21. Februar 2025
Pädagogik der Privilegierten

Ein Buch, das zum Denken anregt

Der Essay des Erziehungswissenschaftlers Professor Roland Reichenbach ist zwar nicht einfach zu lesen, bringt aber die Widersprüche der gegenwärtigen Bildungsdebatte brillant auf den Punkt. Condorcet-Autor Felix Schmutz fasst in seiner Rezension die wesentlichen Punkte zusammen. Aber Felix Schmutz wäre nicht Felix Schmutz, wenn er seinen wohlgemuten Zuspruch nicht auch mit einer stichfesten Kritik abrunden würde.

Roland Reichenbach, Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft, veröffentlichte vor Kurzem das Buch: «Die Pädagogik der Privilegierten», das er Essay nennt: «In diesem Essay kommentiere und hinterfrage ich pädagogisch und didaktisch verbreitete Vokabeln zum guten oder richtigen Lernen (…).»

Felix Schmutz, Baselland: «Selbstorganisation» wird als innovativ verkauft.

Die Absicht des Buches ist nicht, pädagogische Praktiken zu analysieren und zu beurteilen. Vielmehr widmet es sich einigen gängigen modischen Prinzipien, die den Schulunterricht normativ bestimmen und den Lernerfolg herstellen sollen, befragt diese kritisch auf ihre sprachliche Erscheinung, ihren philosophischen Hintergrund, ihre Logik, ihre Plausibilität und ihre Wirkung. Wegen dieser gedanklichen Tiefe ist das Buch stellenweise anspruchsvoll zu lesen, wenn es auch immer wieder pointiert die gut gemeinte, aber fragwürdige Mentalität dieser pädagogischen Prinzipien entlarvt.

Reichenbach untersucht typische Ideen des reformpädagogischen Diskurses, denen er den Charakter von Mythen zuweist, in sieben Kapiteln: «Eigenerfahrung», «selbstorganisiertes Lernen», «digitales Lernen», «vom Lehren zum Lernen», «eigene Meinung», «gleiche Augenhöhe», «Handlungskompetenz». Nur eines dieser Kapitel soll detaillierter referiert werden, denn es kann hier nicht darum gehen, das ganze Werk Reichenbachs zusammenzufassen.

Leitgedanken des Essays

 

Roland Reichenbach: Ethik ist keine Wissenschaft

In einem einleitenden Kapitel begründet Reichenbach seine Betrachtungsweise mit vier Perspektiven, die seine Argumentation bestimmen:

  1. Schulkritik bedient sich gerne der «Naturmetaphorik»: Biologische, psychologische, organische Bilder und Vergleiche werden bemüht: Die heutige Schule laufe der natürlichen Entwicklung der Kinder zuwider: Kopflastigkeit, Lebensferne, Leistungsorientierung, hirnungerechter Ansatz, etc. Diese Kritik lasse jedoch mehrere Funktionen der Schule ausser Acht: z.B. Schule als Sozialisationsinstanz, als Qualifikationsinstanz, als Selektionsinstanz, etc. Die Verschiebung der Input- zur Outputorientierung im kompetenzorientierten Unterricht kann als Metapher für die Körperfunktion der Nahrungsaufnahme und der Reststoffausscheidung gelesen werden: Die Kompetenzorientierung als Wandel von der oralen zur analen Phase der menschlichen Entwicklung
  2. Die pädagogischen Diskurse bedienen sich vielfach wiederholter Ideen, die das Denken im Sinne von Axiomen prägen. Diesen Ideen liegen oft Überzeugungen zu Grunde, die letztlich auf unbewiesenen Behauptungen beruhen. Zum Beispiel die Annahme, dass alle Kinder von Natur aus neugierig seien und gerne lernen wollten. Tatsächlich? Was aber, wenn – was alle Unterrichtenden kennen – Kinder nicht lernen wollen, dieser Wunschvorstellung also nicht entsprechen? In dieser Weise hinterfragt Reichenbach Maximen, die als gängige pädagogische Münze gehandelt werden. Er zweifelt, dass Erziehungswissenschaft wissenschaftlichen Status beanspruchen dürfe, da sie ihre Erkenntnisse aus den Nachbardisziplinen Psychologie, Soziologie, Geschichte, Philosophie, etc. beziehe und dadurch sehr heterogen und politisch eingebunden sei. Erziehungswissenschaft habe wenig zu konkreten Fragen des Schulunterrichts beizutragen.
  3. Populäre pädagogische Begrifflichkeiten wie Eigenerfahrung, eigene Meinung, kritisches Denken, selbstorganisiertes Lernen, gleiche Augenhöhe, etc. geniessen in unserer säkularisierten Zeit sakralen Status, sind derart positiv besetzt, dass sie sich rationaler Begutachtung widersetzen: Pädagogik rückt in die Nähe einer säkularen Theologie, die nicht angezweifelt werden darf. Die Kehrseite: Während diese als innovativ angesehene Pädagogik den Privilegierten nicht schadet, lässt sie die Schwächeren im Stich, die Anleitung, Führung, Instruktion, kleine Lernschritte, Kontrolle, etc. benötigen.
  4. Privilegiert sind nicht nur Kinder aus sozio-ökonomisch begünstigten Familien, sondern auch kognitiv Begabte, von den Eltern moralisch Unterstützte, und vor allem Sprösslinge der «Bildungslinken», einer Klasse von gebildeten, meist links-liberalen Aufsteigern vom Hippie zum Yuppie, die den Diskurs in Pädagogik und an Universitäten bestimmen und sich kulturell und moralisch überlegen fühlen, den Kontakt zur klassischen «Arbeiterklasse» jedoch verloren haben.

Eine Klasse von gebildeten, meist links-liberalen Aufsteigern vom Hippie zum Yuppie, die den Diskurs in Pädagogik und an Universitäten bestimmen und sich kulturell und moralisch überlegen fühlen, den Kontakt zur klassischen «Arbeiterklasse» jedoch verloren haben.

Lernen ist Akkommodation an Fremdes

Unter den genannten vier Vorzeichen analysiert Reichenbach die oben genannten Themen im Einzelnen. Hier ein Blick auf das Kapitel, das dem «selbstorganisierten Lernen» gewidmet ist.

Selbstorganisieres Lernen ist ein emotional aufgeladenes Konstrukt.

Einleitend weist Reichenbach auf die fragwürdige Formulierung hin. Dass eine Person immer nur selbst lernen kann, bzw. keine fremde Person für sie lernen kann, ist altbekannt und banal. Organisieren heisst eigentlich «vorbereiten, strukturieren, herbeischaffen, Leute zusammenschliessen, für Finanzierung sorgen». Reichenbach stellt in Frage, dass «Organisieren» ein Merkmal des Lernprozesses sei. Die Vokabeln «selbst» und «organisiert» seien lediglich emotional aufgeladene Begriffe, die suggerieren, dass Lernen «auf scheinbar neue Weise «planbar, handhabbar und verfügbar» gemacht werden könnten. (S.78)

Selbstorganisation, Kompetenzentwicklung, konstruktivistisches Lernen speisen sich alle aus dem kategorischen Imperativ zum «lebenslangen Lernen». Die Lehrperson als Coach bietet nur noch «Lernhilfe» zur Stimulierung einer beginnenden Lernbiografie. Diese über das Leben ausgebreitete Lernuntopie lässt allerdings die Frage nach dem Sinn unbeantwortet, besonders wenn die Wechselfälle des Lebens die Selbstorganisation durcheinanderbringen.

Lernprozesse sind Akkommodationsprozesse. Lernende müssen sich Wissen aneignen, das unabhängig von ihrem Selbst besteht und über das sie nicht souverän verfügen können, das sie also nicht «selbst organisieren» können, da es bereits organisiert, d.h. festgelegt ist. Eigentlich gemeint ist deshalb nicht «Organisation», sondern «Selbsttätigkeit» beim Beschaffen von Wissen: Wörterbuch oder Lexikon konsultieren, Farbstifte spitzen, Überlegungen anstellen, wie ein Problem gelöst werden könnte, etc. Dies sind methodisch-didaktische Praxisfragen, die seit je den Unterricht bestimmen, mit dem Slogan «Selbstorganisation» als innovativ verkauft werden sollen.

«Die Fähigkeit zum selbstorganisierten Lernen kann als Kompetenz verstanden werden, die den Schüler/innen ermöglicht, ihr Lernen selbstständig zu organisieren (…).

Im Reich der Tautologie

Im dritten Teil des Kapitels entlarvt Reichenbach die Definition des selbstorganisierten Lernens von Maag Merki et al. als reine Tautologie: «Die Fähigkeit zum selbstorganisierten Lernen kann als Kompetenz verstanden werden, die den Schüler/innen ermöglicht, ihr Lernen selbstständig zu organisieren (…).

Reichenbach dazu: «…erstens: Die Fähigkeit ist eine Kompetenz, und zweitens: Das selbstorganisierte Lernen ist das selbstständig organisierte Lernen.» (S.86) Er wundert sich, dass Personen, die in der Lehrpersonenbildung tätig sind, solchen sinnentleerten und rein suggestiven Slogans aufsitzen, warum sich zum Beispiel niemand überlegt, dass es gar kein «fremdorganisiertes» Lernen geben kann.

Bei der Operationalisierung zitiert Reichenbach Maag Merki mit dem Punkt: «Lernende sind aktiv an ihrem Lernprozess beteiligt.» und wundert sich, ob man denn auch «passiv» am «eigenen Lernprozess» «beteiligt» sein könne (S.86) und zitiert dazu einen Vergleich: «Gelungenes Trinken setzt voraus, dass der Trinkende sich an seinem Trinken beteiligt.» (S.87)

«Lebendiges Lernen statt Stoffvermittlung», «Wissenskonstruktion statt Wissensreproduktion», «Kompetenz- statt Defizitorientierung»

Die Betonung des Selbst

Allerdings besitzen solche pädagogischen Slogans starke Überzeugungskraft. Sie verfangen nach der Formel «X statt Y»: «lebendiges Lernen statt Stoffvermittlung», «Wissenskonstruktion statt Wissensreproduktion», «Kompetenz- statt Defizitorientierung», etc. (S.87) Aufgeladen werden die Slogans durch positiv besetzte Adjektive: «aktives, offenes, entdeckendes, ganzheitliches, kooperatives, selbsttätiges, eigenständiges, nachhaltiges Lernen». Die Macht der Begriffe erdrückt jeden Widerstand, man kann nicht dagegen sein.

Hinter der Betonung des «Selbst» vermutet Reichenbach ein weit verbreitetes illusionäres Lernverständnis von subjektivem Autonomsein, das die Innen-Aussen-Optik betont: «Von innen ist (immer) gut, von aussen nicht so gut, intrinsisch motiviert zu sein immer besser als bloss extrinsisch motiviert zu sein.»(S.88f.) Tatsächlich stammen die Bildungsressourcen meist von aussen, werden vom Ich im Laufe der Zeit erworben. Die Idee des inneren Selbst ist die Übertragung eines zeitlichen Phänomens in eine räumliche Metapher. (zitiert nach David Smail, The Nature of Unhappiness, 2001) (S.89).

Studien zum Wochenplanunterricht (Vorgängerversion des selbstorganisierten Lernens) von Niggli und Kersten zeigten klar, dass in Mathematik nur die leistungsstärksten Jugendlichen profitierten, während die mittelstarken und leistungsschwachen Jugendlichen an Niveau einbüssten.

Schulen werden nach Reichenbach bewertet nach dem Mass, wie sie «selbstorganisiertes Lernen» fördern, jedoch bleibt dabei unbeleuchtet, was inhaltlich gefördert werden soll, welche kulturelle Funktion die Schulen erfüllen. Studien zum Wochenplanunterricht (Vorgängerversion des selbstorganisierten Lernens) von Niggli und Kersten zeigten klar, dass in Mathematik nur die leistungsstärksten Jugendlichen profitierten, während die mittelstarken und leistungsschwachen Jugendlichen an Niveau einbüssten. Ins gleiche Horn stösst die Hattie-Untersuchung, die dem geführten Unterricht evidenzbasiert den grössten Lernerfolg zuschreibt. Erstaunlicherweise hat all dies dem Mythos «selbstorganisiertes Lernen» nicht geschadet.

 Kritische Bemerkung

Abschliessend sei erwähnt, dass zwei formale Erscheinungen die Lektüre des Buches erschweren:

  1. Leider sind viele leidige Tippfehler stehen geblieben. Man stolpert über Sätze mit Präpositionalkonstruktionen, bei denen die Präposition zweimal, einmal an der richtigen und einmal an der falschen Stelle, genannt wird. Einige Male wurden Wörter verstümmelt oder die Endungen abgeschnitten. Das stört den Lesefluss erheblich. Hoffentlich wird das in einer zweiten Auflage ausgemerzt.
  2. Reichenbach bemüht sich um eine absolut gendergerechte Sprache. Die ständigen Doppelnennungen Schülerinnen und Schüler, Ausbildnerinnen und Ausbildner, oft mit Adjektiven erweitert, ermüden ungemein. Ungewohnt auch der pronominale Bezug auf Wörter wie Kind und Mensch, der jeweils mit sie und er, ihr oder ihm, etc. hergestellt wird. Diese Pedanterie, dem Zeitgeschmack zuliebe, dürfte viele zusätzliche Seiten gekostet haben und ich frage mich, wie sehr dies zur Gleichstellung der Geschlechter beiträgt, bzw. ob dies geeignet ist, sexuellen Missbrauch zu verhindern.
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