Liebe Leserinnen und Leser des Condorcet-Blogs
Heute soll es mal um einige kontroverse Themen gehen mit einander widersprechenden Ausführungen auch aus dem Bereich der Wissenschaft. Ob das jeweils im theoretischen Sinne unter den Begriff “Hegelsche Dialektik” fällt, vermag ich nicht zu sagen, für philosophische Laien sind es einfach gravierende Widersprüche, und auch die große Politik ist dabei involviert.

Beginnen wir mit der nun schon ubiquitären “digitalen Bildung”, die sowohl ein Verständnis für digitale Geräte als auch das Lernen mit digitalen Geräten einschließt. Wir werden bereits mit Lobeshymnen darauf überschüttet. Lehrstuhlinhaber für eben diese digitale Bildung schwärmen regelrecht davon auf ihren Web-Seiten, z.B. so:
“Insbesondere für die Schule ist es eine zentrale Frage, wer die digitale Bildung (mit-)gestaltet und wie sie gestaltet wird. Digitale Bildung hängt mit wichtigen gesellschaftlichen Themen wie Ungleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit, Vertrauen, Verantwortung, Kritik, Kreativität und Gemeinschaft zusammen.”
Manche meinen tatsächlich, ohne digitale Bildung gäbe es keine Gerechtigkeit, keine Demokratiebildung usw., alle positiv besetzten Begriffe hängen eng damit zusammen, alles, was irgendwie “en vogue” ist.
Digitalisierungs-Lobbyisten verkünden: “Zentraler Bestandteil der digitalen Bildung ist, dass Schüler*innen selbstständig mit den Medien arbeiten”, hier eine Werbebroschüre (Huawei ist auch dabei, rechts unten am Schluss):
Da gibt es gleich eine Agenda-Liste zum Abhaken für die Schulleitungen, so wie sonst Schüler Aufträge bekommen. Man möchte ja “nur” die Schulen “unterstützen”. Ob aber alle Schüler wirklich so selbständig lernen können?

Demgegenüber hält der Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer nicht viel davon. Er hat kürzlich bei condorcet.ch etwas zum “Digitalisierungswahn” geschrieben, eine andere Überschrift von ihm: “Kümmert euch um die Kinder, nicht Tablets.”
Die eine Wissenschaft widerspricht hier also offen einer anderen Wissenschaft. Dass dabei die eine Seite Recht hat und die anderen einen Fehler begeht, ist wohl nicht anzunehmen. Vielmehr scheinen es halt unterschiedliche Disziplinen mit unterschiedlichen Interessen zu sein, eine Begleiterscheinung des Wissenschaftspluralismus, eingebettet in eine Gemengelage mit vielen externen Einflüssen. Politiker scheinen im Sinne der Geschäftsinteressen der Digitalisierungs-Industrie entschieden zu haben, davon zeugt das Hin und Her beim Digitalpakt. Eine Auflösung des Widerspruchs ist kaum in Sicht, eine irgendwie geartete Hegelsche Synthese wird es schwer haben, sich durchzusetzen.
Ein anderer Dauerbrenner bei der Diskussion über Schule ist die Gliederung (nach irgendwie leistungsorientierten Kriterien) oder aber die sog. “inklusive eine Schule für alle”, die als die ultimative Lösung aller Probleme angepriesen wird. Nun haben gerade die Psychologen fundamentale Erkenntnisse darüber angesammelt, was sich alles so quasi hinter unserem Rücken abspielt und wovon ein naiver Normalbürger gar nichts mitbekommt, obwohl auch er dem unterliegt.
Eine solche Erkenntnis ist der “Fischteich-Effekt”, kurz “F-Effekt” (im Original: Big-Fish-Little-Pond-Effekt”), dem niemand von uns entrinnen kann. In jeder Gruppe mit anderen Menschen, in der wir uns befinden, gibt es Vergleiche (auch von uns selbst) zwischen den Individuen: Im Sport wird direkt gemessen, in Schulklassen gibt es Zensuren und das berüchtigte “Sortieren” nach Schulformen, im Kreise von Kollegen gibt es subtile Konkurrenz, selbst wenn es dabei freundlich zugeht. Das alles hat dann einen Einfluss auf unsere Selbstwahrnehmung.
Ein “großer Fisch” im “kleinen Teich” ist eben unangefochten und muss kein Ungemach von anderen befürchten. Kommt derselbe Fisch in einen “großen Teich”, hat er diese Rolle nicht mehr, sondern es gibt vielleicht noch größere Fische. In Schulklassen heißt das: Wer im Vergleich zu den Mitschülern besser ist, hat es leicht; wenn aber andere und bessere da sind, wird es kritisch und das “Selbstwertgefühl” bzw. “Selbstkonzept” sinkt.
Aber genau daraus wird neuerdings im Zuge einer progressiven Begabtenforschung geschlossen, dass begabte (selbst hochbegabte) Schüler es doch in mittelmäßigen oder schwachen Schulklassen viel besser haben, statt sich der unangenehmen Konkurrenz in Gymnasien mit hohem Niveau oder gar in speziellen Eliteklassen zu stellen. Das ist kein schlechter Witz, es steht tatsächlich ernst gemeint in pädagogischen Texten, beispielsweise:
“Für die Bildungspraxis hat der Effekt weitreichende Folgen: Zum Beispiel sagt er vorher, dass im Mittel das schulische Selbstkonzept von jenen Schülerinnen und Schülern sinkt, die nach der Grundschule auf das Gymnasium gehen, weil sie sich dann in der Regel in einer leistungsstärkeren Klasse wiederfinden.”
Hier steht’s:
https://lead.schule/blog/grosser-fisch-im-kleinen-teich-der-big-fish-little-pond-effekt
Auch der Verein “Mensa” für Hochbegabte warnt schon vor dem F-Effekt:
https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb1/prof/PSY/HBF/mindmag77-tgb.pdf
Und mancher empfiehlt angeblich schon, begabte Kinder bewusst in mittelmäßige Schulklassen zu schicken. Die Leute sollen damit sozusagen “geködert” werden, um den Gedanken der Einheitsschule zu propagieren.
Was dann allerdings auch passieren kann: Der “große Fisch” wird als “Streber” gemobbt, und das beeinträchtigt das Wohlbefinden auf andere Art und Weise. Aber davon spricht man in der Pädagogik offenbar nicht.
Offenbar ist das bequeme Wohlfühl-Leben ein lohnendes Ziel geworden: Man ist in der Schule bei den besten, ohne sich anstrengen zu müssen.
Es gibt vereinzelt staatliche Elite-Gymnasien in Deutschland (z.B. ein “Landesgymnasium für Hochbegabte” in Schwäbisch-Gmünd), aber offenbar sind manche Kreise an Gegenpropaganda gegen den naheliegenden und simplen Gedanken interessiert, eigentlich könnte man doch an allen “großen” (also 6-7-zügigen) Schulen einen der Züge für “Begabte” vorsehen, das wäre sogar kostenneutral. Zur Abschreckung führt man jetzt ein sinkendes “Selbstkonzept” ins Feld.
Zur Unterstützung dieser Propaganda teilt der Wiener Bildungspsychologe Thomas Götz, der speziell Emotionsforschung betreibt, zu seinem eigenen vorherigen Musikstudium mit:
“Ich war vorher der Meinung, dass ich ziemlich gut Klavier und Orgel spiele. An der Musikhochschule mit all den Überfliegern dachte ich plötzlich: Eigentlich bin ich gar nicht so gut, wie ich gemeint habe.”
Und es heißt weiter:
“Ähnliche Phänomene lassen sich in Hochbegabtenzügen feststellen. Die zuvor guten Schüler nehmen ihre Leistung nicht mehr als so gut wahr, was mit einem Verlust an positiven Emotionen einhergeht.”
“Letztlich gehe es nicht nur um Leistungsentwicklung, sondern auch darum, wie sich die Schüler fühlen.” Soso, auch bei denen, die nicht hochbegabt sind?
Offenbar ist das bequeme Wohlfühl-Leben ein lohnendes Ziel geworden: Man ist in der Schule bei den besten, ohne sich anstrengen zu müssen.
Aber auf der Universität kann es ein böses Erwachen geben, wenn die subjektiven Fähigkeiten zu sehr von den objektiven abweichen, wie oben mit unfreiwilligem Humor in Bezug auf ein Musikstudium: Man denkt, man sei richtig gut, und dann sind die anderen besser (die “größeren Fische”).
Aber die Pointe kommt noch:
Wenn schon die eigentlich begabten Schüler sich nicht mehr gut fühlen, wenn andere dabei sind, die das irgendwie besser können, wie steht es denn um diejenigen am unteren Ende, die schon in normalen und mittelmäßigen Schulklassen zu den schwächsten gehören? Wohin sollen die, wie steht es um deren “Selbstkonzept”? Allzu schwache Schulklassen sind nämlich inzwischen als “Resterampe” verpönt, man meint, den schwachen Schülern sei mit der Anwesenheit stärkerer Schüler ein Dienst erwiesen.
In dem obigen Link mit “lead.schule” heißt es dann auch:
“Und wir untersuchen, wie sich eine Schulreform in Österreich auf das schulische Selbstkonzept ausgewirkt hat: Nach der Einführung der „Neuen Mittelschule“ wurden die Schülerinnen und Schüler nicht mehr in Leistungsgruppen aufgeteilt. Auf Grundlage des Big-Fish-Little-Pond-Effekts würde man erwarten, dass sich das gemeinschaftliche Unterrichten negativ auf das Selbstkonzept der leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler ausgewirkt hat, da diese nach der Reform mit leistungsstärkeren Kindern unterrichtet wurden. Wir sind gespannt auf die Ergebnisse.”
Das klingt ja — ausnahmesweise — richtig logisch und nicht von übergeordneten politischen Direktiven bestimmt. Dass gerade an Gesamtschulen eine Leistungsdifferenzierung sinnvoll ist, wurde auch schon von anderen betont:
https://guteschuleblog.wordpress.com/2023/02/
Auch hier ist die Begründung, dass die schwachen Leute sich wegen des F-Effekts sonst nicht wohlfühlen bzw. schlechter fühlen. Aber wo in aller Welt bleibt jetzt das, was Inklusion (in der Schweiz: Integration) genannt wird?
Ist es nicht die hochoffizielle Meinung von Wissenschaft und Politik, dass man die Kinder aus Förderschulen bzw. Kleinklassen in normale Regelklassen schicken soll, weil das deren angebliches Menschenrecht ist? Aber der seit 40 Jahren bekannte F-Effekt ist dem diametral entgegengesetzt, weil diese Kinder (bis auf Ausnahmen) keine Chance haben, vom unteren Ende ihrer jeweiligen Schulklasse wegzukommen, was deren (sicher ohnehin angeschlagenes) Selbstkonzept noch weiter ins Bodenlose fallen lässt. Eigentlich doch eine logische Überlegung, sogar vom “Elfenbeimturm” aus betrachtet. Die Inklusion wird wissenschaftlich beforscht, z.B. wird das hier in einer Dissertation auf 200 Seiten dargestellt:
https://www.pedocs.de/volltexte/2021/22194/pdf/Bengel_2021_Schulentwicklung_Inklusion.pdf
Aber ich konnte darin nichts zu der Frage finden, wie sich diese Kinder nun fühlen mögen. Bei den Begabten sorgt man sich rührend um deren subjektive Selbstwahrnehmung und etwaige Frustration, aber bei den Inklusionskindern wird davon nie geredet. Das ist zumindest seltsam.
Darf das nicht diskutiert werden?
Auch Praktiker haben das Problem schon artikuliert, so gab es kürzlich bei condorcet.ch einen Beitrag einer Lehrerin mit dem Titel “Wenn jedes Kind tut, was es will, ist erfolgreicher Unterricht nicht machbar”. Da steht:
“Ein Kind mit Lernschwierigkeiten ist in einer guten Förderschule mit einem hervorragenden Personalschlüssel oft besser aufgehoben, weil es dort täglich Erfolgserlebnisse hat und Selbstbewusstsein tankt, anstatt jeden Tag zu erfahren, dass andere mehr können als es selbst. Wer behauptet, leistungsschwache Kinder würden das nicht merken, nimmt diese Jungen und Mädchen nicht ernst genug.”
Aha, genau das ist der F-Effekt, einfach mal von unten betrachtet statt aus Sicht der Hochbegabten. Fast zynisch klingt es da, wenn die Hochbegabtenförderung immer unter die Überschrift “Inklusion” gestellt wird, so z.B. auch von der Karg-Stiftung. Man artikuliert fast schon panische Angst vor leistungshomogenen Schulklassen, beim Sport mit Sport-Eliteschulen sieht man das aber genau umgekehrt.
Warum nun angeblich die maximale Heterogenität in jeder Schulklasse so segensreich sein soll, das lässt mich vollends ratlos zurück, besonders angesichts des F-Effekts.
Der Widerspruch ist unübersehbar, und die Hegelsche Synthese vermag ich mir nicht vorzustellen. Die Politik wird weiter Illusionen schüren und Widersprüche schönreden, der Streit wird bleiben, alles ausgelöst von dem vertrackten F-Effekt.
In diesem Sinne wünscht einen schönen Sonntag Wolfgang Kühnel