Der Anlass begann mit einer klaren Ansage des Moderators. Dr. Lukas Höhener erklärte zu Beginn, dass die Integration nicht einfach ein Konzept sei, sondern auch einer Haltung bedürfe, und fügte hinzu: Die wissenschaftlichen Befunde seien ja klar! Damit gab er einen Steilpass zur ersten Referentin, Frau Prof. Dr. Elisabet Moser Opitz, ihres Zeichens ordentliche Professorin für Sonderpädagogik an der Universität Zürich. Sie vertrat die Stimme der Wissenschaft und erwähnte folgerichtig viele Studien, welche bewiesen haben sollen, dass sich Integration in jeder Hinsicht bewähre.
Schüler und Schülerinnen, welche in einem integrativen Setting lernen konnten, würden im späteren Leben ein höheres Einkommen erzielen, hätten ein grösseres soziales Netzwerk und ein besseres Selbstkonzept. Ebenso zeigten diese Studien, dass auch die Mitschülerinnen und -schüler, welche keine Sonderschulung benötigten, nicht unter der Integration leiden, sondern sogar davon profitieren würden.
Separation, so die Uniprofessorin könne daher nicht die Lösung sein. Wichtig seien allerdings die Heilpädagoginnen, die mit ihrem Fachwissen eine unverzichtbare Voraussetzung für eine gelingende Integration darstellten. Mit deren Fachwissen könne man auch für einen Leistungszuwachs der Schülerinnen und Schüler mit einem besonderen Betreuungsbedarf sorgen. Ausserdem sei die intensive Zusammenarbeit zwischen den Klassenlehrern und den Heilpädagoginnen enorm wichtig. Sie nannte zudem noch drei weitere wichtige Gelingensbedingungen:
- positive Feedbacks, die das Selbstwertgefühl steigern und zu weiteren Anstrengungen ermutigen würden.
- eine gute Klassenführung
- ein strukturierter Unterricht
Mit dem obligaten Hinweis auf «die Bereitstellung entsprechender Ressourcen» beendete sie ihr Kurzreferat.
Prof. Dr. Roland Reichenbach sorgte als zweiter Referent sofort für ein Raunen im zahlreich erschienenen Publikum: «Die Pädagogik hält nicht, was man sich von ihr verspricht», warnte er. Er sprach von einer Meta-Ethik, die Probleme erkenne und daraufhin einen frommen Diskurs vom Stapel reisse, der in einem normativen
Diskurs ende. Und genau diese normativen Fragestellungen warf er auch den zahlreich vorhandenen Studien vor. Es folge ein «Sein-Sollen-Fehlschluss» der apodiktisch geführt werde und quasi eine «Kopfnicker-Debatte» einfordere. Das habe zur Folge, dass man Reformen, wie die Integration, auch dann weiterführe, wenn ihre Umsetzung nicht funktioniere. Man habe keinen Mut zur Ambivalenz, die frohe Botschaft zähle. Urteilskraft und eine Erwägungskultur hätten in diesem Klima keinen Platz. Deshalb brauche es auch immer von allem mehr, mehr Geld, mehr Ressourcen, mehr Personal ohne Rücksicht auf gesamtökonomische Aspekte. Reformen scheiterten immer erfolgreich, sprich, auch wenn sie ihre Ziele nicht erreichen, würden sie nicht revidiert. Es gebe keinen Platz für den Sinn auf das Machbare, man verharre in einer sterilen Strukturdiskussion.
Die Schule können nicht alle gesellschaftlichen Probleme lösen. Dagmar Rösler
Dagmar Rösler, Präsidentin des LCH, sollte in ihren Ausführungen primär die Sicht aus der Praxis in die Diskussion einbringen. Sie startete allerdings mit einer generellen Betrachtung und wies grundsätzlich auf die steigenden Ansprüche an unser Schulsystem hin. Aus diesen Herausforderungen würden dann schnell einmal Überforderungen, vor allem wenn die Schule zunehmend auch Verantwortung für Aufgaben übernehmen sollte, die eigentlich in den Familien gelöst werden müssten. Zu diesen Herausforderungen gehöre auch der Umgang mit der zunehmenden Heterogenität. Die Schule allein könne dies nicht lösen. Die evidenzbasierte Bildungsforschung sei sehr wichtig, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. So habe die Bildungsforschung gezeigt, dass die Schule mit einem Anteil von 25% schwieriger Schülerinnen und Schüler umgehen könne. Mehr gehe nicht. Aber mehr Investitionen in die Integration würden sich später auszahlen. Frau Rösler gab denn auch zu, dass sich die Klagen über die Schwierigkeiten mit der Integration häuften und man sich wirklich fragen müsse, wo die integrative Schule in Schieflage geraten sei.
«Was soll ich auf so eine suggestive Frage antworten?» Roland Reichenbach
Damit war die Diskussion eröffnet. Moderator Höhener konfrontierte Roland Reichenbach mit der wiederholten Behauptung, dass die Studienlage doch eindeutig sei und ob man da überhaupt gegen Integration sein könne. Es sei doch eine gesellschaftliche Aufgabe, allen Kindern eine möglichst gute Ausbildung zu bieten und ein Unterrichtssetting zu gewährleisten, dass es auch Kindern mit Beeinträchtigungen erlaube, gemeinsam mit den Normalbegabten zu lernen. Reichenbach zuckte mit den Achseln und antwortete vorerst nicht. Es entstand eine Lücke, die mit einem Gelächter des Publikums überbrückt wurde. Schliesslich erlöste Reichenbach den sichtlich verdutzten Moderator mit der Antwort: «Was soll ich auf so eine suggestive Frage antworten?» Die Fragestellung offenbare diesen grenzenlosen Moraldiskurs, der die gegenwärtige Debatte bestimme. Ethik sei keine Wissenschaft. Er warf den Studien noch einmal eine normative Fragestellung vor. In der Praxis seien die Befunde wesentlich ambivalenter. Pädagogik suche nicht nach der einen Wahrheit, sondern nach guten praxisorientierten Lösungen. Rösler fiel ihm ins Wort und fragte provokativ: «Sie meinen man solle mehr die Lehrkräfte in der Praxis fragen?» Reichenbach antwortete: «Zum Beispiel!», und erntete spontanen Szenenapplaus. Frau Moser-Opitz warf Reichenbach vor, er predige Beliebigkeit, es brauche im Gegenteil konkrete Zielvorgaben, die sich auf Studien stützten. Sie erwähnte die Balestra-Studie, die klar die Vorteile der Integration aufzeige. An diesem Punkt erntete sie Widerspruch aus dem Publikum. Ein Anwesender fragte, warum sie nicht die kritischen Aussagen der Balestra-Studie erwähnte, die ergaben, dass der Peer-Effekt negativ sei (die Schüler ohne Betreuungsbedarf würden Nachteile erfahren) und dass die Integration nur mit deutlich mehr Ressourcen funktionieren könne. Frau Moser-Opitz entschuldigte sich mit den Worten: «Ja, das stimmt, aber der negative Effekt ist nur minim!»
Das ist beliebig, wir brauchen konkrete Zielvorgaben. Elisabeth Moser
Frau Rösler erzählte von Erfahrungen aus ihrem Kanton mit kleinen Integrationsmodellen, die durchaus erfolgreich seien und warnte vor Sparmassnahmen. Sie beklagte auch, dass der Lehrkräftemangel nur vom LCH thematisiert werde und in der öffentlichen Debatte kaum vorkäme. Das sei sicher auch ein Problem, meinte Frau Moser-Opitz und bekräftigte noch einmal, wie wichtig gute Lehrpersonen, gute Schulleitungen und ein strukturierter Unterricht sei.
Die Studien geben vor, evidenzbasiert zu forschen. Dabei sind ihre Fragestellungen so etwas von normativ und von der guten Absicht durchsetzt. Roland Reichenbach
Man solle sich endlich einmal von der systemischen Frage lösen, meinte darauf Roland Reichenbach und wies auf die Unendlichkeit der Integrationsdebatte hin. Wer und was soll hier noch alles integriert werden? Wenn man jetzt auch noch die soziökonomischen Aspekte in die Diskussion werfe, kenne das ganze keine Grenzen mehr. Es dominiere die «Good Intention» und das führe jeweils zu einem Heilsarmee-Diskurs. Hart ins Gericht ging er mit den Studien und der «evidenzbasierten Bildungspolitik». Sie geben vor, objektiv zu forschen, dabei seien die Fragestellungen fast unisono normativ und vom «guten Willen» durchsetzt. Die Forderung nach einer «evidenzbasierten Bildungspolitik habe für ihn den Duktus der Allmachtsphantasie. Und er endete mit der Bemerkung: «Viele Leute glauben an die evidenzbasierte Bildungspolitik! Ich nicht!»
Reichenbach ist als Korrektiv in einer pseudowissenschaftlichen Umgebung von gutgläubigen Moralaposteln unersetzlich!
Dank für den nüchternen Bericht – bei diesem heißen Thema!
Dummerweise gehört Prof. Reichenbach zu denjenigen Experten, die einen richtigen Riecher, aber etwas gegen Evidenzbasierung haben. Hätte er etwa die Analysen des Heilpädagogen Walcher gekannt, …
http://walcher1.magix.net/index_htm_files/HfH%20behauptet.pdf
… hätte er die Behauptung, die Studienlage sei eindeutig (positiv), mit Leichtigkeit vom Tisch wischen können. Tatsächlich sieht die Forschung den Nutzen inklusiver Beschulung uneindeutig bis skeptisch. So sind seitens der HfH angeführte Belege wenig belastbar, und kritische Studien werden dort einfach ausgeblendet.
Tatsächlich profitiert nur ein Teil der Förderschüler (die ‘leichteren’ Fälle) von inklusiver Beschulung, und ab Pubertät kommt es auch in Inklusionsklassen zu (innerer) Separierung. Es gibt durchaus gute Erfahrungen mit Gemeinsamem Lernen – nämlich dort, wo in Schulversuchen ständig eine sonderpädagogische Fachkraft mitarbeitete, und wo die Förderbedarfe der Kinder genau zu ihrer Expertise passten. Aber das kann und will niemand bezahlen.
Warum können Ideologinnen und Ideologen nicht akzeptieren, dass die UN gar nichts gegen Sonderschulen/Kleinklassen hat – es handelt sich doch um besondere zeitweilige Maßnahmen zu spezifischer Förderung (BRK Art. 5.4)!?
https://inklusion-als-problem.de/rechtliches/
Integrative Beschulung hat vielerorts viel Unruhe und Belastung geschaffen. Basel und Zürich suchen aktuell nach neuen Kompromissen. Otto Speck hat in «Dilemma Inklusion» (2019) für eine pragmatische Lösung plädiert, das “zwei-Säulen-Modell” (“dual-inklusiv denken”):
> Regel- und Sonderschulen/-klassen bestehen lassen, aber zwischen ihnen hohe Durchlässigkeit gewährleisten
> die Expertise der Regelschullehrer bzgl. Unterricht wie Förderung stark verbessern – um zu vermeiden, dass Kinder unnötig zur Sonderschule verwiesen werden
> Inklusion nur an bestausgestatteten Schwerpunktschulen praktizieren
> Förderklassen an Regelschulen („Campuslösung“, „temporäres Time-Out“) einrichten.