21. November 2024
Claudia Wirz fragt

Ich profitierte von guten und initiativen Lehrerinnen und Lehrern

In ihrer Reihe “Wie hatten Sie es mit der Schule?”, in der unsere Condorcet-Autorin Claudia Wirz Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft befragt, gibt diesmal Alt-Nationalrat und Gerwerkschafter Adrian Wüthrich Auskunft. Ein aufschlussreiches Gespräch über Chancengleichheit, Leistungsbereitschaft und engagierte Lehrkräfte.

Herr Wüthrich, wussten Sie schon als Primarschüler, dass Sie später einmal antreten würden, um sich der Sache der Angestellten anzunehmen?

Meine ersten vier Schuljahre habe ich in der kleinen Oberaargauer Landgemeinde Walterswil verbracht, Gewerkschaften kannte ich damals noch nicht. Und in der Gemeinde gab es nur die SVP. Erst als mich der damalige Ständerat Ernst Leuenberger mit 21 Jahren als sein parlamentarischer Assistent anstellte, lernte ich die Gewerkschaftswelt kennen. Leuenberger war Präsident des damaligen Eisenbahnerverbandes SEV, der heutigen Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV, und prägte die nationale Sozialpartnerschaft mit.

Claudia Wirz, Journalistin, neu für den Condorcet-Blog arbeitend, befragt Persönlichkeiten über Ihre Erfahrungen mit der Schule.

Haben Sie Ihre eigene Schulzeit in guter Erinnerung?

Mein Sohn geht heute zu meiner damaligen 3./4.-Klasselehrerin zur Schule, ich konnte meine Erinnerungen auffrischen… Doch, im Rückblick reifte ich in meiner Schulzeit und habe gute Erinnerungen. Ich profitierte von guten und initiativen Lehrerinnen und Lehrern und war sicher nicht immer einfach, weil ich mitbestimmen wollte und die Dinge verstehen wollte. Eine Erinnerung ärgert mich noch heute: Mir wurde gesagt, dass ich mit guten Noten ohne Prüfung ins Gymnasium komme. Ich hatte den geforderten Notenschnitt, aber von meiner Sekundarschule mussten dann alle die Prüfung absolvieren. Geschadet hat es mir nicht. Ich war überhaupt der Erste von der Familie meiner Mutter und meines Vaters, der ans Gymnasium und später an die Universität konnte.

Hat Ihnen die Schule das Richtige beigebracht?

Wenn ich mein bisheriges Leben anschaue, ja. Als in musischen Fächern nicht so interessierter Schüler profitierte ich sehr von der Allgemeinbildung, die ich im Gymnasium geniessen konnte. Ich kann differenziert denken, das finde ich wichtig. Weil ich zu Hause keine Hilfe erhielt und wir in der Sekundarschule viel selbstbestimmt lernen durften, musste ich immer selbstständig arbeiten und mir zu helfen wissen. Von diesen Erfahrungen profitiert man das Leben lang.

Chancengerechtigkeit war immer ein Treiber meines politischen Engagements. Kinder aus einem nichtakademischen Milieu – wie ich – haben noch heute die kleineren Chancen, studieren zu können.

Sie beschäftigen sich als Präsident der Arbeitnehmerorganisation Travailsuisse nicht zuletzt mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Halten Sie das Schweizer Bildungssystem grundsätzlich für gerecht?

Chancengerechtigkeit war immer ein Treiber meines politischen Engagements. Kinder aus einem nichtakademischen Milieu – wie ich – haben noch heute die kleineren Chancen, studieren zu können. Als ich 2018/2019 in der Bildungskommission des Nationalrates war, haben wir eine erschreckende Studie dazu zur Kenntnis nehmen müssen, wonach heute die Chancengerechtigkeit im Bildungssystem zu wünschen übriglässt. Wir haben erfolgreich eine Kommissionsmotion an den Bundesrat überweisen können, damit in der BFI-Botschaft Massnahmen für mehr Chancengerechtigkeit umgesetzt werden. Kurz: Wir sind noch nicht da, wo wir sein sollten.

In der Schule jedoch kommt das Wettbewerbsprinzip immer stärker in Verruf. Tut man den Kindern einen Gefallen, wenn man ihnen in der Schule den Wettbewerb nicht mehr zutraut? Ist es nicht auch wichtig, scheitern zu lernen?

Unser ganzes Leben ist geprägt von Vergleich und Wettbewerb – sei es im Sport, im Spiel, in der Politik, an der Universität, in den sozialen Medien, in der Arbeitswelt, ja selbst im Familienleben und Freundeskreis. In der Schule jedoch kommt das Wettbewerbsprinzip immer stärker in Verruf. Tut man den Kindern einen Gefallen, wenn man ihnen in der Schule den Wettbewerb nicht mehr zutraut? Ist es nicht auch wichtig, scheitern zu lernen?

Wir müssen in der Schule viel lernen, scheitern gehört auch dazu, klar. Aus Fehlern lernt man, so ergeht es mir noch heute. Grundsätzlich bin ich offen für diverse Lernformen. Wenn die Kinder nicht ans Wettbewerbsprinzip gewöhnt werden, sind sie weniger auf das spätere Leben vorbereitet. Ob deswegen alle eine einheitliche Schuluniform tragen müssen, bezweifle ich. Dass der Anteil derjenigen Kinder zunimmt, die nicht mehr zur Volksschule gehen, sondern zu Hause oder an einer Privatschule unterrichtet werden, finde ich für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft bedenklicher.

Was halten Sie von der Idee, Noten und Hausaufgaben in der Volksschule im Sinne der «Bildungsgerechtigkeit» abzuschaffen?

Diese Frage finde ich spannend. Geht es mit weniger Selektion? Aus eigener Erfahrung zweifle ich, ob es ohne Druck von Prüfungen geht. Wer sich engagiert, lernt, wer Leistung zeigt, soll auch «belohnt» werden. Es brauchen einige einfach mehr Unterstützung als andere, dies muss berücksichtigt werden. In der Volksschule kann ich es nachvollziehen. Aus der Beobachtung bei meinen Söhnen habe ich gesehen, dass heute bis zur fünften Klasse fast keine Noten und Hausaufgaben bestehen und es ab der fünften für die Sekundarschulqualifikation abrupt ändert – mehr Tests, Noten und Schuldruck. Für die Bildungsgerechtigkeit fände ich die frühe Förderung der Kinder wichtiger, was auch wissenschaftlich erhärtet ist. Das würde auch der Volksschule als Ganzes helfen.

Glauben Sie, dass eine vollständig «gerechte» Schule überhaupt möglich ist? Schliesslich müsste eine solche Schule nicht nur den Schwächeren, sondern auch den Mittleren und den Guten gerecht werden.

Es muss unser Anspruch sein, eine möglichst gerechte Volksschule für alle zu haben. Diese Schule muss genügend Mittel haben, damit sie individuell auf alle Schülerinnen und Schüler eingehen und sie fördern kann. Je grösser und heterogener die Klassen, desto schwieriger. Für mich fördert eine Schule für alle nicht nur die Schwächeren, sondern auch die Leistungsstärkeren und Leistungswilligeren.

Werden die Leistungen in der Volksschule nicht ohnehin überbewertet? Schliesslich gibt es genug Beispiele von Leuten, die auch mit weniger guten Schulnoten später erfolgreich wurden – und umgekehrt!

Spätestens bei der Selektion für die Sekundarschule, braucht es einen Entscheid, wer ein Niveau höher gehen darf. In gewissen Schulen gibt es die Möglichkeit in den Hauptfächern unterschiedliche Niveaus zu besuchen, das hilft. Deshalb ist unser Bildungssystem im Grundsatz sehr durchlässig. Wer später bessere Leistungen erbringt, kann die Berufsmatur machen oder die eidgenössische Matur nachholen und an die Fachhochschule oder die Universität gehen. Es ist auch möglich ohne Matur durch die höhere Berufsbildung einen tertiären Abschluss zu erlangen. Ja, man darf die Leistungen in der Volksschule nicht überbewerten, aber ganz ohne Bewertung geht es meiner Meinung nach nicht. Ich weiss nicht, ob ich so viel gelernt hätte, wenn es keinen Notendruck gegeben hätte. Gut, am Schluss im Masterstudium in Public Management und Politik, da hätte ich auch ohne Prüfungen gelernt…

Es gibt im Gegenteil Eltern, für die nur der gymnasiale Weg in Frage kommt und die die Berufsbildung verachten. Auch das ist falsch – beide Wege ermöglichen uns sehr guten Zugang zum Arbeitsmarkt.

Für viele Eltern, aber auch für viele akademische Bildungsexperten ist das Gymnasium das Mass aller Dinge. Neidisch schaut man nach Finnland, wo fast alle die Matura machen. Muss die Schweiz diesem Ziel, also der «Matura für alle», wirklich nacheifern?

Mein persönlicher Fall zeigt, dass es je nach sozialem oder auch geografischem Hintergrund schwieriger ist, die Matur zu machen. Das finde ich nicht fair. Auf dem Land kommt es vielen Eltern gar nicht in den Sinn, den Kindern aufzuzeigen, dass man auch studieren und einen universitären Ausbildungsweg anpacken könnte. Dagegen kämpfe ich. Daraus leite ich aber nicht ab, dass einfach alle die Matur machen sollen. Es gibt im Gegenteil Eltern, für die nur der gymnasiale Weg in Frage kommt und die die Berufsbildung verachten. Auch das ist falsch – beide Wege ermöglichen uns sehr guten Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Berufsbildung lässt später viele Möglichkeiten offen. Mein Bruder war in der Primarschule nicht so gut, heute führt er sein eigenes Haustechnik-Unternehmen und hat als diplomierter Sanitärmeister einen Abschluss, der im nationalen Qualifikationsrahmen auf gleicher Stufe wie ein Bachelor-Abschluss ist. Wir zeigen unseren Söhnen konsequent beide Wege auf: Den Berufsbildungsweg – wie jener meiner Frau – oder mein universitärer Weg. Der Ältere tendiert im Moment zu einer Mediamatikerlehre, der Jüngere zu einem Rechtsstudium. Sie sind aber erst in der 6. bzw. 8. Klasse, sie haben noch Zeit für ihre Entscheidung. Ich finde diesen Berufswahlprozess spannend.

Sie sind Präsident des Rates der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung EHB. Warum hat die wohletablierte und solide Berufslehre plötzlich den Ruf, der Bildungsweg für diejenigen zu sein, die es halt nicht ans «Gymi» geschafft haben?

Dass die Berufsbildung einen so schlechten Ruf hat, höre ich eigentlich selten. Grundsätzlich können alle durch die Berufslehre sehr einfach Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten und unser duales Berufsbildungssystem wird als bestes System der Welt gelobt. Auf der anderen Seite ist über die Jahre die schweizweite Maturaquote mehr oder weniger stabil, mit einem leichtzunehmenden Trend. Der Anteil der Berufsmaturität ist in den letzten Jahren stärker gestiegen. Wir müssen den Eltern, auch denen mit Migrationshintergrund aus Ländern ohne duales Berufsbildungssystem, die Vorzüge der Berufsbildung aufzeigen. Man hat mit einer Lehre einen guten Einstieg, auf dem man weiteraufbauen kann. Wichtig ist, dass die Löhne nach der Lehre entsprechend attraktiv sind und ein anständiges Leben ermöglichen.

Niemand würde wohl auf die Idee kommen, einen Spitzenkoch, der seine Karriere einst mit einer Kochlehre begonnen hat, als Bildungsverlierer zu taxieren. Trotzdem hält sich das Vorurteil hartnäckig, dass Ruhm, Karriere und guter Lohn nur über Matura und Studium möglich sind. Was kann man tun, um der Berufsbildung wieder das Prestige zurückzugeben, das sie verdient?

Regelmässige Aufklärungsarbeit ist wichtig – es werden jedes Jahr wieder neue Jugendliche und deren Eltern und Verwandte mit der Berufswahl konfrontiert. Marketing für die Berufsbildung wurde noch zu wenig systematisch gemacht. Gerade laufen wieder Fernsehspots, das ist sicher ein Weg. Ein weiterer sind die Berufsmeisterschaften – zwar für die Besten – aber für die Kommunikation sind die Bilder und Geschichten rund um die Schweizer, Europa- oder Weltmeisterschaften sehr hilfreich. Und: Die Wege der höheren Berufsbildung sind viel zu wenig bekannt. Aber sie lohnen sich, die Absolvierenden sind sehr gesucht. Eine aktuell diskutierte Massnahme ist, dass man sich einem Abschluss der höheren Berufsbildung den Zusatz «Professional Bachelor» anfügen darf. In einer globalisierten Wirtschaft kann ein englischer Titel zu einem eidgenössischen Abschluss den Arbeitnehmenden helfen. Gemeinsam müssen wir es schaffen, den Anteil der Jugendlichen mit einem Abschluss auf Sekundarstufe II auf über 95 Prozent zu bringen!

*Adrian Wüthrich hat einen Master in Public Management und Politik der Universität Bern. Er ist Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes Travailsuisse und Präsident des Rates der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung. Für die SP Kanton Bern war er von Mai 2018 bis Dezember 2019 Mitglied des Nationalrats und in dieser Zeit Mitglied der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur.

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