Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, hat in der vergangenen Woche einen bemerkenswerten Vorstoß gemacht: Das deutsche Schulsystem, so der Grünen-Politiker, bedürfe dringend einer “KI-Revolution”. Wenn die Welt sich durch künstliche Intelligenz verändere, dann müsse das “möglichst schnell” auch in der Schule “abgebildet” werden. Konkret hält Kretschmann den Einsatz von KI-basierten Tutoren-Tools auf dem Handy für sinnvoll. Lehrer sollten die Technologie beim Korrigieren von Klassenarbeiten einsetzen – es sei aber wichtig, dass “in verantwortlichen Fragen”, also bei der Verteilung der Noten, der Mensch entscheide und nicht die Maschine. Na, wenigstens das noch.
Nun ist ganz sicher ein Schelm, wer denkt, Winfried Kretschmann wolle hier durch schillerndes Vokabular wie das der “KI-Revolution” davon ablenken, dass viele Schüler seines Bundeslandes in den vergangenen Jahren etwas anderes viel dringender gebraucht hätten als eine Revolution: einen Therapie-Platz nämlich. Denn obwohl Kretschmann immer wieder gefragt wurde, ob er als Ministerpräsident Reue für einige der Corona-Maßnahmen empfinde – insbesondere für die langen Schulschließungen, sagte er noch vor einem Jahr, er halte es nicht für “ehrlich”, sich zu entschuldigen.
Befremdliches Bildungsverständnis
Gleichzeitig weisen Experten darauf hin, dass der “Peak” an psychisch erkrankten und dadurch nicht zuletzt in ihrer schulischen Leistung beeinträchtigten Jugendlichen erst noch zu erwarten sei. Unabhängig von Corona ist Baden-Württemberg das Bundesland, das im Langzeitvergleich des “Bildungsmonitors” in den letzten zehn Jahren am stärksten verloren hat.
Wirklich befremdlich ist aber das Bildungsverständnis des ehemaligen Gymnasiallehrers Kretschmann, das sich in seinen konkreten Vorschlägen zu Lehrplanveränderungen offenbart: So gab er bereits des Öfteren zu Protokoll, er sei dafür, die zweite Fremdsprache an Schulen abzuschaffen. Sprachen zu lernen sei unnötig in einer Zeit, in der man sich jederzeit einen “Knopf ins Ohr” stecken könne, der dann übersetze, egal, ob das Gegenüber “Spanisch, Polnisch oder Kisuaheli” spreche, so hat er es auf einem medienpolitischen Kongress im letzten November gesagt. In seinem jüngsten Vorstoß ergänzte Kretschmann dies nun um die Ansicht, das Erlernen des Kartenlesens in Geografie sei in Zeiten von Navigationssystemen überflüssig.
Wozu den “Faust” kennen, wenn mir später das Programmieren von Algorithmen die Butter aufs Brot holt?
Hinter all dem steht eine falsche Vorstellung davon, was es bedeutet, sich in der Welt zu “bewegen“ und zu “bewähren” (Kretschmann), und davon, welchen Beitrag die Schule dazu leisten kann. Was als forscher Vorstoß auf der Höhe der Zeit daherkommt, offenbart in Wirklichkeit ein altes Ressentiment gegen die Bildung: Wozu den “Faust” kennen, wenn mir später das Programmieren von Algorithmen die Butter aufs Brot holt? Gegen den Vorstoß führt nun ausgerechnet die AfD das Ideal humanistischer Bildung an, also jene Partei, die mit ihrem faktenenthobenen Geschichtsverständnis gerade versucht, Hitler als Kommunisten ins Gespräch zu bringen.
Ausgerechnet die AfD weibelt für die Beherrschung der Kulturtechniken
Die selbst ansonsten eher für populistische Ausfälle bekannte bildungspolitische Sprecherin der AfD, Nicole Höchst, sagte, es gehe um die “Befähigung von Schülern zu Autonomie, Mündigkeit und zur Übernahme von staatsbürgerlicher Verantwortung für sich selbst und unsere Gesellschaft”. Humanistische Bildung sei “der Schlüssel für eine selbstverwirklichende Teilnahme an dieser”, die “Diskussion über Rahmenlehrpläne und Stundentafeln sollte unter diesen Voraussetzungen stattfinden”. Das ist eine bittere Ironie, macht den Hinweis aber nicht weniger richtig. Denn wer grundsätzliche Kulturtechniken nicht mehr beherrscht, dem hilft auch ChatGPT nicht.
Technologie kann nie Selbstzweck sein – sie kann eine vernünftige Ergänzung sein, aber nur da, wo sie nicht auf ein ohnehin marodes Schulsystem trifft.
Hier trifft also alter Ungeist, der leider schon so manches rot-grüne Bildungsprojekt hierzulande durchweht hat, auf eine Behauptung von Zeitgeistigkeit, die von Unkenntnis der Materie zeugt: dass die Anwendung von Technologie kein Selbstzweck ist, hat unser Nachbarland Dänemark etwa längst verstanden: nachdem sich beim einstigen Digitalisierungs-Vorreiter die Bildungswerte in den letzten Jahren kontinuierlich verschlechtert hatten, ist es gerade dabei, das “digitale Klassenzimmer” wieder abzuwickeln.
Von der Silicon-Valley-Elite ganz zu schweigen, die bekanntlich irrsinnig viel Geld dafür ausgibt, ihren Nachwuchs auf bildschirmfreien Montessori-Schulen unterzubringen. Technologie kann nie Selbstzweck sein – sie kann eine vernünftige Ergänzung sein, aber nur da, wo sie nicht auf ein ohnehin marodes Schulsystem trifft. Das anzuerkennen und entsprechendes Handeln in die Wege zu bringen, wäre eine Revolution.