Drei Fakten sind sowohl bei den Motionärinnen wie auch bei den Gegnern der Motion unbestritten:
- In den letzten zehn Jahren ertranken durchschnittlich 46 Menschen in Schweizer Gewässern.
- Im Lehrplan 21 (Fachbereichslehrplan | Bewegung und Sport | Kompetenzaufbau BS.6 Bewegen im Wasser) ist der Grundanspruch festgehalten, dass alle Schülerinnen und Schüler sicher schwimmen und in einer frei gewählten Technik 50 Meter schwimmen können bzw. den Wassersicherheitscheck erfüllen.
- Immer mehr Schülerinnen und Schüler können nicht mehr schwimmen. Auch auf der Sekundarstufe 1 steigt die Zahl der Nichtschwimmer.
Nun wissen wir ja, dass ein Fünftel unserer Schülerinnen und Schüler nach 9 Schuljahren auch nicht richtig lesen und schreiben kann, obwohl dies im Lehrplan 21 als Ziel definiert ist. Ebenso erfüllen nur 11% der Französischlernenden die Grundkompetenzen in Französisch! Und niemanden scheint dies zu stören. Was soll also diese Aufregung um die Nichtschwimmer?
Die Beliebigkeit der Vorgaben
Nicht nur im Bildungssystem werden im Zuge der Kompetenzorientierung die Ziele immer enger gefasst und die Massnahmenkataloge konsequenterweise auch umfangreicher. Nimmt jemand ab und zu mal eine dieser unzähligen Zielsetzungen ernst, ist er selbst schuld, Papier ist bekanntlich geduldig. Der Gesetzgeber sollte allerdings aufpassen, dass er bei der Setzung von Zielen nicht allzu sehr einer Allmachtsphantasie verfällt und ständig Vorgaben formuliert, die ausserhalb der Reichweite von Unterricht liegen. Sonst stellt sich auch im Betrieb eine resignative Beliebigkeit ein.
Warum Schwimmen?
Rein physiologisch ist der Fall klar: Schwimmen trainiert die Muskeln, ohne die Gelenke zu belasten. Schwimmen korrigiert Fehlhaltungen, baut Stress ab, trainiert Kraft und Ausdauer – und das bei einem sehr geringen Verletzungsrisiko. Beim Schwimmen wirkt der Körper schwerelos, das schont Knorpel und Knochen, während fast jeder Muskel trainiert wird. Schwimmen gehört aber in unserem wasserreichen Land zur Kultur, viel mehr als beispielsweise das Skifahren. Fast jede Wanderung in der Sommerzeit, jede Schulverlegung führt irgendwann einmal an ein Gewässer. Auch im späteren Leben laden Gewässer jeglicher Art zum Schwimmen, Plantschen, Abkühlen oder zu Expeditionen auf Booten ein. Nichtschwimmer sind in solchen Situationen bedauernswert, ganz zu schweigen, wenn sie selbst einmal Kinder haben. Es gibt – darüber herrscht wohl Konsens – sehr plausible Gründe, das Schwimmen zu einer Grundkompetenz zu erklären.
Warum können immer weniger Kinder und Jugendliche Schwimmen?
Die in den Medien kolportierten Zahlen sind vermutlich allzu dramatisch angesetzt. Es ist aber nicht mehr zu leugnen, dass viele Kinder in unserem Land nicht schwimmen können. Die Gründe dafür sind mannigfaltig:
- Die Corona-Epidemie mitsamt ihren Schliessungen der Schwimmanstalten hat dazu geführt, dass ein Teil der heutigen Schülergeneration keinen lebensrettenden Schwimmstil erlernen konnte.
- Die Einwanderung aus Ländern mit weniger Gewässern und anderen Einstellungen zum Schwimmen bringt uns auch ältere Jugendliche, die nie schwimmen gelernt haben.
- Religiöse Einwände (Kopftuch und Ganzkörperbedeckung) sowie eine zunehmende Körperscham führen vor allem bei den Mädchen zu einer Flucht vor Badeausflügen (mittels Krankmeldungen, Einsprachen, Schwänzen, freie Halbtage).
Die Taube auf dem Dach versus Spatz in der Hand
Angesichts dieser Fakten ist Handlungsbedarf angezeigt. Dies würde man mit mehr finanziellen Ressourcen wie der Schaffung von Schwimmflächen, der Anstellung von Schwimmlehrkräften und grosszügiger Alimentierung von Projektwochen mit Schwimmen als Thema erreichen. Der Finanzierung solcher Massnahmen sind allerdings Grenzen gesetzt. Zusätzliche Schwimmflächen sind teuer, sowohl im Bau als auch im Unterhalt. Ausserdem würde die Realisierung einer erfolgversprechenden Infrastruktur wohl über 10 Jahr dauern.
Die Bildungsdirektion schiebt daher den Ball den Eltern zu: «Primär sind die Eltern dafür verantwortlich, dass ihre Kinder das Schwimmen erlernen. So gibt es im Kanton viele Angebote von öffentlichen Schwimmkursen für Kinder, welche die Eltern nutzen können.»
In der Tat bringen viele Eltern ihren Kindern das Schwimmen selbst bei. In den meisten Fällen ist das kein Problem, denn Schwimmen ist keine besondere Kunst und kann leicht erlernt werden. Das Problem ist: Es sind gerade die Kinder der unterprivilegierten Schichten, welche diese Unterstützung des Elternhauses nicht haben. Zudem gibt es auch Kinder, die eher ängstlich sind oder einige Schwierigkeiten bei der Koordination haben. Hier ist es gut, wenn ein Profi zur Seite steht, welcher das Kind unterstützen kann. Dadurch werden Fehler beim Schwimmen direkt von Anfang an korrigiert und das Kind hat es später leichter. Aber auch für die soziale Entwicklung ist ein professioneller Schwimmkurs, ob in der Schule oder in einem Schwimmverein, essenziell. Gemeinsam mit anderen Kindern lernt das Kind das Schwimmen und dabei noch neue Freunde kennen.
Wenn die Schule mit ihren Ressourcen – und dazu gehören auch die Fähigkeiten der Lehrkräfte – Ziele verfolgt, die sie im Rahmen ihres Unterrichts nicht garantieren kann, muss sie Kooperationen mit ausserschulischen Institutionen eingehen.
Kooperationen mit ausserschulischen Institutionen
Wenn die Schule mit ihren Ressourcen – und dazu gehören auch die Fähigkeiten der Lehrkräfte – Ziele verfolgt, die sie im Rahmen ihres Unterrichts nicht garantieren kann, muss sie Kooperationen mit ausserschulischen Institutionen eingehen. Eifrig werden in Projektwochen externe ICT-Fachleute, Ernährungsspezialisten, Theater-Profis oder professionelle Musiker beigezogen und entschädigt. Institutionen wie die Jugendarbeit oder Naturschutzverbände bieten längst lehrplankompatible Angebote auf dem Markt an, die von den Schulen genutzt werden. Deren Finanzierung läuft über schuleigene Konten oder Gemeinde- bzw. Kantonsbudgets.
Die Angst vor den Bildungsgutscheinen
Bildungsgutscheine haben – nicht zu Unrecht – bei den Personalverbänden und vor allem den Verteidigern der öffentlichen Schule keine grosse Anhängerschaft. Sie werden in der Regel als Einfallstor der Privatisierung des Schulsystems betrachtet. In diesem Fall ist diese Angst unbegründet. Der Einsatz von Schwimmgutscheinen soll gezielt erfolgen. Eine Auslagerung ist nicht vorgesehen.
Die diversen Schwimmclubs in unseren Gemeinden bieten allgemein anerkannte Schwimmkurse zwischen 200 – 400 Fr. für 10 Doppellektionen an, die von den Eltern eifrig genutzt werden. Sie verfolgen in der Regel keine Profitinteressen, sondern leisten mit viel Engagement und Können einen grossen Beitrag zur Schwimmfähigkeit unserer Jugend. Mit Schwimmgutscheinen könnten in Einzelfällen schwimmwillige Kinder ohne grosse administrative Hürden das Schwimmen erlernen. Der Schwimmunterricht findet in der Regel ausserhalb der Schulzeit statt und belastet den Unterricht nicht.
Es werden Einzelfälle bleiben. Warum sollen wir in einem Teilbereich nicht handeln, also dort das Problem lindern, auch wenn wir das Gesamtproblem dadurch nicht lösen können?
Die Schwimmgutscheine werden das Malaise nicht lösen
Den Motionärinnen ist klar, dass die Schwimmgutscheine das Grundproblem der steigenden Zahl von Nichtschwimmern nicht lösen werden. Es geht darum, dass Kinder, die nicht schwimmen können, es aber weder in der Schule noch im Elternhaus gelernt haben, die einfach durch die Maschen gefallen sind, in ihrer Freizeit einen Schwimmkurs besuchen können. Es geht nicht darum, das Lernziel «Schwimmen können» gänzlich auszulagern. Es werden Einzelfälle bleiben. Warum sollen wir in einem Teilbereich nicht handeln, also dort das Problem lindern, auch wenn wir das Gesamtproblem dadurch nicht lösen können? Es ist mit Sicherheit eine unkonventionelle Massnahme, welche die Motionärinnen hier vorschlagen. Es geht hier um eine kleine, aber umso wertvollere Hilfe für das individuelle Kind. In diesem wirklich kleinen Bereich könnte man ohne grosse Angst vor Folgekosten und allfälligen Nebenwirkungen einen pragmatischen und höchst wirkungsvollen Schritt zu einer Verbesserung einer ausgewiesenen Problemlage wagen. Zur Erinnerung: Wenn ein Kind aus einem Kanton kommt, in welchem es keinen Französischunterricht genossen hat, erhält es staatlich finanzierte Privatlektionen.
Die Bedingungen für die Gewährung eines solchen Unterrichts müssen in einem Erlass umschrieben werden: Das Kind hat keine Möglichkeit gehabt, im Rahmen des Unterrichts schwimmen zu lernen, das Kind und seine Eltern müssen motiviert sein, es zu lernen oder es hat einen besonderen Förderbedarf, will heissen, es hat körperliche Koordinationsprobleme.
Zusatz – meine Erfahrung mit den Schwimmkursen
Vor sechs Jahren übernahm ich eine neue 7. Klasse am Oberstufenzentrum Orpund. In der ersten Projektwoche fuhren wir in die Badi Neuenburg. Während die Schülerinnen und Schüler meiner Klasse sich sofort in das kühle Nass stürzten und die spektakulären Rutschbahnen und Springtürme ausprobierten, setzte sich Albin* in den Schatten. Der 12-jährige Junge konnte nicht schwimmen und dies, obwohl er die ganze bisherige Schulzeit in den Schulen unserer Gemeinde verbracht hatte. Ich sprach mit ihm über die Ursachen. Er meinte, dass er das Wasser nicht so gerne habe, dass er des Öfteren einen freien Halbtag genommen habe, wenn es zum Schwimmen gegangen sei. Pikant: Die Gemeinde besitzt ein eigenes Hallenschwimmbad.
Während eines Elterngesprächs sprach ich das Problem des Nichtschwimmens an. Albin sagte mir, dass er jetzt gerne schwimmen lernen würde, sich aber vor der Klasse schäme. Der Vater bat mich, nach Möglichkeiten zu suchen. Ich empfahl einen Schwimmkurs für Anfänger im städtischen Schwimmverein in Biel. Das Swimm Team Biel-Bienne bot einen Kurs für Erwachsene an. 10 x 60 Minuten. Kosten 200.- inkl. Eintritt.
Ich habe Albin den ersten Kurs aus eigener Tasche bezahlt. Er absolvierte ihn und hat nun einigermassen schwimmen gelernt.
Auf der Liste der Gründe, warum Kinder immer weniger Lesen, Rechnen oder Schwimmen können, habe ich das Smartphone vermisst.
So handeln engagierte Lehrerinnen und Lehrer, während Bildungsbürokraten in ihren Amtsstuben hocken und vor allem eines tun: NICHTS.