Frau Dr. Kunkel-Razum, Sie sind eine Instanz, wenn es um die deutsche Sprache geht. Seit drei Jahrzehnten sind Sie für die Duden-Redaktion tätig, seit acht Jahren als deren Leiterin. Ähnlich lange sind Sie auch in verschiedenen sprachwissenschaftlichen Gremien aktiv wie im Rat für deutsche Rechtschreibung. Hatten Sie schon als Schülerin Freude an der Rechtschreibung?
Tatsächlich, so war es. Ich habe gern Diktate geschrieben und einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, das wirklich gut zu machen. Mein erstes lautete übrigens: «Susi, sei leise.» Warum man sich so etwas wohl merkt?
Bei vielen Kindern ist Rechtschreibung äusserst unbeliebt oder sie halten sie nicht für wichtig. Wie erklären Sie sich das?
Zum einen ist Rechtschreibung anstrengend, man muss sich konzentrieren, man muss Regeln lernen und sich auch mit den Ausnahmen von den Regeln auseinandersetzen. Ehrlich gesagt glaube ich auch, dass es einen wirklich hohen Übungsanteil braucht, um sich die Schreibungen einzuprägen. Zum anderen müssen die Kinder auch verstehen, «warum es nicht egal ist, wie wir schreiben», um einen Buchtitel von uns zu zitieren.
Ist es überhaupt möglich, Kinder für etwas eher Trockenes wie Rechtschreibung zu begeistern oder zumindest zu motivieren?
Ich glaube schon. Lesen und schreiben zu lernen, sich ganz neue Möglichkeiten der Welterkundung zu erschließen, macht vielen Kindern bestimmt Spaß. Und wie so oft scheint es mir so zu sein, dass die Motivation über einen engagierten Unterricht hergestellt werden kann. Mein Mann erzählt noch heute vom Vogel-V und dem Feuer-F, die sein Deutschlehrer offenbar sehr einprägsam vermittelt hat.
Glaubt man den ungezählten einschlägigen Medienberichten, ist es um die Lese- und Schreibkompetenz der Fünfzehnjährigen quasi von Jahr zu Jahr schlechter bestellt. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Die Studienergebnisse sind eindeutig – die Leistungen haben sich verschlechtert. Ich wundere mich immer nur, dass die Ergebnisse kurz Einzug in die Medien halten, dann aber die umfassende öffentliche Diskussion dazu ausbleibt. Hier geht es immerhin um die Grundfertigkeiten ganzer Generationen in Lesen, Schreiben und Rechnen, also die Fertigkeiten, die Voraussetzung sind, um die Welt zu verstehen und sich sicher in ihr zu bewegen. Meines Erachtens braucht es das Engagement aller, also der Eltern, der Schule, der Kinder selbst, aber auch vieler Engagierter, wie das die Lesepatinnen und -paten in Deutschland beispielsweise sind, um die Ergebnisse wieder ins Positive zu wenden.
Woher kommt der vermeintliche Leistungsabfall? Liegt es an den Jugendlichen oder am Lehrpersonal oder gar an den vielen pädagogischen Reformen der letzten Zeit?
Sicher gibt es nicht die eine Ursache. Natürlich haben wir eine ganz andere Zusammensetzung von Schulklassen als noch vor dreißig Jahren mit Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist (wobei das beim Erlernen der Orthografie gar kein Nachteil sein muss), denen die Eltern bei den Hausaufgaben und Übungen zu Hause nicht helfen können. Der Stellenwert von Rechtschreibung im Deutschunterricht hat sich verschoben zugunsten mündlicher Kompetenzen (siehe unten), der Anteil an Übungseinheiten hat abgenommen. Das Lehrpersonal hat viel anderes zu leisten, das vom eigentlichen Unterricht wegführt, usw., usf. Das ist alles lange bekannt. Auch der ein oder andere lange vertretene methodische Ansatz (Fehler werden in den ersten Jahren nicht korrigiert; «Schreiben nach Gehör») wird heute kritisch hinterfragt. Und wenn ein deutscher Ministerpräsident, ehemaliger Lehrer, den Standpunkt vertritt, Rechtschreibung müsse man heute nicht mehr lernen, die würde ja das Handy ohnehin korrigieren, hinterlässt das auch seine Spuren.
Braucht es ergo wieder einen strengeren Deutschunterricht?
Der Stellenwert des (Lesens und) Schreibens muss sicher wieder gefestigt werden. Als unser Sohn zur Schule ging, wurde im Deutschunterricht sehr großer Wert auf die mündlichen Kompetenzen gelegt, z.B. durch Präsentationsübungen. Ohne das eine gegen das andere ausspielen zu wollen: Die Waage war da vielleicht ein bisschen zu stark in die eine Richtung geneigt. Es spielt eben auch eine Rolle, ob der Text auf den Präsentationsfolien stimmt und rechtschreiblich gut geschrieben ist, das gilt übrigens auch für Sachkunde, Geschichte und Biologie.
Diktate werden heute aus didaktischer Perspektive kritisch hinterfragt, bei Eltern sind sie aber offenbar immer noch beliebt – unsere Diktattrainingsmaterialien verkaufen sich nach wie vor sehr gut.
Man erhält den Eindruck, dass Rechtschreibung der Schule und auch den Eltern nicht mehr so wichtig ist. Diktate, vor denen wir einst als Schulkinder so viel Respekt hatten, scheinen zu verschwinden. Rechtschreibfehler werden toleriert, nicht zuletzt, weil sie in den sozialen Medien gang und gäbe sind. Und es entstehen neue Konzepte wie «Schreiben nach Gehör». Was halten Sie davon?
Diktate werden heute aus didaktischer Perspektive kritisch hinterfragt, bei Eltern sind sie aber offenbar immer noch beliebt – unsere Diktattrainingsmaterialien verkaufen sich nach wie vor sehr gut. Aber es ist richtig, Rechtschreibung hat nicht mehr den Stellenwert, den sie früher hatte, auch ihr Sozialprestige hat durchaus abgenommen. Dennoch – die Beherrschung der Rechtschreibregeln bleibt ein essenzielles Kulturgut und Voraussetzung für eine umfassende Beteiligung am gesellschaftlichen Leben. Hier den Blick nur auf die Rechtschreibregeln zu werfen, ist etwas verkürzend: Es kommt ebenso darauf an, Texte gut zu gliedern, verständlich und klar zu formulieren. Auch hier gibt es durchaus Probleme. Es darf bei all dem nicht vergessen werden, dass so viel geschrieben wird wie wahrscheinlich noch nie vorher. Denken wir nicht nur an all unsere Äußerungen in den sozialen Medien, sondern auch an all die Dokumentationen zu Arbeitsprozessen, Geräten u.Ä.
Inwiefern, glauben Sie, hängt die viel beklagte Lese- und Schreibschwäche mit dem Verschwinden der Handschrift zusammen? Ist das sorgfältige Schreiben per Hand nicht auch ein sprachlicher Denkprozess?
Wenn man sich entsprechende Studien ansieht, scheint es einen Zusammenhang zu geben. Unter anderem sind die Kinder beim Handschreiben generell unsicherer und deutlich langsamer als früher. Hinzu kommt häufig eine undeutliche Handschrift, die Buchstaben werden nicht richtig ausgeführt, was wiederum zu (vermeintlichen) Rechtschreibfehlern führen kann.
Das heißt ja auf gar keinen Fall, dass die Kinder ihre Herkunftssprache verleugnen sollen, im Gegenteil – die Mehrsprachigkeit der Kinder birgt ein großes Potenzial und ist ein Schatz. Dennoch führt kein Weg daran vorbei, dass sich Bildungserfolg auch über das Beherrschen der deutschen Sprache einstellt.
Viele Schulen ächzen unter den Herausforderungen, die ein hoher Anteil fremdsprachiger und aus anderen Kulturen stammender Kinder mit sich bringt. Hat da die gute alte deutsche Rechtschreibung überhaupt noch eine Existenzberechtigung im Unterricht? Integration und Inklusion scheinen heute die wichtigsten aller Bildungsaufträge zu sein und eben nicht das Rechnen, Schreiben und Lesen.
Integration und Inklusion spielen natürlich eine herausragende Rolle in den Schulen und Bildungseinrichtungen insgesamt, aber man kann doch das eine ohne das andere gar nicht denken – auch Inklusion und Integration funktionieren ganz wesentlich über Sprache, und zwar eine gemeinsame Sprache. Das heißt ja auf gar keinen Fall, dass die Kinder ihre Herkunftssprache verleugnen sollen, im Gegenteil – die Mehrsprachigkeit der Kinder birgt ein großes Potenzial und ist ein Schatz. Dennoch führt kein Weg daran vorbei, dass sich Bildungserfolg auch über das Beherrschen der deutschen Sprache einstellt.
Hand aufs Herz: Warum braucht es überhaupt Rechtschreiberegeln? Ist es nicht egal, ob ich Tollpatsch mit einem oder zwei l schreibe? («Historisch» richtig wäre ja die Version mit einem l, da das Wort nicht von deutsch «toll», sondern von ungarisch «talpas» kommt, einem scherzhaften Ausdruck für Fusssoldat.)
Ich vergleiche Rechtschreibregeln ganz gern mit Verkehrsregeln – beide erleichtern uns das Leben entscheidend. Bei Rechtschreibregeln versuche ich immer zu vermitteln, dass sie ja nicht nur für die Schreibenden, sondern vor allem auch für die Lesenden da sind – wir alle können uns einen Text viel leichter erschließen, wenn er nach einheitlichen Rechtschreibregeln verfasst ist. Jede Abweichung kostet Zeit und Aufwand.
Das Deutsch in den Briefen Mozarts ist sein ganz persönliches. Eine «Freundin» wird gerne mal zur «Freindin». Sein Italienisch hingegen folgt höchst akkurat den Regeln der Orthografie. Ist Rechtschreibung vor allem in der deutschen Sprache ein Problem?
Da ist etwas dran: Italienisch und auch Spanisch haben vergleichsweise einfache Orthografien, das Prinzip «Schreibe, wie du sprichst» gilt hier viel stärker als im Deutschen oder gar im Englischen. Übrigens hat ja Konrad Duden einige Jahre als Hauslehrer in Italien gearbeitet und sich dabei auch mit Italienisch beschäftigt, das immer eine bestimmte Vorbildrolle für seine Beschäftigung mit der deutschen Rechtschreibung eingenommen hat.
Folgendes Szenario machte jüngst die Runde: Eine nonbinäre «Lehrperson» steht vor einer Schulklasse und verlangt von den Kindern und Eltern, das von dieser Person selbsterfundene Pronomen «per» zu verwenden. Ist es in Ordnung, von Schulkindern aus einer eigenen Befindlichkeit heraus eine Phantasie- oder Parallel-Grammatik einzufordern?
Ich würde das anders betrachten: Wir haben in Deutschland eine Gesetzeslage, die es Menschen ermöglicht, ein drittes Geschlecht ins Personenstandsregister eintragen zu lassen, nämlich «divers». Dafür gibt es bisher kein entsprechendes Pronomen, «sie» oder «er» können aber eben nicht verwendet werden. Zwar gibt es einige Vorschläge wie beispielsweise «en», «hen» oder «xier», aber im Deutschen hat sich, anders als beispielsweise im Schwedischen, keines durchgesetzt. Warum das so ist, bleibt Gegenstand von Untersuchungen. Dass hier aber sprachlich experimentiert wird, ist nicht überraschend. Neue (oder neu anerkannte) Realitäten brauchen ggf. auch neue sprachliche Ausdrucksformen. Ob aber eine Lehrperson das von ihrer Schulklasse fordern sollte, möchte ich nicht bewerten.
Wie weit darf die «Gendersprache», die in vielfacher Hinsicht ungrammatisch und ideologisch geladen ist, in den Deutschunterricht überhaupt Einzug halten?
Als Gegenstand der Sprachreflexion sollte das Thema geschlechterinklusiver Sprachgebrauch Einzug in den Deutschunterricht der oberen Klassen halten. In Schulbüchern in Deutschland ist das auch längst der Fall. Immerhin liegt hier eine der größten Sprachentwicklungen der letzten Jahrzehnte vor, egal, wie man sie bewertet, und damit sollten sich Schüler*innen auseinandersetzen. Aus meiner Sicht nicht vorgeschrieben werden sollte der Einsatz der Genderzeichen, also Gendersternchen oder Gender-Doppelpunkt, allerdings sollte er aus meiner persönlichen Sicht auch nicht verboten werden.
Die öffentliche Debatte um die sogenannt gendergerechte Sprache zeigt, wie emotional auf die Regulierung der Sprache «von oben» reagiert wird. Das ist auch bei der Rechtschreibereform nicht anders. Wie kann man diesen Rausch der Gefühle, der manchmal bis ins Gehässige kippt, erklären?
Ja, das ist etwas, was ich in den letzten 28 Jahren wirklich gelernt habe: Sprachthemen sind immer emotionale Themen. Sie gehen die Menschen offenbar im tiefsten Innern an, berühren sie, sind Teil ihrer Identität. Aber sie werden auch stellvertretend für andere, dahinterliegende, Themen instrumentalisiert. Ich wünsche mir, dass wie bei anderen Auseinandersetzungen auch, genauer hingeschaut wird, wie man miteinander umgeht. Hass, Beschimpfungen und Beleidigungen sollten hier keinen Platz haben, abgesehen davon, dass sie auch kein einziges Problem lösen.
Wie sind Sie persönlich mit derlei Feindseligkeiten gegenüber der Rechtschreibreform umgegangen?
Das waren herausfordernde Jahre für uns alle in der Redaktion. Insgesamt hilft nur, zu versuchen, die Ruhe zu bewahren, sich manchmal ein etwas dickeres Fell zuzulegen und geduldig zu erklären, warum man etwas so oder so sieht, und seinen Standpunkt abzuwägen, zu begründen und zu verteidigen. Auch wenn er nicht immer allen gefällt.
Sie gehen bald in den Ruhestand. Wird Ihnen die Auseinandersetzung um die Weiterentwicklung der deutschen Sprache fehlen?
Ja. Wenn man diesen Beruf so lange ausgeübt hat und er immer mehr war als ein Beruf, klappt man nicht einfach den Rechner zu und schließt Augen und Ohren, wenn es um das Thema Sprache geht. Und sie bleibt ja auch bei mir – wie bei allen Menschen – Teil der eigenen Identität.
Immer wieder dasselbe Lied – man mag es bald nicht mehr hören: Die Schule von heute vernachlässigt ihre zentralen Aufgaben. Ständig, willentlich und das mehr als nur fahrlässig.
Würde ein(e) Fluglehrer(in) so arbeiten, würde kein Flugschüler, keine Flugschülerin überleben.
Ein Teil der Geringschätzung der Orthografie ist darauf zurückzuführen, dass die Sprachwissenschaft das Regelwerk (richtigerweise) als normative Konvention mit willkürlichen Festlegungen darstellt. Damit untergräbt sie im Bewusstsein der Lehrpersonen ein Stück weit die Autorität des Dudens und die Bedeutung genormten Schreibens, was vermutlich gar nie Absicht der Wissenschaft war. Es fand eine Art didaktische Dekonstruktion der Orthografie statt.
Der Sinn einer genormten Rechtschreibung besteht in der spontanen Verständlichkeit der Texte, im sofortigen Wiedererkennen der Wörter und der grammatischen Bezüge. Man kann sich auf den Inhalt konzentrieren und muss nicht lange rätseln, was gemeint ist.
Einen Anteil an der Misere der Rechtschreibung hat sicher auch deren misslungene Reform. Das waren die goldenen Jahre des Duden-Verlags, der mit Neuerscheinungen immer wieder Kasse machen konnte. Die Rechtfertigung, man könne bei der Rechtschreibereform nicht immer allen gefallen, ist ziemlich genau das Gegenteil dessen, was effektiv geschah: Mit den unsäglichen Kann-Regeln öffnete man die Tore für eine Beliebigkeit, die letzten Endes Gift war für klare Verhältnisse. Doch das Debakel wird nun mit der Gender-Sprache weitergeführt. Wozu brauchen wir den Rat der deutschen Rechtschreibung, wenn dieser vor jeder Mode kuscht?