16 Prozent aller Erwachsenen können einfache Texte nicht lesen. Als Antwort auf dieses Schuldesaster sollen jetzt Väter und Mütter entmündigt werden. Dabei sind sie es, die seit 50 Jahren die Mängel eines kaputtgesparten und kaputtreformierten Systems im Familienalltag ausgleichen.
Es gibt wieder mal erschütternde Nachrichten aus dem deutschen Bildungsland. Die PIAAC-Studie, oft als “Pisa für Erwachsene” tituliert, hat ergeben, dass jeder Fünfte zwischen 16 und 65 nicht in der Lage ist, einfache Texte zu lesen und zu verstehen. Diese Menschen können eine Aufgabe wie diese nicht lösen: “In einer Kita werden die Eltern auf einem Aushang gebeten, ihre Kinder bis spätestens 10:00 Uhr zu bringen. Bis wann sollten die Kinder spätestens eintreffen?”
Beatrice Rammstedt, die Leiterin des deutschen Teils der PIAAC-Studie, macht in der “Süddeutschen Zeitung” einen Lösungsvorschlag: “Studien weisen darauf hin, dass es hilft, wenn Eltern keinen Einfluss auf die Entscheidung haben, auf welche weiterführende Schule ein Kind nach der Grundschule geht. So kann soziale Ungleichheit verringert werden.” Es ist also ganz einfach: Man muss die renitenten Mütter und Väter schulisch entmündigen.
Denn Schuld, so heißt es von links immer, sei das mehrgliedrige deutsche Schulsystem, das Kinder mit unterschiedlichen familiären Bildungsvoraussetzungen zu früh trenne. Und dieser Erzschurke habe Millionen Komplizen, denen das Handwerk gelegt werden müsse: die Eltern. Insbesondere diejenigen aus dem Mittelstand, die nicht bereit seien, ihre privilegierte Brut so lange mit Abkömmlingen marginalisierter Gruppen zusammen in Klassenzimmer hocken zu lassen, bis die Gering-Lesenden sich von den Besser-Lesenden sprachliche Kompetenz abgeschaut hätten.
Es waren doch nicht die Eltern…
Diese Schuldzuweisung ist empörend. Es waren doch nicht die Eltern, die ein funktionierendes Schulsystem kaputtgespart und kaputtreformiert haben, obwohl dort früher zumindest deutschen Kindern sicher Lesen und Schreiben beigebracht wurde – heute gelingt selbst das nur noch unzureichend. Es sind auch nicht die Eltern, die dabei erprobte Mittel wie Fibeln und Lesebücher durch kopierte Zettel und Digitalgedöns ersetzt haben. Sie sind auch nicht daran schuld, dass neue Herausforderungen wie Migration und Inklusion in zu großen Klassen mit zu geringer Personalausstattung bewältigt werden müssen.
Wenn irgendwer das von der Politik geschädigte Bildungssystem gemeinsam mit den guten, engagierten Lehrern überhaupt noch am Laufen hält, dann sind es die Eltern, die Defizite der Schulen ausgleichen. Wenn heute überhaupt noch Kinder die Schulen verlassen, die zum Ingenieur, zum Philosophen, zum Manager, zum Leistungssportler oder zum klassischen Musiker taugen, dann liegt das daran, dass immer noch ausreichend Familien existieren, die nicht alles von der Schule erwarten. Familien, in denen man Kindern vorliest, sie zum Lesen animiert und falsches Deutsch sanft am Küchentisch korrigiert. Solche, die Töchtern und Söhnen selbst Werte vermitteln und das nicht auch noch von den Schulen verlangen. Väter und Mütter, die bei den Hausaufgaben helfen und, wenn das nicht mehr reicht, Nachhilfe bezahlen. Eltern, die ihre Kinder jahrelang zum Musikunterricht und Vereinssport bringen. Und das alles, obwohl beide berufstätig sind.
Viele haben daran mitgewirkt, uns 16 Prozent funktional analphabetische Erwachsene zu bescheren. Politiker, Schul-“Reformer”, Bürokraten, manche Lehrer. Eltern, die nur die beste Bildung für ihre Kinder wollen, gehören nicht zum Täterkreis.
Die Eltern eines erwachsenen funktionalen Analphabeten haben also alles richtig gemacht?
Das würde ich nicht unterschreiben. Man kann natürlich die Eltern von A, die ihrem Kind vorlesen, mit ihm singen, es zum Musikunterricht fahren oder das Einmaleins üben usw. mit den Eltern von B, die das alles nicht machen, in einen Topf werfen und dann etwas umrühren. Das nennt man dann wohl Journalismus.