27. April 2024
Der Diskurs: Loretz-Wampfler

Digitalisierung: Wie weit soll sie gehen?

Der Condorcet-Blog veröffentlicht hier einen Diskurs über die Umsetzung des digitalen Unterrichts in unseren Schulen. Der Gymnasiallehrer Philippe Wampfler gilt als klarer Befürworter einer weitgehenden Digitalisierung, während Condorcet-Autor und Sekundarlehrer Philipp Loretz zur Vorsicht und gründlicher vorgängiger Reflexion mahnt. Die beiden haben sich auf der Plattform Facebook unterhalten.

Auslöser war ein Post von Philippe Wampfler, Dozent für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Zürich, den er auf seinem Facebook-Account veröffentlichte. Darin verkündete er:
«Schulen müssen bessere Lernorte werden, damit sich schulisches Lernen für Jugendliche sinnvoll anfühlt. Sie müssen professionell mit Jugendkultur umgehen und Unterricht anbieten, der in eine Kultur der Digitalität passt.»

Marion Heidelberger, ehemaliges langjähriges Geschäftleitungsmitglied des LCH, repostete Wampflers Beitrag auf der Facebook-Gruppe Lehrerinnen und Lehrer Schweiz.

Philippe Wampfler
«Schulen müssen bessere Lernorte werden, damit sich schulisches Lernen für Jugendliche sinnvoll anfühlt. Sie müssen professionell mit Jugendkultur umgehen und Unterricht anbieten, der in eine Kultur der Digitalität passt.»

Philippe Wampfler, Dozent für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Zürich

Marion Heidelberger
Genau!

Philipp Loretz
Das renommierte Karolinska Institut hat die schwedische Bildungsbehörde unlängst aufgefordert, die wissenschaftlichen Belege nicht länger zu ignorieren. Der Einsatz digitaler Werkzeuge führe erwiesenermassen u.a. zu mehr Ablenkung, schwäche die  Konzentrationsfähigkeit, behindere das Arbeitsgedächtnis und verschlechtere damit die Lernleistung markant. Pikant: Ausgerechnet Kinder mit besonderen Bedürfnissen wie z.B. ADHS treffe die Digitalisierung besonders hart. [1]
 
In meinem Editorial [2] zeige ich auf, warum es notwendig ist, über die schulische Digitalisierung nachzudenken.
  • Es braucht gemeinsame, evidenzbasierte Nutzungsregeln, die sich am Wohl der Schülerinnen und Schüler orientieren – und nicht am Shareholder Value der IT-Giganten aus dem Silicon Valley.
  • Die geistige und körperliche Unversehrtheit gehört ins Zentrum pädagogischer Medienkonzepte. Der Schutz der Privatsphäre muss gewährleistet sein. Es ist z.B. nicht einzusehen, warum Minderjährige nach Schulschluss und am Wochenende für Lehrpersonen erreichbar sein sollen – und umgekehrt.
  • Der Eingriff der Schule in das digitale Erziehungskonzept der Eltern ist zu unterlassen. Die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sind verbindlich zu klären.
  • Der Einsatz von iPads in der Basis- und Unterstufe ist zu hinterfragen.
  • Die Schule ist aufgefordert, ihre pädagogische Verantwortung wahrzunehmen und den negativen Folgen der grassierenden digitalen Vereinnahmung der Kinder und Jugendlichen entschieden entgegenzutreten.
 
Philippe Wampfler
Das ist eine sehr einseitige und eigenwillige Auswertung der vorhandenen Studien. Wer zu diesem Schluss kommen will, findet immer Auswertungen. Gilt auch für das Gegenteil. Eine Reflexion muss mehr sein als eine Ablehnung und eine Verantwortungsabgabe an die Eltern.
 
Philipp Loretz
Es steht jedem offen, dem 435 Seiten starken Monitoring Report «Technology in education» der UNESCO, der sich auf 89 Studien beruft, Einseitigkeit vorzuwerfen. Als Lehrer, Vater und Präsident des LVB nehme ich die Befunde ernst und stelle die Elefanten  im Raum – die unübersehbaren schwierigen Aspekte, die am liebsten niemand zur Sprache bringen möchte – zur Diskussion.
 
Philippe Wampfler  
Einseitig ist nicht der Report, einseitig ist deine Interpretation. Solche Forderungen lösen einfach die Probleme nicht.
 
Philipp Loretz
Ein Problem kann man am besten lösen, wenn man bereit ist, das Problem zu erkennen.
  • Schutz der Privatsphäre: Müssen deiner Ansicht nach Primarschulkinder für Lehrpersonen auch abends und am Wochenende erreichbar sein?
  • Digitale Vereinnahmung: Soll die Schule die aufgrund der verordneten Schul-Tablets zunehmende Bildschirmzeit regulieren?
  • Konfliktpotenzial Schule – Eltern von schulpflichtigen Kindern: Darf sich die Schule der Debatte über Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten im Zusammenhang mit dem Einsatz der schulisch verordneten Geräte im Elternhaus entziehen?
  • Pädagogische Medienkonzepte: Braucht es deiner Ansicht nach pädagogische, evidenzbasierte Medienkonzepte, welche die geistige und körperliche Unversehrtheit von Primarschulkindern berücksichtigen?
Falls du den umfangreichen UNESCO-Report doch noch genauer studieren möchtest (Erkenntnisse, Warnungen, Empfehlungen), kannst du ihn hier runterladen:
https://lvb.ch/2022/wp-content/uploads/2023/10/385723eng.pdf
 
Die Schule darf Bildschirmmedien einsetzen und auch dazu auffordern, das zuhause zu tun.
Der digitalisierte Schulalltag Bild: lkz.de

Philippe Wampfler
a) Es ist sinnvoll, auch ausserhalb der Unterrichtszeit kommunizieren zu können. Z.B. während Hausaufgabenphasen. Wenn alle Lernaktivitäten in der Schule erfolgen, wird das kaum nötig sein (aber teilweise auch sinnvoll, z.B. um  Schüler*innen an wichtige Dinge zu erinnern – dass man in den Wald geht und die entsprechende Ausrüstung benötigt etc.).

b) Klar muss die Schule den Einsatz von Bildschirmmedien didaktisch begründet beschränken.
 
c) Die Schule darf Bildschirmmedien einsetzen und auch dazu auffordern, das zuhause zu tun. Hier gibt es keine Debatte, nur Eltern, die das nicht wollen.
 

d) Es braucht Medienkonzepte. Die »Unversehrtheit« ist eine ideologische Verengung, kein sinnvoller Begriff in diesem Zusammenhang.

Es herrscht Handlungsbedarf.

Philipp Loretz
Besten Dank für deine Einschätzungen.

a) Der grösste Teil der Lernaktivität auf Stufe Primar und Sek I erfolgt an der Schule. Sorgsam eingeführte Hausaufgaben generieren selten Rückfragen. Ich sehe meine SekundarschülerInnen jeden Tag und stehe bei  Fragen zur Verfügung. Digitale Anfragen erübrigen sich damit weitgehend. Natürlich gilt es zu differenzieren: ABC-Schützen sind keine GymschülerInnen. Lehrpersonen, die im Schulzimmer klar kommunizieren, müssen keine Reminder verschicken. SchülerInnen, welche die Aufträge ins Hausaufgabenbüchlein schreiben, brauchen keine Reminder. Ich bin dezidiert der Auffassung, dass es betr. Erreichbarkeit verbindliche pädagogische Konzepte braucht.
 
b) Erfreulich, dass du das auch so siehst. Ich kann deshalb nicht nachvollziehen, warum du meine diesbezügliche Forderung als nicht lösungsorientiert einschätzt. Auch hier: Verbindliche pädagogische Medienkonzepte auf Stufe Primar und Sek sind derzeit noch Mangelware. Sie existieren nicht, sind veraltet oder berücksichtigen wesentliche Punkte (gesundheitliche Aspekte wie Ergonomie, Bildschirmzeit, Erreichbarkeit) in keinster Weise. Es besteht Handlungsbedarf.
 
c) Bedauerlich, dass du nicht bereit bist, diesen Elefanten im Raum anzuerkennen. Die Rückmeldungen der Eltern an Standortgesprächen, an Elternabenden, an Podiumsgesprächen etc. zeigen, dass der schulisch verordnete Einsatz der Tablets auf Stufe Primar und Sek I regelmässig zu Konflikten führt. Diskussionsverweigerung zeugt von mangelnder Erfahrung auf Stufe Primar und Sek I.
 
d) Kinderärzte, Augenärztinnen, Rheumatologen, Neurologinnen, Physiotherapeuten, Osteopathinnen etc. warnen seit Jahren vor den Folgen des intensiven Einsatzes der IT-Geräte: Zusammenhang zwischen Bildschirmarbeit und der zunehmenden Kurzsichtigkeit unter Kindern und Jugendlichen; Fehlbelastung der Halsmuskulatur, Haltungsschäden, Verschleissungserscheinungen der Halswirbelsäule u.a. infolge von nicht vorhandenem ergonomischen Mobiliar etc.
Die Schulen tragen eine Mitverantwortung. Verantwortungsbewusstsein mit Ideologie zu verwechseln finde ich schwierig.
 
Ich habe bisweilen eher den Eindruck, dass manche Digiturbos grosse Mühe bekunden, die Digitalisierung aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und deshalb eine substantielle, faktenbasierte Debatte über den pädagogischen Mehrwert, über Sinn und Unsinn der Digitalisierung ablehnen. Unsere SchülerInnen haben Anrecht auf einen umsichtigen, gewinnbringenden und gesunden digitalen Wandel – nicht mehr und nicht weniger.
 
 
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3 Kommentare

  1. Aha – der Herr Gymnasiallehrer bemüssigt sich, dem Sekundarlehrer aufzuzeigen, dass er zu kurzgefasst denkt. So funktioniert Elfenbeinturm. Verengt ist letztlich der Horizont desjenigen, der im Turm sitzt und nicht hinausschaut.

  2. Auffällig an diesem qualitativ einseitigen Dialog ist, dass Ph. Loretz evidenzbasiert und praxisorientiert argumentiert, während Ph. Wampfler keine Gegenargumente, sondern nur Behauptungen und herablassende Rundumschläge entgegenzusetzen hat. Woran orientiert er sich eigentlich: An der ganzheitlichen Entwicklung und Förderung der Kinder und Jugendlichen oder am Gedeihen der IT-Branche, die möglichst viele Gadgets verkaufen möchte, indem sie rosige Heilsversprechen abgibt und Ängste schürt, man verpasse die Zukunft, wenn man nicht spure?

  3. Wenn die Digitalisierungspropheten intellektuell nicht mehr zu bieten haben als den Herrn Wampfler, dann kann man sich, Condorcet hin oder her, einen Diskurs sparen.

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