16. September 2024
Integrationsprobleme in Deutschland

“Notenschnitt von 5,5 – aber alle werden versetzt”, schüttelt der “Arche”-Sprecher den Kopf

Kürzlich schlugen die Vertreter des Berliner Hilfswerks “Arche” Alarm: Deutschland stehe an einem Kipppunkt. Entweder brauche es einen Aufnahmestopp für Migranten oder endlich echte Integration. Ein Besuch vor Ort zeigt, mit welchen Problemen die Mitarbeiter wirklich kämpfen. Wir bringen einen Bericht der WELT-Journalistin Carlotta Vorbrüggen.

Es ist 12.38 Uhr, und Dayo, Anthony, Kevin, Xavi und Arman* haben aufgegessen. Es gab Klöße und Krautsalat. Arman schlägt Anthony auf die Schulter. “Ey, dein Bruder guckt auf Mädchen.” Anthony verdreht die Augen. “Und der ist kriminell”, sagt Kevin und zeigt auf Dayo. Alle lachen. “Es gibt Streit normal, wie ein Mann komm‘ ich dann”, sagt Arman. Er lässt die Rückseite seiner flachen rechten Hand in die Innenseite seiner linken klatschen. Arman ist elf Jahre alt und der Kleinste in der Runde.

Gastautorin Carlotta Vorbrüggen, Journalistin bei der “Welt”

Wie mehr als 1300 andere Kinder und Jugendliche besuchen die Jungs die “Arche” in Berlin-Hellersdorf. Das christliche Hilfswerk bietet ihnen jeden Tag ein warmes Mittagessen, Hilfe bei den Hausaufgaben und ein offenes Ohr – alles finanziert durch Spenden. Von den 13- bis 18-Jährigen hat die Hälfte hier einen Migrationshintergrund, bei den Kindern sind es fast alle. Viele gehen auf Brennpunktschulen, die Eltern sprechen nur selten Deutsch.

Kürzlich schlug die “Arche” deshalb Alarm. Ihr Gründer, der Pastor Bernd Siggelkow, und ihr Pressesprecher Wolfgang Büscher erklärten in Interviews, Deutschland stehe an einem Kipppunkt. Entweder müsse man die Grenzen dichtmachen oder endlich damit anfangen, geflüchtete Menschen wirklich zu integrieren. Sonst sei die Gefahr groß, sie an Islamisten und Kriminelle zu verlieren.

Politiker statteten der “Arche” zwar gern einen Besuch ab, um sich dort fotografieren zu lassen, danach gelte aber wieder: aus den Augen, aus dem Sinn.

 

Schon jetzt berichten die “Arche”-Mitarbeiter von radikalen Moscheen, die sich um perspektivlose Jugendliche bemühten. Ein Berliner Clan-Chef habe zu seinem Geburtstag die Kinder der Stadt in einen Park eingeladen und Döner verteilt. Politiker statteten der “Arche” zwar gern einen Besuch ab, um sich dort fotografieren zu lassen, danach gelte aber wieder: aus den Augen, aus dem Sinn.

Ein Tag in der “Arche” zeigt, dass es keine nachhaltige Migrationspolitik in Deutschland gibt und die “Arche”-Kinder ohne privates Engagement kaum eine Perspektive hätten.

Arche ist sauer und fühlt sich im Stich gelassen

“Die Arche” steht in bunten Buchstaben an dem ehemaligen Schulgebäude in Hellersdorf. Ringsum ragen Plattenbauten in den leicht bewölkten Himmel. In Berlin sind Sommerferien, doch die Kinder, die hier leben, fahren nicht mit ihren Eltern an die Ostsee oder nach Südfrankreich. Sie sind in der “Arche”, spielen Fußball und Kicker, quasseln mit den Mitarbeitern und essen gemeinsam.

Innen ist es kühl. Wolfgang Büscher geht einen langen Flur entlang zu einem Raum, in dem sich die Jugendlichen treffen. “Offener Bereich” heißt der. Gerade ist er leer, die Jugendlichen kommen meist erst am Nachmittag. An der Wand hängen die Hausregeln. “In der Arche wird Deutsch gesprochen”, lautet eine der Regeln. Büscher lässt sich in einen Ledersessel fallen. Er ist sauer und fühlt sich von den Politikern im Stich gelassen. Sein größter Kritikpunkt sind die Brennpunktschulen. In Hellersdorf kämpften die Schulen mit einem Migrationsanteil von bis zu 90 Prozent. Kinder hätten kaum eine Chance, Deutsch zu lernen.

Die Hausregeln finden sich an vielen Wänden in der “Arche”. (Bild: Amin Akhtar/WELT)

“In der ‘Arche’ haben wir einen Notendurchschnitt von 5,5, aber alle Kinder wurden versetzt.” Er schüttelt den Kopf. Viele bekämen die Mittlere Reife und hätten nur Fünfen und Sechsen auf dem Zeugnis. “Ein Scheinabschluss, damit die Statistik stimmt.” Büscher findet, man müsse Kinder mit Migrationshintergrund intelligenter verteilen und zur Not einen längeren Schulweg in Kauf nehmen.

“Wenn du ein ‘Arche’-Kind fragst, was es werden möchte, dann sagt es Influencer. Wenn das nicht geht, dann ‘Arche’-Mitarbeiter, und wenn das nicht geht, dann Bürgergeld-Empfänger.”

 

Neulich war er Gast in einer Radio-Talkrunde. Er habe viel Zustimmung der anderen Gäste erhalten. Nach der Sendung sei eine SPD-Politikerin zu ihm gekommen und habe gesagt: “Aber Herr Büscher, wollen Sie, dass diese Kinder mit Ihren Kindern auf eine gemeinsame Schule gehen?” Genau das sei das Problem, findet Büscher.

Bernd Siggelkow hat den Jugendtreff betreten und ebenfalls auf einem der Sessel Platz genommen. Knapp 30 Jahre ist es her, dass er die “Arche” gegründet hat. Die Eltern der Kinder, sagt er, seien häufig Bürgergeld-Empfänger. Viele der Kinder zögen in Betracht, später selbst einmal zu beziehen. “Wenn du ein ‘Arche’-Kind fragst, was es werden möchte, dann sagt es Influencer. Wenn das nicht geht, dann ‘Arche’-Mitarbeiter, und wenn das nicht geht, dann Bürgergeld-Empfänger.”

“Beim Bürgergeld drängt sich mir die Frage auf: Hat hier jeder Narrenfreiheit?”

Durch die Muttermilch indoktrinierter Antisemitismus

Büscher bereitet noch etwas Sorgen: die Radikalisierung arabischstämmiger Kinder und Jugendlicher. In sozialen Medien hörten sie Predigern zu, die Israelhass säten. Einmal habe er nach einer Veranstaltung vergessen, einen Anstecker mit einer deutsch-israelischen Flagge von seinem Hemd zu nehmen, erzählt Büscher. Ein kleiner Junge sei zu ihm gekommen und habe gesagt: “Ich hasse dich.” Auf die Frage, warum, habe der Junge geantwortet: “Wir müssen alle Israelis töten. Mein Opa kommt aus Palästina.” Antisemitismus sitze bei diesen Kindern tief, sagt Siggelkow. “Indoktriniert durch die Muttermilch.”

Es ist einen Moment ruhig im “Offenen Bereich”, dann tippt Büscher mit seinem Zeigefinger auf das Ziffernblatt seiner Uhr. “Jetzt essen die Kids.”

Wolfgang Büscher würde die Brennpunktschulen am liebsten abschaffen. (Bild: Amin Akhtar/WELT)

Die Kantine liegt ein Stockwerk tiefer, die Wände sind bemalt mit Äpfeln, Trauben und Bananen. Ein Junge sitzt allein an einem großen Tisch. Jamie heißt er, zehn Jahre alt. Am besten an der “Arche” sei der Gummiraum, sagt er. Dort könne man toben, ohne sich zu verletzen. Manchmal streite er sich mit anderen Kindern, “wegen meinem ADHS”. Später möchte er zur Bundeswehr. “So wie die Freunde von meinem Papa, die sind bei der Marine.”

Dayo, Arman, Anthony, Kevin und Xavi sitzen zwei Tische weiter und sprechen über die Schule. Alle fünf sind einer Meinung: Schule ist scheiße.

Xavi: “Die Lehrer schreien ohne Grund.”

Dayo: “Die Jungs müssen im Sport immer allein aufräumen, die Mädchen nie.”

Arman: “Schule ist Kinderknast.”

Anthony: “Die Lehrer sind auch rassistisch.”

Sie finden, in der Schule lerne man nicht die Dinge, die man im Leben wirklich braucht – etwa “wie man Steuern bezahlt”. Anthony, Kevin und Xavi wollen später mal Fußballer werden. “Ne” Xavi lacht und zeigt auf Kevin. “Der wird Drogenverteiler.” Auch Dayo hat einen Plan, der Elfjährige möchte U-Bahnfahrer werden. Pro Station bekomme man zehn Euro.

Die Kantine leert sich. Jamie ist aufgestanden und schlendert die langen Flure entlang ins “Kinder-Café”. Dort gibt es eine Sitzecke und einen Kicker. “Du bist ein Talahon!”, brüllt der zehnjährige Fabian. Er trägt ein Basecap von Adidas und steht spielbereit am Kicker. Jamie tritt das Match an. Was ein Talahon sei? “Bauchtasche von Gucci, läuft mit Tablet rum, fährt E-Scooter”, erklärt Fabian. “Flo, darf ich böse Wörter sagen?”, fragt er einen Betreuer. “Nein”, lautet dessen Antwort. Fabian überlegt. “Die sagen doofe Sachen über Mädchen und erstechen Kinder.”

Jungs hören besser auf Männer als auf Frauen

Setayesch schaltet sich ein, sie kommt aus Afghanistan und ist zwölf Jahre alt. Ihr Cousin sei ein Talahon. “Die klären Mädels und dann gehen die fremd”, sagt sie. Außerdem spuckten sie auf den Boden und beleidigten “auf andere Level”. Setayesch erzählt auch von zu Hause. Ihr Vater sei sehr streng. Sie müsse viel aufräumen, ihre Brüder nicht. Mit der “Arche” ins Feriencamp fahren, habe ihr Vater nicht erlaubt. “Weil da Jungs sind”, sagt sie.

Die zwölfjährige Setayesch sitzt im “Kinder-Café”. (Bild: Amin Akhtar/WELT)

Im “Kinder-Café” steht auch Florian Egert, ein großer, schlanker Mann mit Glatze, 48 Jahre alt. Er leitet bei der “Arche” den Kinder- und Sportbereich. Egert sagt, er arbeite gern hier. Doch die “Arche” stehe vor Herausforderungen. Mehr geflüchtete Kinder, rund 20 verschiedene Nationalitäten. Der Sprachgebrauch sei roher geworden, Kinder explodierten bei Kleinigkeiten. Es werde mehr geschubst, getreten und geschlagen als früher. Hochexplosiv werde es vor allem dann, wenn es um die Ehre der Familie gehe. Und die Jungs, sagt Egert, hörten besser auf Männer als auf Frauen.

Hochexplosiv wird es vor allem dann, wenn es um die Ehre der Familie geht.

 

Von draußen sind Schreie und Pfiffe zu hören. Auf dem Fußballplatz spielen zehn Jungs Fußball auf Socken, um den Kunstrasen zu schonen. “Fußball ist Zukunft” steht auf der Bande, die das gesamte Feld umschließt. Alle reden Deutsch. Ein Junge steht am Rand und schaut zu, er sagt etwas. “Halt die Fresse”, entgegnet einer der Spieler. “Du spielst nicht mal mit.”

Das Spiel geht weiter. Tore fallen selten, der Ton ist streng. Plötzlich bricht Streit aus. Eine “Arche”-Mitarbeiterin schaltet sich ein. Ein Junge soll zu Kevin, der vietnamesische Wurzeln hat, “Reisfresser” gesagt haben. “Ich hab‘ das nicht gesagt”, beteuert der Junge, der um die 11 Jahre alt sein dürfte. “Ich schwöre auf meine Mutter.” Er habe Kevin nicht beleidigt, er habe nur einmal “Hurensohn” gesagt. Die Mitarbeiterin entscheidet, dass der Junge die Rote Karte bekommt. Das bedeutet, dass er die Arche verlassen muss und erst morgen wiederkommen darf. Der Junge fängt an zu weinen und verlässt den Platz.

Fußballer – das möchten die meisten Jungs in der “Arche” später werden. (Bild: Amin Akhtar/WELT)

Inzwischen ist es 15 Uhr, immer mehr Jugendliche sind in der Arche eingetroffen. Der “Offene Bereich” ist gut besucht. Drei Jungs zocken an einem Bildschirm, eine Gruppe Mädchen hat die Sessel bezogen. An einem Tisch sitzen Safa und Asenat – 17 und 15 Jahre alt. Safa stammt aus dem Irak, ihre beste Freundin Asenat aus Afghanistan.

Gewaltbereitschaft und falsche Vorbilder

Auch sie spüren, dass die Gewaltbereitschaft gestiegen ist. “Arabischstämmige Kinder neigen zu mehr Gewalt, weil ihre Kultur gewalttätiger ist”, sagt Asenat. “Sie sind einfach damit aufwachsen.” Viele Jugendliche würden Anerkennung suchen durch Gewalt, fügt Safa hinzu. Corona habe das verschlimmert. Es sei alles verboten gewesen, Jugendliche seien schlechter in der Schule geworden und hätten die Hoffnung auf eine gute Zukunft verloren. “Dann wird man depressiv und weniger selbstbewusst”, sagt Asenat. “Und mit wenig Selbstbewusstsein sucht man nach Vorbildern im Internet”, erwidert Safa. Oft seien das die falschen.

Die Jungs im “Offenen Bereich” zocken gemeinsam. (Bild: Amin Akhtar/WELT)

Das mit den falschen Vorbildern sei auch ein Thema beim Nahost-Konflikt. Menschen propagandierten Hass und Falschinformationen, das sei sehr gefährlich, sagt Safa. Man müsse die Vergangenheit ruhen lassen. “Ich bin Jesidin. Mein Opa wurde von Arabern getötet. Soll ich Asenat deshalb hassen, weil sie Muslimin ist? Nein, sie ist meine beste Freundin.” Sie sei nicht für Gaza oder für Israel, dafür wisse sie zu wenig. Sie sei für Frieden.

“Safa wird irgendwann Politikerin”, sagt Asenat und lacht. Safa lächelt. Sie hat bereits Pläne für die Zukunft. Sie möchte Medizin studieren und Frauenärztin werden. Dann wolle sie ein paar Jahre im Irak arbeiten und den Frauen und Mädchen dort helfen.

Safa (rechts) kommt täglich in die “Arche”, ihre Freundin Asenat einmal in der Woche. (Bild: Amin Akhtar/WELT)

Die Sonne steht mittlerweile tief und wirft orangefarbenes Licht auf die Sessel. Ein “Arche”-Mitarbeiter hat es sich dort mit einer Gitarre gemütlich gemacht. Während die Jungs noch zocken, haben sich die Mädchen um ihn herum verteilt. Es ist still geworden, als der Mitarbeiter anfängt zu spielen – “Stadt” von Cassandra Steen. Leise fängt er an zu singen: “Ich bau ‘ne Stadt für dich, aus Glas und Gold wird Stein. Und jede Straße, die hinausführt, führt auch wieder rein. Ich bau eine Stadt für dich – und für mich.”

* Arman heißt eigentlich anders. Auf Wunsch der Mutter wird sein Klarname nicht genannt.

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Ein Kommentar

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