“Leergebrannt ist die Stätte, wilder Stürme rauhes Bette: In den öden Fensterhöhlen wohnte das Grauen, und des Himmels Wolken schauen hoch hinein.” An die Worte Schillers erinnert sich eine sechzigjährige Frau, als sie Bilder der zerstörten Stadt Soledar in Donezk sieht. Das Gedicht, mit dem sie sich vor langer Zeit in der Schule befasst hatte, gibt ihrem wahrgenommenen Grauen eine Sprache.
Schreckliche Vorfälle, persönliche Krisen, jedoch auch überwältigende Erlebnisse überfordern uns oft. Wir verlassen den besonnenen Alltagsmodus, kämpfen mit Emotionen und ringen nach Worten. Wir haben Schwierigkeiten, das aussergewöhnliche Ereignis zu begreifen und unsere Erschütterung oder unser Staunen auszudrücken. In solchen Momenten helfen Werke von Dichtern und Schriftstellern. Sie sind eine Chance, einen Zusammenhang zwischen dem äusseren Ereignis und unserer Betroffenheit herzustellen. Mithilfe von Dichterworten nähern wir uns dem schwer Fassbaren und Unerklärlichen, das sich im Ereignis präsentiert. Man ist der emotionalen Aufwühlung, Irritation oder Verzweiflung weniger ausgeliefert. Worte vertiefen das Sein.
Kenntnisse aneignen, nicht herunterladen
Diese Selbstregulation funktioniert jedoch nur, wenn entsprechende Zeilen oder Worte präsent sind. Man muss sie nicht im Internet herunterladen, sondern man erinnert sich an sie, weil man sie früher einmal auswendig gelernt oder sich intensiv mit ihnen befasst hat. Die Chance ist dann, dass sich jene Zeilen oder Worte melden, die helfen, die jeweilige Herausforderung sprachlich zu meistern. Das Ereignis gewinnt an Tiefe. Da es sich um einen selbstreferenziellen Mechanismus handelt, muss man sich entsprechende Gedichte und Kenntnisse von Theaterstücken aneignen. Es geht nicht nur darum, sie auswendig zu lernen, sondern vor allem darum, sie über Gespräche und Spiel zu vertiefen. Die spätere Kindheit und Jugend sind Lebensphasen, die sich dafür eignen.
Der Mensch ist prägbar und neugierig. Er will die Welt, sich selbst entdecken und ist darum auch aufnahmebereit für Gedichte und Theaterspiel. Vor allem Jugendliche streben nach Aufbruch zu neuen Ufern. Oft distanzieren sie sich jedoch von den Erwachsenen und ihren Anliegen. Sie ziehen es vor, ihre Selbstentdeckung in ihrer Peer-Kultur zu inszenieren. Da sie sich neu erfinden wollen, steht die Auseinandersetzung mit dem Bildungskanon der Alten nicht zuoberst auf ihrer Prioritätenliste.
Fremde Werte und Bildungsinhalte einbauen
Überlassen die Alten die Jugend jedoch sich selbst oder versuchen sich in die Jugendkultur einzuschmeicheln, dann droht eine narzisstische Selbstinszenierung überhandzunehmen. Die Jugendlichen verlieren sich im eigenen Generationen-Groove. Es braucht darum auch Erwachsene, die die Auseinandersetzung mit dem Bildungskanon einfordern. Dies geschieht am besten über Institutionen, in denen sich Kinder und Jugendliche habituell bewegen. Schulen müssen sich darum auch mit Werten und Bildungsinhalten auseinandersetzen, die den Kindern und Jugendlichen fremd sind. Die Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen und der jüngeren Generation geschieht dann nicht über einen spontanen Konsens, sondern gleicht einer Annäherung zweier Fremder.
Mit Gedichten und Theaterstücken befasst sich die Schule heute kaum noch.
Die Alten haben die Aufgabe, die Schülerschaft von Inhalten zu überzeugen, die nicht hip sind, jedoch für das Gesamtleben wichtig. Sie vertreten Anliegen, deren Bedeutung die Schüler nicht gleich nachvollziehen, da der Jugendcode verlangt, dass man gegenüber den Alten Skepsis signalisiert. Die Interaktionen zwischen Lehrpersonen und Kindern oder Jugendlichen sind darum ambivalent. Mit Gedichten und Theaterstücken befasst sich die Schule heute kaum noch. Heute stehen Kompetenzförderung und selbsttätiges Lernen im Vordergrund. Bei der Sprache geht es darum, zu kommunizieren, Texte zu verstehen, sich auszudrücken und Schreibprodukte zu verfassen. Sie wird als persönliches Ausdruck- und Kommunikationsmittel verstanden.
Oft werden Themen von den Schülern selbst gesetzt und widerspiegeln aktuelle Aufregungen und Anliegen. Dieser Fokus übersieht, dass die Schüler und Schülerinnen von der Schule mehr erwarten, als sie bewusst ausdrücken oder ihre Subkultur suggeriert. Es geht nicht nur um Fun, Umwelt und reproduzierbare Lerninhalte, sondern auch um das «Wer bin ich». Ein Kernanliegen der Kinder und Jugendlichen sind Fragen nach der Bedeutung des Lebens: Wieso bin ich traurig, warum gibt es Streit, Hass und Wunder? Sie wollen einen Weg finden zu ihren eigenen Emotionen, Zweifeln und Phantasien.
Kompetenzsprache bleibt oberflächlich
Dieses Anliegen droht in der Lernzielhektik vergessen zu werden oder wurde zur Privatsache erklärt. Was sich in ihrer Psyche abspielt, bleibt jedoch für die meisten Menschen ein lebenslanges Rätsel. Das innere Universum drückt sich über mehr als 600 Milliarden Synapsen im Gehirn aus und produziert unzählige Muster mehr, als wir je erfassen werden.
Psychische Prozesse werden durch ausserordentliche Lebensereignisse ausgelöst, wir werden berührt, sind irritiert oder werden wegen andrängender Emotionen gar aus der Bahn geworfen. Der Wille wird zum Spielball einer inneren Dynamik. Die Sprache der Dichter und Denker ist ein Mittel, sich solchen Szenarien anzunähern; Gedichte, Theaterstücke und Literatur sind darum eine grossartige Hilfe, einen Weg durch das eigene Labyrinth zu finden und Erlebnissen, die uns im Kern unserer Existenz treffen, einen Sinn abzuringen.
Gedichte und Theaterstücke rüsten Kinder und Jugendliche mit einem Inventar aus, das ihnen hilft, Ängsten, Freuden und Konflikten eine Sprache und tiefere Bedeutung zu geben.
Nicht umsonst steht das Gespräch im Zentrum der Psychotherapie. Die Kompetenzsprache bleibt an der Oberfläche. Bei ihr geht es nicht um inneren Nachhall, sondern um operationalisierbare Lernziele. Es ist darum problematisch, wenn die Schule der nächsten Generation bedeutungsvolle, auch unzeitgemässe Gedichte und Theaterstücke vorenthält und das Auswendiglernen vernachlässigt.
Gedichte und Theaterstücke rüsten Kinder und Jugendliche mit einem Inventar aus, das ihnen hilft, Ängsten, Freuden und Konflikten eine Sprache und tiefere Bedeutung zu geben. Die Schülerschaft wird es den Lehrpersonen danken – wenn auch erst Jahre später.
Allan Guggenbühl, Psychologe und Psychotherapeut, leitet das Institut für Konfliktmanagement und Mythodrama in Zürich. Er ist Autor des Buches «Vergessene Klugheit – wie Normen uns am Denken hindern»
Alan Guggenbühl ist ein alter Hase. Warum hat er mit seiner Berufserfahrung und mit seinem Wissen dem Kompetenzgerangel den Riegel geschoben, bevor es die Siegesfahne schwankte?