27. April 2025
SP-Grossrat Karim Saïd im Gespräch

Die Frage der Selektion wird in der Westschweiz weniger virulent diskutiert

Karim Saïd ist mit unserem Condorcet-Autor im Frühjahr 2022 in den bernischen Grossen Rat gewählt worden. Der französischsprechende Gymnasiallehrer wurde von seiner Partei auch in die Bildungskommission delegiert, wo er mit Alain Pichard zusammenarbeitet. Das Gespräch mit Romand Karim Saïd, der einen beachtlichen Werdegang hinter sich hat, zeigt gewisse Kulturunterschiede zwischen der welschen und deutschsprachigen Betrachtungen von Schule.

Condorcet

Wir sind gerade am Ende der 12. Session unserer Legislaturperiode. Wie fühlst du dich im Grossen Rat?

Saïd

Mir macht die Arbeit hier Spass. Sie ist interessant, ich lerne viel, und natürlich für mein Spezialgebiet der Bildung bin ich hier sicher am richtigen Platz.

Alain Pichard, Lehrer Sekundarstufe 1, GLP-Grossrat im Kt. Bern und Mitglied der kantonalen Bildungskommission in der auch Karim Saïd sitzt.

Was hat dich bisher besonders beeindruckt?

Ich denke, das ist der respektvolle Umgang zwischen den Lagern und Fraktionen. Man begegnet sich ausserordentlich freundlich, unterschreibt auch ab und zu mal einen Vorstoss aus dem gegnerischen Lager, wenn er einen überzeugt, ohne dass dies einem in den eigenen Reihen übel genommen wird.

Das stimmt, du hast auch unseren Vorstoss zur Beibehaltung der ABU-Abschlussprüfungen mitunterzeichnet.

Genau, wie du auch einen Besoldungsvorschlag unserer Grossrätin Meret Schindler mitunterzeichnet hast…

Wir beurteilst du die Arbeit in der Bildungskommission?

Ich habe mir da mehr grundsätzliche Diskussionen erwartet. Im Vergleich mit anderen Kommissionen hatten wir bisher wenig zu entscheiden.

Das liegt vermutlich daran, dass es derzeit keine grossen Gesetzesrevisionen und Reformen gibt.

Mag sein, aber die Bildung steht ja enorm unter Druck, ich denke da an den Lehrermangel. Aber interessant ist der Austausch mit den Universitäten und der PH, oder der Besuch von Schulstätten und Museen vor Kreditabstimmungen. Wir sind ja auch für die Kultur zuständig.

Reden wir von dir. Du bist Gymnasiallehrer, Mitglied des Grossen Rates, Mitglied der Bildungskommission, neu jetzt auch noch Vizepräsident deiner Fraktion und Präsident der «députation» (Vereinigung der französischsprechenden Grossräte). Ein unglaublicher Werdegang.

Ich habe mich von Anfang an voll engagiert, mich nicht nur in Bildungsfragen vertieft und setzte mich auch für die frankophonen Anliegen ein…

Das ist eine eindrückliche Erfolgsgeschichte. Kann man dich mit deinem Migrationshintergrund als Vorbild einer gelungenen Integration bezeichnen?

Nein, das würde ich so nicht behaupten. Ich hatte nicht die Widerstände, mit denen sich die Einwandererkinder von heute konfrontiert sehen. Ich würde sagen, dass ich eine durchaus herkömmliche schulische Laufbahn absolviert habe.

Und wie lief die?

Ich bin in Bern aufgewachsen und dort in die Schule gegangen….

In Bern? Du bist doch vollkommen in der französischen Kultur integriert!

Ich besuchte die École cantonale de langue française (ECLF) in der Stadt Bern. Dort werden auch heute noch viele Kinder der Bundesbeamten aus der Romandie und auch die Kinder der Diplomaten unterrichtet.

Und wie kam das?

Mein Vater war ein algerischer Staatsbürger. Er war ein Wissenschaftler und besuchte einen Freund, der in der algerischen Botschaft in Bern arbeitete. Während dieses Aufenthaltes lernte er meine Mutter kennen. Sie kam aus dem Kanton Fribourg, arbeitete in der Bundesverwaltung, weshalb sie sich in Bern installierte. Das war in den 70er Jahren.

Du bist also in der Stadt Bern geboren und dort aufgewachsen?

Genau, und zu Hause sprachen wir Französisch. Infolgedessen besuchte ich später das französische Gymnasium in Biel.

Und wie waren die weiteren Stationen?

Auch hier eigentlich völlig normal. Nach der Matur studierte ich an der Universität Neuenburg Mathematik und machte dann die Gymnasiallehrerausbildung in der HEP BEJUNE (Pädagogische Hochschule Bern, Jura, Neuchâtel). Meine erste Stelle hatte ich an der Sekundarschule in Tramelan.

Und wie verlief dein Berufseinstieg?

Ich unterrichtete im Alpengymnasium in Biel und suchte nach dessen Schliessung ziemlich lange eine Stelle als Mathematiklehrer auf der Sekundarstufe 2. Das war nicht einfach. Heute unterrichte ich eine Berufsmaturklasse in Neuenburg. Du siehst, mein Werdegang unterscheidet sich kaum von einem Werdegang eines “normalen” Schweizers.

Kommen wir zu unserem Thema. Was sind für dich derzeit die wichtigsten Probleme in der Bildung?

Der Niveauzerfall – vor allem nach der COVID-Pandemie und den Schulschliessungen.

Das stellst du auch fest?

Ja, ganz klar, die Schüler, die ich unterrichte, können weniger als vorher. Und dann ist da natürlich der Lehrpersonenmangel in der Volksschule. Der ist erdrückend!

Karim Saïd, 39 Jahre alt, Biel, gehört zu den bestangezogenen Grossräten: “In der Schule trage ich keine Krawatte.”

Wo sind für dich die Lösungsansätze?

Na ja, das, was man so verlangt und eure Partei immer ablehnt, bessere Löhne!

Ein Problem ist ja auch die zunehmende Teilzeitarbeit. Hast du nicht das Gefühl, dass dann die Lehrkräfte noch mehr Teilzeit arbeiten?

Schau, ich habe mein Pensum reduziert auf 80% u.a. wegen meines Grossratsmandats. Ich würde gerne mehr verdienen und sicher nicht noch weiter reduziert arbeiten. Und ich glaube, dass würden auch die meisten Lehrkräfte. Nein, ich sehe diese Gefahr nicht.

Ich kann dir sagen, dass beispielsweise die Abschaffung der schulischen Selektion in der Westschweiz nicht so virulent geführt wird, sie ist viel mehr akzeptiert. Ich denke wir müssen vor allem die Durchlässigkeit verbessern.

Reichen Lohnerhöhungen um die Attraktivität zu verbessern?

Nein, natürlich nicht. Sicher muss die Schulbürokratie zurückgefahren werden. Ansonsten, ja, kleinere Klassen, aber da sehe ich, dass dies momentan gar nicht möglich ist, weil uns ja die Lehrpersonen fehlen. Ich unterstütze als Zwischenlösung den Einsatz von Assistenzlehrkräften. Die können – richtig eingesetzt – die Lehrkräfte wirklich entlasten.

Ein Lösungsvorschlag ist ja auch die Digitalisierung.

Oh, da wäre ich zurückhaltend. Unsere Erfahrung mit der Digitalisierung sind gemischt. Sie können einen guten strukturierten Unterricht nicht ersetzen. Das haben wir ja während der COVID-Krise erfahren.

Derzeit forciert deine Partei ja die Abschaffungsdebatten… Abschaffung der Selektion, Abschaffung der Hausaufgaben, Abschaffung der Schulnoten.

Ich kann dir sagen, dass beispielsweise die Abschaffung der schulischen Selektion in der Westschweiz nicht so virulent geführt wird, sie ist viel mehr akzeptiert. Ich denke wir müssen vor allem die Durchlässigkeit verbessern, also beispielsweise, dass jemand vom Realschulniveau leichter ins Sekundarschulniveau aufsteigen kann, wenn sich seine Leistungen verbessern.

In einer idealen Welt kann man sie vielleicht abschaffen, aber als extrinsische Motivation müssen wir sie beibehalten.

Und wie steht es mit den Hausaufgaben?

Die sollten in die Schule integriert werden.

Und die Schulnoten?

In einer idealen Welt kann man sie vielleicht abschaffen, aber als extrinsische Motivation müssen wir sie beibehalten.

Zum Schluss. Mir ist aufgefallen, dass du zu den bestangezogenen Grossräten gehörst, immer mit Anzug und Krawatte… gibst du so auch Schule ?

(lacht) Nein, sicher nicht, also ohne Krawatte. Hier zeige ich einfach meinen Respekt vor der Institution.

Also keine Schuluniformen?
(lacht) Also bei gewissen Outfit-Moden kommen einem solche Gedanken… zum Beispiel bei den  Trainerhosen, aber NEIN,  lassen wir das, wir haben wichtigere Probleme.

 

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