umgekehrt?

Und wenn dem so wäre, läge es dann nicht viel näher, dass sich Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung darauf zu konzentrieren hätten, jede Lehrkraft bei der Weiterentwicklung ihrer je individuellen Stärken unter die Arme zu greifen?

Natürlich wäre es übertrieben zu behaupten, dass Prechts Buch durch und durch unsinnige Argumente enthielte. Es finden sich darin einige wesentliche und vor allem richtige, wenn auch keinesfalls neue Beobachtungen.

Charakteristisch für Prechts Argumentation ist dabei aber meist, dass er aus diesen Beobachtungen Dinge schlussfolgert, die zu schlussfolgern er unter Beachtung logischer Grundregeln schlicht nicht berechtigt ist. So ist es zwar wahr, dass es eine Reihe von Lehrkräften gibt, die schlechten Unterricht machen und daher für die schlechten Leistungen ihrer Schüler mitverantwortlich sind. Dies ist auch eines der größten Tabuthemen in deutschen Schulen, Schulverwaltungen und auch in der Schulpolitik. Aber es ist eben logisch unzulässig und in der Sache unsinnig, wegen dieser Teilmenge der Lehrerschaft eine systemische Revolution zu fordern, die ausnahmslos alle Lehrkräfte betrifft – also auch jene, die nachweislich guten Unterricht machen. Die eigentlich spannende Frage wäre daher gewesen: Wie hilft man diesem Teil der Lehrerschaft, den Unterricht zu verbessern, ohne ihn im Kollegium und in der Öffentlichkeit zu beschämen und damit am Ende die Sache noch schlimmer zu machen, als sie heute schon ist? Welche Rolle können Schulleitungen, Personalräte und Schulräte im Sinne einer vertrauensvollen Zusammenarbeit spielen, um solche Prozesse erfolgreich zu gestalten? Das sind die eigentlich spannenden und herausfordernden Fragen konkreter Schulentwicklung!

Bietet Prechts Buch also etwas Neues? In der Sache nein, höchstens im Stil: Bisher hat wohl noch niemand in derartiger Lautstärke die Trommel der Lehrerbeschimpfung gerührt. Was wird Prechts Buch bewirken?

Sein Buch wird wohl so schnell verschwinden, wie es gekommen ist, weil es kaum etwas bietet, was ein längeres Verweilen rechtfertigen könnte. Nur eines könnte bleiben, und es wäre gewiss nicht das Beste: Dass er jene Eltern in ihrem Handeln bestärkt hätte, die nicht nach einer Erziehungspartnerschaft mit den Lehrkräften ihrer Kinder suchen, sondern ihr ‘Widerstandsrecht’ gegen diese kultivieren wollen. Es gibt sicher Fälle, in denen so etwas nötig ist. Aber dies ernsthaft zu einem schulpolitischen Leitmotiv zu erheben, zerstört gerade jenen konstruktiven Konsens, den Schule für gute Arbeit benötigt. Und das ist übrigens abseits der dreihundert Seiten vollgeschriebenen Papiers auch der eigentliche Punkt:

Precht möchte, dass sein Sohn Oskar nicht in einer “Lernfabrik” (106) mit “Stoffhuberei” sitzen muss, er wünscht sich vielmehr einen Abenteuerpark, eine Spaßfabrik also. Gelenkt wird diese Herangehensweise von dem Motiv, dass Erkennen etwas ist, das mit Freude und Lust zu tun hat. Die Welt zu erkennen lässt uns Menschen nicht gleichgültig, sondern kann Quelle größter Freude sein. Je komplizierter die Rätsel sind, die wir Menschen lösen, desto größer fällt die Freude an der Erkenntnis aus. Und je mehr großartige Lehrer es vermögen, solche lustvollen Prozesse bei Kindern auszulösen und instruktiv zu begleiten, desto mehr ist Schule bei sich selbst, nämlich Muße (σχολή).

Ein im Erkenntnissinne Lust und Freude bereitender Unterricht ist etwas anderes als ein Abenteuerpark oder eine Spaßfabrik.

Aber an eben dieser Stelle beginnen die Probleme: Wenn Precht von Lehrern fordert, Unterricht unter eben dieser Perspektive zu gestalten, muss man ihm voll zustimmen. Wenn er diesen jedoch dogmatisch mit der Abschaffung von Jahrgangsstufen, Fächern, Noten, Frontalunterricht etc. identifiziert und die Eltern aufruft, gegen alle diejenigen Lehrer “aufzubegehren” (10), also Widerstand zu leisten, die Prechts Chemotherapie für wenig förderlich halten, geht er entschieden zu weit. Zunächst: Ein im Erkenntnissinne Lust und Freude bereitender Unterricht ist etwas anderes als ein Abenteuerpark oder eine Spaßfabrik. Der Abenteuerpark ist eine Dienstleistungseinrichtung, in der einem anstrengungslos gegen Eintritt ein Spaß nach dem anderen geboten wird. Anstrengungslos ist dabei das entscheidende Stichwort. Man muss an den Büchern und Texten des pointiert formulierenden Josef Kraus nicht alles richtig finden, aber mit dem Titel eines seiner neueren Bücher hat er den Nagel auf den Kopf getroffen: “Bildung geht nur mit Anstrengung”. Wir leben wohl in Zeiten eines schleichenden Kulturbruches oder haben ihn längst hinter uns gebracht. Es gab einmal Zeiten, in denen galt Bildung als ein begehrenswertes, persönlichkeitsbildendes, als ein kostbares Gut, das man sich unter erheblichen Mühen selbst erarbeiten musste. In idealtypischen Konstellationen wirkten Lehrer und Eltern zu diesem Zweck gemeinsam förderlich auf die Kinder und Jugendlichen ein: motivierten und förderten sie, aber ermahnten sie auch, wo es nötig schien, damit sie am Ball blieben.

Diese Zeiten scheinen endgültig vorbei – wenn es sie realiter denn wirklich jemals gegeben hat. Aber in vielen Köpfen fühlte es sich lange Zeit immerhin so an, als hätte sie es gegeben, und auch das blieb nicht ohne Wirkung. Im Gegensatz hierzu ist Schule heute zu einer Art Dienstleistungseinrichtung geworden, in die Steuer zahlende Eltern ihre Kinder schicken, um das Abitur einzulösen: Es sind Betriebe mit der Aufgabe der standardisierten Veredelung des Humankapitals mit Erfolgsgarantie und Rückgaberecht.

Der Erwerb das Abiturs ist unter dieser Bedingung nicht mehr in erster Linie Aufgabe und Herausforderung für den Schüler oder die Schülerin, sondern ausschließlich für die Lehrkraft. Jeder Abbrecher, jeder Sitzenbleiber, jeder Durchfaller bezeugt nicht auch Fehlleistungen oder unglückliche Umstände auf Seiten der Schülerschaft, sondern wird stets allein als Versagen einer gleichgültigen und unfähigen Lehrerschaft interpretiert:

“Appelle an verantwortungslose Elternhäuser, ihre Kinder anders zu erziehen, haben noch nie Früchte gezeitigt. Und Klagen über uninteressierte und unaufmerksame Schüler fallen immer auf den Klagenden zurück.” (16) Dass sich unter dieser Perspektive jene Schüler, um die es geht, keine selbstkritischen Fragen stellen werden, weil ja nicht auch sie selbst, sondern allein die Umstände für ihr Scheitern verantwortlich erscheinen, und sie deshalb auch keinerlei Veranlassung haben, durch eigene Astrengung etwas an ihren Leistungen zu verändern, dürfte da nicht mehr Wunder nehmen.

Precht heizt die Debatte unverantwortlich an

Bereits vor über fünfzig Jahren legte der Soziologe Helmut Schelsky im Übergang von der “Klassengesellschaft” zur “nivellierten Berufsgesellschaft” mit seiner Analyse der Rolle der Schule als “Dirigierungsstelle für die künftige soziale Sicherheit” den Finger in die Wunde der unvermeidbaren Konflikthaftigkeit der Beziehungen zwischen Lehrern und Eltern. Schulen haben unter anderem die Aufgabe, mit der Vergabe verbindlicher und aussagekräftiger Zeugnisse die Funktionsfähigkeit einer arbeitsteiligen Gesellschaft aufrecht zu erhalten, indem möglichst nur jene Personen entsprechende gesellschaftliche Aufgaben übernehmen und Funktionen ausüben, die dafür auch die mindesten Voraussetzungen erfüllen. Genau hierin entdeckte nun aber Schelsky mit Recht eine unvermeidbare Konfliktquelle zwischen Schule und Elternhaus, denn die Schule entscheidet damit ja nicht nur über die soziale Mobilität nach oben, sondern auch notwendig über soziale Abstiege, und dies wird in den seltensten Fällen im Einvernehmen mit dem Elternhaus geschehen. Während Schelsky noch nach einem Weg gesucht hat, diese “Überbürdung” der Schule aufzuheben, heizt Precht den tendenziell unvermeidbaren Konflikt zwischen Eltern und Lehrkräften auch noch weiter an, indem er den Eltern rät, “aufzubegehren”, wenn es ihnen in der Schule nicht spaßig genug für ihre Kinder zuzugehen scheint. Für den Verkaufserfolg seines Buches mag diese Konstellation hervorragend sein, für das Verhältnis von Lehrkräften und Eltern ist es verheerend.

Martin Brodkorb

geboren 1977 in Rostock, Magister der Philosophie und des Altgriechischen, Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern

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