Ehemalige Schüler schwärmen noch heute von seinem Unterricht. Der Lehrer und Autor Peter Bichsel selber sagte: «Damals hatte man eine Schulstube, in der man schalten und walten konnte, wie man wollte. Der Lehrplan bestand aus zwanzig Seiten, und zwar für die gesamte Primarschule von der ersten bis zur sechsten Klasse. Inzwischen sind das richtige Wälzer.» – Bichsel und die pädagogische Freiheit!

Und er ergänzte: «Ich musste damals im Jahr genau zwei Formulare ausfüllen: eins mit der Liste aller Schüler, mit Geburtsdatum und Heimatort; dazu einen Jahresbericht von einer A4-Seite, wo man angab, was man in dem Schuljahr so gemacht hatte. Heute haben die Lehrer jeden Tag mindestens eine Stunde Büroarbeit. Daran wäre ich wohl gescheitert, nicht an den Schülern, aber an der Bürokratie.»[1] – Bichsel und der pädagogische Papierkram!
Wenn das Pädagogische zum ISO-9000-Projekt wird
Die Zeiten sind anders geworden; die Zivilisationsdynamik hat vieles verändert. Das gilt auch für die Schweizer Volksschule. Seit bald 30 Jahren wird unser Bildungssystem tüchtig umgebaut und ausgebaut. Moderner sollte die Schule werden und wirksamer! Zeitgemäss und zukunftsorientiert! Viele Bildungspolitiker setzten allerdings Bildung mit ihrer Reform gleich.
Promotor des Umbaus war der Zürcher Regierungsrat Ernst Buschor. Er unterzog zuerst das Spitalwesen und ab Mitte der 1990er-Jahre auch die Volksschule einer Radikalreform. Der St. Galler Hochschullehrer für Finanzwirtschaft glaubte an die konsequente Effizienzorientierung von Bildungssystemen, an ihre Mess- und Kontrollierbarkeit: das Pädagogische als ISO-9000-Projekt!
Kleinteilig formulierte Kompetenzstufen
Die Schule sollte sich in eine wirkungsvolle Organisation verwandeln, gesteuert von der Bildungsverwaltung. Entsprechend kräftig ist die Administration gewachsen. Buschor hielt das Betriebswirtschaftliche und das Pädagogische für vereinbar – mit entsprechenden Managementmethoden. Sein Credo: Organisationen sind dann effizient, wenn es gelingt, Prozesse zu vereinfachen und Abläufe zu vereinheitlichen. Das ist das eine. Dazu kamen unter anderem zwei frühe Fremdsprachen, der Wechsel vom dialogischen Lernen in der Klassengemeinschaft hin zum selbstorientierten Individuallernen und die forcierte Integration ganz unterschiedlicher Kinder.

Akzente von Unterricht und Lernen verschoben sich. Den Schulen wird nicht mehr vorgegeben, was sie inhaltlich zu vermitteln haben. Detailliert dekretiert und genau geregelt ist nun, was die Schülerinnen und Schüler am Ende einer Zeiteinheit können müssen. Der Lehrplan 21 definiert auf 470 Seiten 363 Kompetenzen sowie 2’304 Kompetenzstufen.[2] Alles sehr kleinteilig! Die staatliche Schulstrategie stellte von der Input- auf die Output-Steuerung um. So sollte die Effizienz schulischer Bildungsarbeit erhöht und die Unterrichtqualität am Outcome gemessen werden. Gemäss Lehrplan 21 lässt sich jedes schulisch vermittelte Wissen als ein Können kontrollieren und überprüfen. Entsprechend wird getestet. Das Kind und sein abrufbarer Output!
Wenn der pädagogische Sinn verloren geht
Diesem Zweck dienen auch die internationalen Schulleistungsvergleiche wie PISA. Nötig sind nationale Bildungsstandards. Sie beschreiben, welche Grundkompetenzen (GK) die Schülerinnen und Schüler während der obligatorischen Schulzeit erwerben sollen. Wer Standards hat, braucht schematisierte Vergleichstests – wie beispielsweise die ÜGK, die Überprüfung der Grundkompetenzen. Standards beschränken Bildung auf ein enges Spektrum von vermessbaren Kompetenzen. Aus der Forschung wissen wir aber, dass eine solche Leistungsdifferenzierung kaum Einfluss auf den Lernerfolg der Schüler hat.
Die wachsende Schematisierung des Unterrichts reduziert die pädagogische Freiheit der Lehrkräfte, und sie schränkt Kreativität und Vielfalt ein.
Und noch etwas zeigt die Wissenschaft: Die wachsende Schematisierung des Unterrichts reduziert die pädagogische Freiheit der Lehrkräfte, und sie schränkt Kreativität und Vielfalt ein. Ausserdem führt sie – und das ist das Tragische – zu einem Verlust an pädagogischem Sinn.[3]
Doch der Rektor der PH Bern findet diese Tatsche «nicht besorgniserregend».
Vieles geschieht, weniges wirkt!
Ob dieses leidige Faktum mit ein Grund für die sinkenden Lernleistungen unserer Schulabgänger ist? Die Resultate der elementaren

Kulturtechniken wie beispielsweise Lesen und Schreiben werden seit Jahren schwächer. Konkret: Ein Viertel der Schüler versteht nach neun Schuljahren einen einfachen Text nicht richtig. Das kümmert die Verantwortlichen in den Stäben und an den Pädagogischen Hochschulen kaum. Eigentlich sollten alle Warnlampen leuchten! Doch der Rektor der PH Bern findet diese Tatsche «nicht besorgniserregend». Benachteiligt sind – einmal mehr – lernschwächere Jugendliche. Die Bildungspolitik müsste sich längst bewusst werden: Vieles geschieht; weniges wirkt.
Peter Bichsel hatte grosse Freiheit und kannte keine Kontrollbürokratie. Er konnte kreativ wirken. Einer seiner Schüler schreibt: «Ich bin überzeugt, dass ich nur dank Peter Bichsel später im Beruf erfolgreich war.»
Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ am Sonntag, 29.06.2025, S. 23. erschienen.
[1] Peter Bichsel (2018), Was wäre, wenn? Ein Gespräch mit Sieglinde Geisel. Zürich: Kampa Verlag AG, S. 135.
[2] Vgl. https://www.lehrplan21.ch/ [abgerufen: 26.06.2025]
[3] Richard Münch/Oliver Wieczorek (2025), Effektive Schulsteuerung? Bilanz einer globalen Reformagenda. Weinheim-Basel: Beltz Juventa, S. 247.