Zeitpunkt: Herr Bossard, Sie gehören zu den Erstunterzeichnern von Wissenschaftlern, die in Deutschland ein Moratorium für elektronische Geräte (Tablets, Handys) in Schulen und Kitas fordern. In der Schweiz finden sich kaum Politiker oder Organisationen, die Ihr Anliegen unterstützen. Woran liegt das? Und warum haben Sie unterzeichnet?
Carl Bossard: Das Moratorium ist ja erst vor Kurzem publiziert worden – und darum nur wenigen bekannt. Das Anliegen aufgenommen hat die SonntagsZeitung. In einem Interview fordert der Neuropsychologe und Hirnforscher Lutz Jäncke, Universität Zürich: “Delete die Digitalisierung an Schulen!” Er argumentiert aus hirnbiologischer Sicht.
Warum ich unterzeichnet habe? Bildungspolitik und Wirtschaft kennen zwei primäre Stossrichtungen: Ökonomisierung und Digitalisierung. Gleichzeitig drängen EdTech-Konzerne (EdTech ist Lernsoftware) und IT-Unternehmen in die Schule. Sie nehmen Einfluss auf Bildungsgehalte. Es ist der Ruf nach dem Digital Turn – mit der forcierten Digitalisierung der (Primar-)Schulen und dem Imperativ des «Bring your own device» (BYOD): jeder und jede mit dem eigenen Gerät im Schulzimmer, seien es Laptops, Tablets oder -Smartphones. Ich erlebe ein einseitiges Denken. Pädagogik aber ist kein Entweder-oder. Sie ist ein pädagogisches “Sowohl-als-auch”. Anders gesagt: Es braucht das Analoge wie das Digitale. Vernünftig digitalisieren, ohne die humane Kraft des Analogen zu vergessen.
Was muss geschehen, damit Ihr Anliegen von einer breiten Masse von Entscheidungsträgern vertreten wird?
Ich bin kein Prophet. Der Weg in die Zukunft ist bekanntlich umsäumt von den Skeletten nicht eingetroffener Prognosen.
Ich hoffe einfach, dass das aktuelle PISA-Resultat mit der fatalen Leseschwäche so vieler Jugendlicher als Warn- und Weckruf wirkt.
Wir kennen die Tendenz ja längst. Seit Jahren wird unsere Schule reformiert und umgebaut – Reform an Reform, und gleichzeitig sinken die Lernleistungen im internationalen Vergleich kontinuierlich.
Da stimmt doch etwas im Kern der Schule nicht, bei den Mikroprozessen des Lernens, beim Aufbau der Basiskompetenzen Lesen, Rechnen, Schreiben. Allein das sollte doch die Verantwortlichen in der Bildungspolitik und den Bildungsstäben hellhörig machen.
Ist ein Verbot, wie die Deutsche Gesellschaft für Bildung und Wissen es fordert, mit einer liberalen Geisteshaltung überhaupt vereinbar?
Ich votiere aus einer aufklärerisch-liberalen Haltung heraus. Das Gravitationszentrum pädagogischen Geschehens ist für mich ein aufklärerischer Gedanke: Es ist Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern, ihre Kinder und Jugendlichen zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln zu erziehen und zu bilden. Das ist ein dialektischer Prozess. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, mit den neuen Medien vernünftig umzugehen. So etwas geht nur über Anleitung, nicht über Verbote.
Selbst Organisationen, die ihren Forschungs- bzw. ihr Tätigkeitsfeld in der frühen Kindheit haben, reden die Gefahren der Bildschirme klein. Sie sagen, die digitalen Geräte gehören nun einmal zu unserer Gesellschaft. Und die Kinder müssten einen angemessenen Umgang mit ihnen lernen. Können Kinder das überhaupt: angemessen mit den elektronischen Geräten umgehen?
Das ist das Kernanliegen: der vernünftige Umgang mit diesen Medien. Doch die Frage in der Primarschule ist wohl die: Wie lernen wir in diesem Alter am besten? Selbständig mit elektronischen Geräten oder im intensiven Austausch mit einem vitalen Gegenüber?
Wir wissen es aus der Unterrichtsforschung: Bildung braucht Bindung und Beziehung, braucht darum ein Gegenüber, von dem Zuversicht und Hoffnung ausgehen. Es ist ein Gegenüber, das mich inspiriert, mich zum Selber-Denken anregt, das mich, wie das der Dichterlehrer Peter Bichsel einmal so schön gesagt hat, “von mir selbst überzeugt”. Es ist ein Gegenüber, das mir klares und konsequentes Feedback gibt. Denken kann ich nur selber, ebenso wie lernen. Dazu brauche ich aber ein Gegenüber, das mich ermutigt und mir etwas zutraut und an mich glaubt. Dieses Zwischenmenschliche lässt sich nicht digitalisieren; das Persönliche bleibt – und ist für die Schule konstitutiv.
Es braucht das Echte, nicht die Konserve.
Zusammengefasst: Lernen ist nach wie vor ein Prozess zwischen Menschen, eine Interaktion zwischen Lehrerin und Schüler, zwischen Schülerin und einem verantwortungsbewussten Gegenüber, ein “Meeting of Minds”. Salopp signalisiert: Es braucht das Echte, nicht die Konserve.
Sie haben in vielen Artikeln die sogenannte Kompetenzorientierung des Lehrplans 21 beklagt. Der Lehrer verkommt zum Coach. Statt zu lernen und zu üben, müssen sich die Schüler ihr verzerrtes Wissen am Bildschirm selber beibringen. Mit Ihrer Haltung stossen Sie bei den PHs dieses Landes auf taube Ohren. Was gibt Ihnen Hoffnung, weiterzumachen?
Die Kompetenzorientierung und die Lehrperson als Coach sind zwei verschiedene Dinge. Das Erste, die Kompetenzorientierung: Gegen Kompetenzen kann man gar nichts haben: Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll uns besser denken und handeln lassen. Ich habe mich aber dagegen gewehrt, alles und jedes in der Sprache der Kompetenzen auszudrücken. Meine Überzeugung: Kein Kind interessiert sich für Kompetenzen. Es interessiert sich für Inhalte, für Dinosaurier, für Sterne, für Meerschiffe und Entdeckungsfahrten. Es will etwas wissen, es will etwas können, es will etwas verstehen, zum Beispiel das Werden der EU. Das ist ein Inhalt. Im Lehrplan 21 tönt das dann so: “[Schülerinnen und Schüler] können unterschiedliche Positionen zum Verhältnis Schweiz – Europa skizzieren und selber dazu Stellung nehmen.”
Daran beisst sich ja selbst der Bundesrat die Zähne aus!
Es gibt in der Pädagogik eben viele Bereich, die sich kompetenztheoretisch gar nicht fassen lassen, dazu zählt beispielsweise die menschliche Grundhaltung. Darum meine Skepsis.
Das Zweite: Der Lehrer ist nicht nur Coach, die Lehrerin nicht nur Lernbegleiterin. Beide sind auch Pädagogen. Das schöne Wort kommt aus dem Griechischen: paid-agogein. Das heisst: Kinder, Jugendliche führen, sie anleiten und hinleiten. Der Neurobiologe Joachim Bauer spricht von ‘verstehender Zuwendung’ – bei gleichzeitiger Klarheit und Führung. Das ist das Dialektische des pädagogischen Berufs. Diese Ambiguitäten müssen Lehrerinnen und Lehrer annehmen und aushalten.
Was könnten die Pädagogischen Hochschulen (PHs) dazu bewegen, den eingeschlagenen Weg zu verlassen?
Meine Meinung ist klar: Wir brauchen eine Volksschule, die nicht in der Definitionsmacht der PHs liegt. Ein Diskurs ist heute leider fast nicht mehr möglich. Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel aus den Pädagogischen Hochschulen hat – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – die Definitionsmacht über die Schulen übernommen. Sie bestimmen, was gelehrt und wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker. Das bedeutetet eine Marginalisierung der Praxisempirie. Kurz: Die Stimmen der Basis müssten wieder gehört werden. Sie weiss, was in den Schulen nottut. Die Bildungspolitik muss diese Praxiserfahrung aufnehmen.
Ebenso prägend wie die Leidenschaft für die Pädagogik war für mich stets die Freiheit, die ich als Lehrer hatte.
Wenn ich die gesetzlich vorgeschriebenen Lehrmittel in Deutsch und Mathematik betrachte, dann ist es eindeutig: Sie sind wohl für die hochbegabten Akademikerkinder der Autoren geschrieben worden. Statt den Kindern stetes Üben zu vermitteln, lassen sie sie von Fallstrick zu Fallstrick stolpern. Verlierer in diesem System sind eindeutig die Migrantenkinder, die weder auf ein akademisches Zuhause noch auf bezahlte Nachhilfe zurückgreifen können. Noch auf Lehrer, die die Lehrmittel explizit gegen den Strich bürsten und eigenes Material bereitstellen. Das haben auch die neuesten PISA-Ergebnisse gezeigt: 25 Prozent können mit 15 Jahren nicht einmal die einfachsten Texte verstehen. Ist da eine Art versteckter Rassismus am Werk?
Das glaube ich nicht. So etwas kann doch keinem verantwortungsbewussten Menschen einfallen.
Die PISA-Studie 2022 bringt nichts Neues. Wir wissen es schon lange. Was mich bedrückt und was für mich eines der grössten Probleme darstellt: Die unzähligen Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert. Die eher schwächeren Schülerinnen und Schüler leiden am stärksten unter den überfüllten Lehrplänen – und darunter, wenn der Lehrperson Zeit und Möglichkeit fürs Üben und Anwenden fehlen. Ausserdem setzt der Lehrplan stark auf selbständiges Lernen. Das überfordert viele und bevorteilt die eh schon lernstarken Kinder.
Ich formuliere damit ein Plädoyer für einen geführten und strukturierten Unterricht – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Gerade sozial benachteiligte Kinder sind darauf angewiesen. Oder wie es der kürzlich verstorbene, linksliberale Pädagoge Hermann Giesecke formuliert hat:
«Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.»
Hermann Giesecke, Pädagoge
Sie beschreiben immer wieder sehr treffend, wie dem Lehrerberuf durch den Zwang zu Reporting und Einschränkung auf Methoden des offenen Unterrichts die Freiheit abhandengekommen ist. Mir kommt es so vor, als gehörte diese Ausrottung des Individuums zum Projekt Transhumanismus, in dem sich alle aalglatt durch Algorithmen steuern lassen. Übertreibe ich da?
Ob hinter Ihren Beobachtungen eine Agenda steckt, kann ich nicht beurteilen. Das weiss ich nicht. Ich weiss einfach, wie wichtig die Freiheit im Lehrberuf ist. Ich argumentiere für einmal aus persönlicher Warte: Ich war leidenschaftlich gerne Lehrer. Mich fasziniert es, mit Schülerinnen und Schülern unterwegs zu sein, ihren Gedankenkreis zu erweitern und sie so zu verstehenden Menschen auszubilden.
Mit Freiheit ist Verantwortung verbunden – in diesem Fall die Verantwortung für die Kinder und ihre Lernfortschritte. Verantwortung wahrnehmen braucht Freiheit. Die Leidenschaft fürs Pädagogische und damit die humane Energie kommen aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und engen operativen Vorgaben. Heute gibt es so viele Vorschriften. Die Freiheit wird eingeengt, gar erstickt. Das müsste sich dringend ändern.