5. Dezember 2025
Denkmoment

Senior-Assistenzen für Berufsfachschulen – oder: Die “win3”-Idee

Das Pensionierungsalter 65 entspricht heutzutage einer rein technischen Grenze. Im Gegensatz zu vielen handwerklichen Berufen – wie beispielsweise den Bauberufen – findet die Ausübung des Lehrberufs nicht draussen bei Wind und Wetter, sondern in der warmen Schulstube statt. Die angenehmen Umgebungsfaktoren führen zu einem besseren Gesundheitszustand. Lehrpersonen sind gegenüber Handwerkern beim Übergang vom Arbeitsleben in den so genannten Ruhestand mehrheitlich in einer körperlich fitteren Verfassung. Die fachkundigen Senioren und Seniorinnen könnten aus diesem Grund für eine Berufsfachschule dienlich sein.

 

Seit mehreren Jahren existiert an einigen Volksschulen in der Schweiz das win3-Konzept [1]. Entstanden ist dieses vor bald zwei Dekaden aus einer Zusammenarbeit zwischen Pro Senectute und der Bildungs- und Kulturdirektion der Stadt Bern [2]. “Drei Generationen im Klassenzimmer”, so die Kurzumschreibung von “win3”. Hinter der Zahl “3” stehen die drei Win-Faktoren Senior/innen, Lehrpersonen und Schüler/innen. Engagierte, ältere und fitte Personen besuchen regelmässig eine Schulklasse.

Die Verantwortung für ein Engagement liegt jederzeit bei den Lehrpersonen.

 

Auf allen Stufen der Volksschule gibt es vielseitige Einsatzmöglichkeiten. Unterstützung beim Rechnen und Lesen sind ebenso gefragt wie Erzählungen aus dem eigenen Leben. Die Freiwilligen verbringen pro Woche zwischen zwei bis vier Stunden im Klassenzimmer und übernehmen Aufgaben, welche ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechen. Dabei sind keine pädagogischen und didaktischen Vorkenntnisse notwendig. Der Einsatz ist kostenlos. Die Verantwortung für ein Engagement liegt jederzeit bei den Lehrpersonen.

Condorcet-Autor Niklaus Gerber

Das interessante, sinnvolle und erprobte win3-Konzept auf der Volksschulstufe lässt sich grundsätzlich in den berufskundlichen Unterricht an einer Berufsfachschule übertragen; mit dem Unterschied, dass fachliche Kenntnisse im betreffenden Berufsfeld von Vorteil resp. eine Bedingung darstellen.

Beispiel aus der Berufsschulpraxis

Ein Berufskunde-Lehrer unterrichtet eine Klasse Automobil-Mechatroniker/innen mit 24 Lernenden. Der berufstheoretische Unterricht wird durch Automobil-spezifisches Experimentieren, durch Demonstrations- und Anschauungsmaterial, durch Messübungen und Versuchsanordnungen vertieft. An den Berufsfachschulen stehen dafür Labore und Praktikumsräume zur Verfügung.

Problemsituation

Die hohe und erwartete Unterrichtsqualität führt bei der berufskundlichen Lehrperson zeitweise und notgedrungen zu unbefriedigenden Situationen [3]. Dies aus den folgenden Gründen:

  • Aus pädagogischer Sicht: In der Klasse existiert eine Streubreite hinsichtlich der kognitiven Voraussetzungen der Lernenden. Diese Inhomogenität stellt – nicht allein wegen der unterschiedlichen Leistungsbereitschaft, sondern auch wegen persönlichkeitsbezogener Faktoren – eine zunehmende Herausforderung dar. Das Ziel, möglichst allen gerecht zu werden, ist anspruchsvoll und in gewissen Fällen nur schwer erfüllbar. Trotzdem ist für den Berufskunde-Lehrer die berufstheoretische Stoffvermittlung – abgestützt auf den dichten Bildungsplan – prioritär.
  • Aus organisatorischer Sicht: Die theorievertiefenden Unterrichtsanteile bleiben aus zeitlichen Gründen oft auf der Strecke. Der teilweise grosse Aufwand für die Vorbereitung und Bereitstellung kann in vielen Fällen nicht ausreichend geleistet werden, manchmal gar nicht. Deshalb erhält dieser für das Lernverständnis wichtige Unterrichtsanteil eine sekundäre Priorität.
  • Aus didaktischer Sicht. – Aufgrund des hohen Stoffdrucks fehlen ausreichende Freiräume für eine abwechslungsreiche Unterrichtsgestaltung. Methodisch-didaktische Formen wie beispielsweise das projektbezogene, das werkstattorientierte oder das selbstorganisierte Lernen werden nahezu verunmöglicht.

Lösungsansatz

In Anlehnung an das win3-Konzept übernehmen pensionierte Automobilfachlehrer, Berufsbildner aus den Garagen resp. Ausbildungsbetrieben sowie Kursleiter aus den überbetrieblichen Zentren die Aufgabe als fachlich versierte Assistenten in der Automobil-Mechatroniker/innen-Klasse.

  • Sie nehmen am Berufskunde-Unterricht in der Klasse teil und wirken während bestimmten Unterrichtsphasen und auf Anweisung des verantwortlichen Berufskunde-Lehrers als fachliche Hilfslehrperson bei Automobil-technischen Fragen der Lernenden.
  • Sie bereiten die Infrastruktur für die theorievertiefenden Lerninhalte vor (Bereitstellung von Experimenten, Demos, Messgeräten, Versuchsanordnungen etc.).
  • Der zeitliche Umfang des Assistenz-Einsatzes kann der Dauer des Berufskundeunterrichts angepasst werden. Wöchentlich variiert dieser zwischen einem halben Tag bis eineinhalb Tagen.

win3-Erfolgsfaktoren

Die eingangs erläuterte Lebenssituation ermöglicht es, von pensionierten Fachkräften zu profitieren. Das win3-Konzept ist deshalb bestechend, weil es auf drei Ebenen nutzbringend wirkt:

  • Ebene Senior. – Das Erfahrungswissen und das Knowhow ehemaliger Fachpersonen aus der Automobilbranche können einen wertvollen und befriedigenden Beitrag bei der Ausbildung künftiger Berufsleute leisten.
  • Ebene Berufskunde-Lehrperson. – Mit Hilfe der Assistenz wird die unterrichts-verantwortliche Lehrperson entlastet. Wünschbare und aufwändige Unterrichtsarrangements werden durch den Support ermöglicht.
  • Ebene Lernende. – Die kognitive Streubreite bei den Lernenden kann verringert werden. Insbesondere die leistungsschwächeren Lernenden erhalten durch die fachliche Hilfslehrperson mehr Unterstützung.

Fazit

Das win3-Konzept müsste auch für die Berufsfachschulen ein Thema sein. Aktive und fachlich kompetente Senioren und Seniorinnen könnten auf sinnvolle Weise für den berufskundlichen Unterricht beigezogen werden. Mit einer Machbarkeitsstudie könnte Näheres dazu eruiert werden.

 

[1] Auszug aus dem Flyer «win3» – Drei Generationen im Klassenzimmer, Pro Senectute/Kanton Bern.
Mehr unter https://be.prosenectute.ch/de/helfen-sie-mit/mithelfen-im-klassenzimmer (Abruf 22.09.2025)

[2] Seit 2007/08 steht das win3-Konzept an den Stadtberner Schulen im Einsatz. Aktuell sind ca. 80 Seniorinnen und Senioren aktiv.
Mehr unter https://www.bern.ch/themen/bildung/schule/foerderangebote/win3-drei-generationen-im-schulzimmer (Abruf 22.09.2025)

[3] Die gleiche Problematik lässt sich 1:1 auf andere Berufe übertragen.

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2 Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr Gerber

    An dem Pro Senectute-Konzept “Senior im Klassenzimmer” durfte ich ein Jahr am Unterricht einer 5./6.Klasse im Fach NMG teilnehmen. Alle die im Condorcet-Blog aufgelisteten Probleme haben sich vollumfänglich bestätigt. Inzwischen ist die Lehrerin krank geschrieben, was nicht in ihrer Schuld lag. Es würde zu weit führen, alle Missstände aufzulisten. Der Rubicon wurde schon längst überschritten. Und es ist nicht abzusehen, ob dieses Bildungssystem noch ohne radikale Massnahmen zu retten ist.

    Viele Grüsse

    Jürgen Wisser

    1. Lieber Herr Wisser
      Dsnke für Ihren Kommentar. Ich stimme mit Ihnen überein, dass der Bogen im schweizerischen Volksschulsystem mit den zahlreichen Reformen überspannt wurde. Dies gilt jedoch nicht für die Berufsbildung, auf das mein Beitrag abzielt.

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