In Kürze:
Im Kanton Bern beginnen viele Kinder ein Jahr später mit dem Kindergarten.
Eltern entscheiden über die Einschulung.
Lehrpersonen finden einen späteren Eintritt vielfach nicht sinnvoll.
Expertinnen betonen, dass mit einem früheren Start Entwicklungsverzögerungen schneller erkannt werden.
Still im Kreis sitzen. Die Hand hochhalten und dann erst die Frage stellen. Womöglich bereits Aufgabenblätter lösen. Dafür schien ihr Sohn noch nicht bereit zu sein, erzählt eine Mutter aus Bern. Er sei sehr verspielt gewesen. “Der Leistungsdruck fängt noch früh genug an.” Sie und ihr Mann entschieden sich, den Jungen erst ein Jahr später in den Kindergarten zu schicken. Um ihren Sohn zu schützen, will die Mutter anonym bleiben.
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Geboren im April, gehört der Bub zu den Jüngeren seines Jahrgangs. Stichtag ist im Kanton Bern der 31. Juli. Kinder, die bis dahin ihren vierten Geburtstag feiern, werden im August eingeschult.
Kinder, die im Spätsommer oder Herbst geboren sind, wären schon viel weiter gewesen als ihr Sohn, so die Mutter. «Gerade in diesem Alter machen wenige Monate Altersunterschied viel aus.»
Mit einem Kreuz ist die Sache geritzt
Solche oder ähnliche Überlegungen machen sich zahlreiche Eltern. So gehen im Kanton Bern gut 17 Prozent der Kinder erst ein Jahr später in den Kindergarten als vorgesehen, wie Zahlen der Berner Bildungsdirektion zeigen. Das sind in einer Klasse drei bis vier Kinder. Sie müssen danach trotzdem elf Schuljahre absolvieren – einfach um ein Jahr verzögert.
Der zweijährige Kindergarten ist im Kanton Bern seit elf Jahren Pflicht. Eine Folge der schweizweiten Harmonisierung des Bildungswesens. Eine, die auch umstritten war. So wählte man in Bern einen Kompromiss.
Wer sein Kind erst ein Jahr später schicken will, setzt auf dem Anmeldeformular einfach ein entsprechendes Kreuz. Vielerorts müssen die Eltern das Formular dieser Tage einreichen. Mit dem Kreuz ist die Sache geritzt – Behörden und Schulen haben in dieser Sache keine Entscheidungskompetenz.
Der Vergleich im Quartier
Und doch beobachten manche die Tendenz zur späteren Einschulung mit Besorgnis, wie Gespräche mit Kindergartenlehrerinnen und Schulleitungen zeigen. Zumal es sich nicht immer nur um die jüngsten Kinder eines Jahrgangs handle.
Gabriella Huber ist Schulleiterin in Burgdorf und zuständig für die Kindergärten. Sie sagt: “In den letzten Jahren haben die Rückstellungen zugenommen.” Rückstellungen werden die um ein Jahr verzögerten Eintritte genannt. Manche Eltern seien verunsichert, wollten nichts falsch machen, würden ihr Kind mit anderen im Quartier vergleichen, so Huber. Meist handle es sich um gut ausgebildete Eltern.
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Gerade Kinder aus bildungsnahen Familien würden in den ersten Lebensjahren schon genug gefördert und seien bereit für den Kindergarten. Werde dann noch ein Jahr gewartet, seien sie teilweise unterfordert, beobachtet Huber. Und die Schere zu den anderen Kindern werde noch grösser. “Das ist im Sinne der Chancengleichheit nicht förderlich.”
Manche Eltern würden sich erhoffen, dass der Altersvorsprung später in der Schule einen Vorsprung verschaffe, beobachten Kindergartenlehrpersonen. Das ist nicht aus der Luft gegriffen. Der relative Alterseffekt hat einen gewissen Einfluss, wie der Schweizer Bildungsbericht zeigt. Ist ein Kind ein Jahr älter als die Mitschülerinnen und Mitschüler, steigt die Wahrscheinlichkeit, im Lesen zu den Besseren in der Klasse zu gehören, um 2,4 Prozent. Gemäss Fachleuten wirkt sich der Effekt aber – anders als etwa im Sport – in der Schule nur geringfügig aus.
Claudia Roebers, Leiterin der Abteilung Entwicklungspsychologie an der Universität Bern, sagt: “Es gibt Einflüsse, die viel grösser sind als der Altersunterschied.” Etwa das familiäre Umfeld.
Der Entwicklung im Weg stehen
Ein späterer Kindergarteneintritt ist laut Roebers nur in seltenen Fällen förderlich. Beispielsweise wenn ein Familienmitglied einen schweren Unfall hatte. Oder wenn das Kind durch einen Umzug aus dem Umfeld gerissen wurde. “Dann braucht es vielleicht erst noch etwas Zeit, um wieder zur Ruhe zu kommen.”
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In den meisten anderen Fällen stehe man der Entwicklung des Kindes eher im Weg. “Der Kindergarten bietet einmalige Lerngelegenheiten.” So sei der Kontakt zu Gleichaltrigen zentral. Und das Funktionieren in einer Tagesstruktur.
Was ausserdem für den frühen Kindergarteneintritt spricht: Fachpersonen erkennen Entwicklungsverzögerungen schneller, wie Roebers sagt. Die Eltern sehen ihr Kind jeden Tag, merken, dass es Fortschritte macht. “Es fällt ihnen aber schwerer, einen objektiven Massstab anzusetzen.”
Wenn sich ein Kind noch nicht gut ausdrücken kann, ist das laut Roebers kein Grund für einen späteren Kindergarteneintritt. Und Schulleiterin Gabriella Huber sagt: “Die Kinder können beispielsweise mit Unterstützung einer Logopädin gezielt gefördert werden.”
Wecker statt Windeln
Wie steht es mit Windeln? “Kindergartenlehrpersonen wickeln die Kinder nicht”, sagt Huber. Meist finde man aber eine Lösung.
Eine solche hat Marianne Wüthrich, Kindergartenlehrerin in Uettligen, auf Lager – den WC-Wecker. Kinder, die beim Toilettengang noch nicht selbstständig sind, können einen Klingelton wählen. Schlägt der Wecker mitten am Vormittag Alarm, werden sie erinnert, dass es an der Zeit ist. “So gibt es nur selten ein Unglück”, sagt Wüthrich. Auch sie findet Rückstellungen meist nicht sinnvoll.
In Uettligen wie auch in Burgdorf setzen die Schulleitungen auf Elternabende und Gespräche, um das Vertrauen der Eltern zu gewinnen. Ein Gesuch um eine Rückstellung abweisen können sie aber nicht.
Höhere Hürden zeigen Wirkung
In den meisten anderen Kantonen haben die Eltern weniger Freiheiten. Vielerorts entscheidet die Gemeinde oder die Schulbehörden. Mancherorts braucht es auch eine Abklärung durch eine Ärztin oder einen Psychologen. Im Kanton Zürich etwa kann die Schulpflege eine solche anordnen.
Die höheren Hürden zeigen Wirkung. So sind die Rückstellungsquoten in den meisten anderen Kantonen tiefer, liegen etwa in Zürich bei nicht einmal ganz 10 Prozent. In Luzern, Uri und Obwalden sind sie hingegen deutlich höher – liegen bei über 40 Prozent. Dort ist das erste Kindergartenjahr allerdings nach wie vor nicht obligatorisch.
Franziska Schwab von Bildung Bern setzt auf das “gegenseitige Vertrauen”. Die Schulleitung solle mit den Eltern das Gespräch suchen.
Forderungen nach höheren Hürden mögen aber weder die Lehrpersonen noch ihr Berufsverband Bildung Bern laut äussern. Zu gross wäre wohl der Widerstand, zu klein die Aussicht auf politischen Erfolg. So setzt Franziska Schwab von Bildung Bern auf das “gegenseitige Vertrauen”. Die Schulleitung solle mit den Eltern das Gespräch suchen.
Ähnlich klingt es bei der Berner Bildungsdirektion: Die Eltern könnten sich bei den Schulleitungen, der Erziehungsberatung oder der Kinderärztin Rat holen.
Dialog statt Arztbesuch also. Die eingangs erwähnte Mutter ist froh darum. Mit einer psychologischen Abklärung werde suggeriert, dass mit dem Kind etwas nicht stimme. Damit habe es aber gar nichts zu tun. Ihren Entscheid jedenfalls bereut sie nicht. Mittlerweile ist ihr Sohn im zweiten Kindergartenjahr. “Er hat sich von Anfang an sehr wohl gefühlt.”