Der Titel «The Power of Culture” ist doppeldeutig: Mit «culture» ist einerseits die in der Schule umgesetzte, den Alltag bestimmende Philosophie gemeint, anderseits die Konzentration auf traditionell exemplarische Lerninhalte und Lernmethoden. Im Zusammenspiel ergibt sich, so der Tenor des Buches, eine machtvolle Wirkung auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Die Lernenden finden trotz ihrer Herkunft aus benachteiligten Familien, aus einer Gegend mit Bandenkriegen und Messerstechereien zu erstaunlichen akademischen Leistungen, die ihnen sogar den Zutritt zu begehrten Studienplätzen eröffnen.
Das Ziel, eine Schule zu schaffen, die benachteiligten Kindern gleiche Ausbildungs- und Lebenschancen bietet wie den von der Herkunft begünstigten, konnte offensichtlich mit der «progressiven» Pädagogik nicht erreicht werden.
Michaela tritt mit dem Anspruch auf, die fehlgeleiteten Reformen der letzten Jahre zu korrigieren. Das Ziel, eine Schule zu schaffen, die benachteiligten Kindern gleiche Ausbildungs- und Lebenschancen bietet wie den von der Herkunft begünstigten, konnte offensichtlich mit der «progressiven» Pädagogik nicht erreicht werden: Kompetenzen, standardisierte Tests, schülerzentriertes Arbeiten, selbstentdeckendes Lernen, Nachteilsausgleiche, Abschaffung der Hausaufgaben, Nachsicht bei Schwänzen seien Konzepte, die den Benachteiligten nicht geholfen hätten, sondern im Gegenteil dazu beigetragen hätten, ihre Chancen zu verringern.
Es herrscht Nulltoleranz bei Schwänzen, Stören im Unterricht, Arbeitsverweigerung, Mobbing.
Die Kolleginnen und Kollegen der Michaela-Schule begründen diesen bei Schulbehörden und Erziehungswissenschaftlern unbeliebten Standpunkt argumentativ überzeugend und präsentieren ihre Lösungen, um dem verhängnisvollen Matthäus-Effekt entgegenzuwirken:
- Zentral ist der Gedanke, benachteiligten Kindern nicht mit einer Form von Nachsicht und Milde zu begegnen, die ihr soziales Fehlverhalten und ihre Lerndefizite entschuldigt. Damit würden sie von Anfang an als Opfer einer ungerechten Gesellschaft angesehen, ihre Lebensenergie, aus sich etwas zu machen, werde gleichsam erstickt, ihnen werde vermittelt, sie könnten ja doch nichts erreichen (victimhood). Vielmehr müssten sie ermutigt werden, trotz möglicher Nachteile das Beste aus sich zu machen, alles zu mobilisieren, was sie an sich selbst verändern und verbessern können und nach Höherem zu streben. Unabhängig von ihrem allfälligen Migrationshintergrund oder ihrer Religion sollen sie mit britisch-europäischem Gedanken- und Kulturgut vertraut gemacht werden, um sich fest in die einheimische Gemeinschaft einbetten zu können.
- Daraus ergeben sich Konsequenz und Achtsamkeit im Schulbetrieb: Es herrscht Nulltoleranz bei Schwänzen, Stören im Unterricht, Arbeitsverweigerung, Mobbing, Lärmen und Toben in den Gängen (Schweigepflicht beim Zimmerwechsel), Nichterledigen der Hausaufgaben. Verstösse werden täglich mit Nachsitzen (detention) oder Verweisen (demerits) geahndet. Die Lernenden werden ermuntert, freiwillig ihre I-Phones abzugeben (digital detox), stattdessen können sie einfache Natels beziehen, die keine Internetverbindung haben. Aus der Schule verbannt wird gewaltverherrlichender Rap, stattdessen ertönen über die Lautsprecher bei der morgendlichen Zusammenkunft (register) klassische Musikhäppchen. Eingefordert werden kameradschaftliches Benehmen und mündlich und schriftlich geäusserte Dankbarkeit (gratitude) gegenüber Lehrpersonen und dem schulischen Personal. Jeden Morgen erzählt die beauftragte Leitungsperson eine aufbauende Geschichte.
- Was nach drakonischem Drill oder Indoktrination aussieht, wird jedoch kompensiert durch eine besondere Art der ständigen, individuell ausgerichteten Zuneigung und Förderung. Den Verweisen bei Fehlverhalten wird Lob gegenübergestellt bei Wohlverhalten, beim Erfüllen von Leistungsanforderungen, bei Fortschritten – und seien sie auch noch so gering. Strafen werden nicht ohne persönliche Gespräche verfügt. Bei fachlichen Schwierigkeiten werden bereitwillig Nachhilfe und Betreuung geleistet. Ermutigung und Beziehungsarbeit zwischen Lehrpersonen und Lernenden stehen bei Michaela an erster Stelle. Gemeinschaftsgeist und Individuum sollen auf diese Weise gleichgewichtig gestärkt werden (care for our pupils).
- Die Lehrkräfte pflegen einen geführten Unterricht aus der Überlegung, dass die Lernenden wenig von zu Hause mitbringen und deshalb
an die Inhalte herangeführt werden müssen. Der Lehrplan hält sich in allen Fächern an bewährte traditionelle Inhalte: Geschichtliche Epochen vor thematischen Längsschnitten, exemplarische literarische Werke (Shakespeare) vor modischer Betroffenheitsliteratur, Beherrschung der rechnerischen Grundoperationen vor Benützen des Rechners. Das Wissen wird schrittweise und systematisch aufgebaut, wobei darauf geachtet wird, dass sich die entscheidenden Inhalte sowohl langfristig einprägen (rote learning and inflexible learning) als auch vertieft und strukturiert für Anwendungen zur Verfügung stehen (flexible knowledge). Die methodischen Verfahren und die Formen der regelmässigen Überprüfung mit quizartigen Tests werden im Buch detailliert erläutert, auch um falschen Vorstellungen vorzubeugen.
- Die Schule pflegt eine Kultur der offenen Klassenzimmer. Kolleginnen und Kollegen besuchen sich ständig unangekündigt gegenseitig im Unterricht und geben einander Anregungen, was sie gut finden oder was verbessert werden könnte. Birbalsingh zieht diese Offenheit und Ermutigungsform dem allgemein üblichen Qualitätsmanagement mit Zielvereinbarungen (targets) und dem Ausrichten von Leistungslöhnen oder Belohnungen vor. Die Zusammenarbeit wird durch intensive fachliche und pädagogische Austausch-Kolloquien gepflegt. Neue Angestellte werden von den Kolleginnen und Kollegen sorgsam eingeführt und mentoriert. So herrscht in der Michaela-Schule eine Art Unité de doctrine (alignment), die das Kollegium dauerhaft weiterentwickelt.
Die Zusammenfassung einiger Aspekte der Michaela-Schule zeigt auf, wie die öffentliche Schule einen Ausweg aus der Reformmanie finden könnte. Es ist gleichzeitig eine Rückbesinnung auf grundlegende erzieherische und inhaltliche Prinzipien wie auch eine Hinwendung zu einer betreuenden und fördernden Organisation. Nachdem 2020 die ersten Jahrgänge die Schule mit Erfolg verlassen haben, ist es noch zu früh, um abschliessend zu beurteilen, ob das Konzept von Michaela dauerhaft erfolgreich sein wird.