23. April 2024

Schule der Zukunft?

Condorcet-Autorin Christine Staehelin, GLP-Mitgled im baselstädtischen Bildungsrat und Primarlehrerin, warnt in ihrem Beitrag davor, mit überfrachteten Kompetenzerwartungen eine Ideologisierung von Unterricht zu betreiben.

Condorcet-Autorin Christine Staehelin

Seit Jahren prägen Begriffe wie Kompetenz, Handlungskompetenz, Selbstkompetenz, Sozialkompetenz, digitales Lernen, kooperatives Lernen, selbstorganisiertes Lernen, Integration, Kooperation, Partizipation etc. den schulischen Diskurs.

In der Praxis irritieren diese Begriffe. Einerseits weil ihre Bedeutung im schulischen Alltag nicht wirklich geklärt ist – obwohl sehr wortreiche Ausführungen dazu durchaus vorhanden sind –, und andererseits aufgrund ihrer Einseitigkeit. Es lässt sich weder über diese Begrifflichkeiten diskutieren noch lassen sie Gegenentwürfe zu. Es sind positiv besetzte Ausdrücke, gegen welche man vermeintlich nichts einwenden kann. Wer will schon inkompetent sein, wer kann etwas gegen digitales Lernen haben, wer möchte schon jene sein, die nicht kooperiert?

Die Kompetenzen orientieren sich nicht am Lehren, sondern fokussieren einzig auf die Schülerinnen und Schüler, die in irgendeiner Form kompetent sein müssen.

Doch möglicherweise geht die Irritation über die Begrifflichkeiten hinaus und trifft das Berufsverständnis in seinem Kern, weil wir uns als Lehrerinnen und Lehrer darin nicht wiederfinden. Denn die Kompetenzen orientieren sich nicht am Lehren, sondern formulieren nur, was am Schluss beim Lernenden zu finden sein müsste, sie fokussieren also einzig auf die Schülerinnen und Schüler, die in irgendeiner Form kompetent sein müssen. Das digitale, kooperative und selbstorganisierte Lernen schliesst die Lehrpersonen ebenfalls aus, denn entweder lernen die Kinder und Jugendlichen mit einem Gerät, mit anderen oder selbstorganisiert, was auch immer damit gemeint sein mag. Und Integration, Kooperation und Partizipation sind Beschreibungen von einem widerspruchslosen Tun irgendeiner gleichförmigen Masse: Alle sind dabei, alle arbeiten zusammen und machen mit. Diese erforderte Bereitschaft, einfach mitzugehen, ist durchaus bedenklich, denn das bedeutet nichts anderes, als dass man einfach mitwirkt, ohne zu fragen, woran. Das spielt offenbar keine Rolle.

Wenn das Lehren und Lernen nicht mehr als personales Geschehen zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern beschrieben wird; wenn es nichts mehr mit der Vermittlung von Wissen, das die Lehrpersonen in ihren Köpfen haben und mit Leidenschaft und Begeisterung weitergeben wollen, zu tun hat; und wenn jedes Nichtmitmachen in irgendeiner Form – das ja durchaus auch von gesundem Menschenverstand und Urteilsfähigkeit zeugen könnte – gar kein Thema mehr ist, dann stellt sich die Frage, was noch übrigbleibt.

Hannah Arendt beschreibt in ihrem Aufsatz über die Krise der Erziehung, dass «diese eine allgemeinere Krise und Brüchigkeit der modernen Gesellschaft» reflektiert. Wenn wir davon ausgehen, dass das, was in der Bildung und Erziehung passiert, etwas mit dem Zustand unserer Gesellschaft zu tun hat, dann müssen wir danach fragen, was denn dieser Zustand sei. Ein Unterfangen, dass sich durchaus schwierig gestaltet, da oft erst im Nachhinein erkannt werden kann, was die Gegenwart auszeichnet.

Die Welt ist nicht mehr etwas Gestaltbares, sondern nur noch etwas zu Bewältigendes.

Aktuelle Entwicklungen wie beispielsweise der Entwurf zum Rahmenlehrplan für die Maturitätsschulen können möglicherweise erhellen, wie der Zustand der Welt eingeschätzt wird. So spricht er von den «gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen, welche Schülerinnen und Schüler bewältigen müssen» und meint damit die «raschen gesellschaftlichen Veränderungen sowie die Problemfelder, welche die Umwelt, die Menschenrechte, die politische Mitwirkung und die Digitalisierung betreffen». Diese sind «so komplex und heikel, dass sie umfassende pädagogische und analytische Ansätze erfordern, die über die Grenzen der einzelnen Fächer hinausgehen».

Die Welt ist folglich nicht mehr etwas Gestaltbares, sondern nur noch etwas zu Bewältigendes. Und dazu brauchen die Erwachsenen von morgen Studierkompetenz, Regelkompetenz, Anwendungskompetenz, Endkompetenz, räumliche Kompetenz, Darstellungskompetenz, nichtkognitive Kompetenz, Querschnittskompetenz, persönlichkeitsbezogene Kompetenz, Sozialkompetenz, Problemlösungskompetenz, Sprachkompetenz, Argumentationskompetenz, kulturelle und interkulturelle Kompetenz, Methodenkompetenz, Auftrittskompetenz, rezeptive Kompetenz usw., wie ebendieser Entwurf aufzählt. Kurz: Sie müssen absolute Superhelden ausgestattet mit Superkräften sein, damit sie die Welt, die wir ihnen hinterlassen, retten können und nicht an ihr verzweifeln. Dass dies mit pädagogischen Ansätzen gelingen soll, die über den Fachunterricht hinausgehen, wie das im Rahmenlehrplan formuliert wird, verwechselt den pädagogischen Auftrag mit Indoktrination, indem bereits im Detail festgehalten ist, was genau gekonnt werden muss und dies nicht nur fachlich, sondern auch überfachlich; entworfen wird ein genau normierter Mensch. Dabei wird die immer noch geltende aufklärerische Aufgabe der Bildung übersehen, trotz Zwang die Freiheit zu kultivieren, wie Kant das formuliert hat. Niemand kann die zukünftige Generation als Trägerin unzähliger Kompetenzen verstehen, die sie selbstorganisiert erworben haben sollte, damit sie die Probleme, die wir ihnen überlassen, löst.

Die ältere Generation scheint überhaupt nicht mehr zu wissen, wohin die Reise gehen soll.

Die Erfindung noch so vieler Kompetenzen kann nichts daran ändern, dass wir damit der heranwachsenden Generation die volle Verantwortung für die Zukunft der Welt übertragen, obwohl sie diese nicht selbst gestaltet haben. Dies tangiert das Generationenverhältnis, in welches die Kinder mit ihrer Geburt als die Neuen, die in eine bestehende Welt eingeführt werden, treten, in essenzieller Weise. Denn die ältere Generation scheint überhaupt nicht mehr zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Sie scheint weder auf ihr Wissen noch auf ihre Erfahrungen zu vertrauen, sondern nur auf die nächste Generation. Und dies wiederum trifft das Erziehungs- und Bildungsverständnis in seinem Kern. Denn wenn die Erwachsenen sich hilflos zeigen gegenüber der Welt, wenn sie nicht mehr für diese einstehen und diese verantworten, was wollen sie dann der nächsten Generation zeigen?

Als Lehrerinnen und Lehrer, die mit dieser Veränderung des Erziehungs- und Bildungsverständnisses angesichts der hilflosen Reformen der letzten Jahrzehnte im Alltag konfrontiert sind, gerät unser Selbstverständnis zunehmend in eine Schieflage. Entgegen allen Trends vertreten wir verzweifelt optimistisch die Idee eines Lernens im Kollektiv; wollen wir Wissen vermitteln, obwohl wir manchmal daran scheitern; halten wir an einer Welt fest, die wir trotz all ihrer Unzulänglichkeiten und Katastrophen auch unendlich schön finden; glauben wir, dass Traditionen und Kultur eine bedeutsame Rolle spielen; wollen wir unmittelbare Zugänge zur Welt schaffen jenseits jener, die sich nur noch hinter Bildschirmen zeigt und vertrauen wir auf unsere Autorität als Vertreter einer älteren Generation, die die Welt aus Erfahrung bis zu einem gewissen Grad kennt und vertritt.

Aber vielleicht müssen wir uns aufgrund der ständigen Irritation durch die Unterstellungen, dass Kompetenzen in unendlichen Variationen hilfreicher sind als die Vermittlung von Wissen, dass Lernen auch ohne uns stattfinden kann und dass Kooperation und Partizipation – die aus unserer Sicht nur verdecken, dass eine pädagogische Beziehung immer asymmetrisch ist– die Zauberworte einer Auseinandersetzung der jüngeren mit der älteren Generation sind, anerkennen, dass unser Beruf, wie wir ihn verstehen, ein Relikt aus einer vergangenen Zeit ist.

Dass wir folglich an einem antiquierten Verständnis von Bildung, Erziehung und Vermittlung festhalten, dass durch die ständigen Irritationen geschwächt wird und seinen Sinn verliert. Warum tun wir das? Vielleicht weil wir als Lehrerinnen und Lehrer die nächste Generation nicht sich selbst überlassen und weil wir uns nicht aus der Verantwortung nehmen wollen. Vielleicht wollen wir uns einfach nicht überreden lassen von Worthülsen, die so keine Bedeutung haben in einem Unterrichtsalltag, in welchem uns junge Menschen gegenüberstehen, die sich letztlich vor allem wünschen, dass wir unerschütterliche Gegenüber sind in einer konfusen Welt; dass wir ihnen das vermitteln, wovon wir überzeugt sind, dass es wichtig ist; dass wir ihnen dabei helfen und dass wir anerkennen, dass sie Neues einbringen in die alte Welt, für die wir einstehen.

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Ein Kommentar

  1. Wunderbar, dieser tiefsinnige und mutige Beitrag von Christine Staehelin! Er müsste zu den Pflichtlektüren für Studierende an den Pädagogischen Hochschulen gehören. Der Text ist ein Plädoyer für ein Berufsbild, das Lehrerinnen und Lehrer als Kulturvermittler mit einem bedeutenden gesellschaftlichen Auftrag sieht. Lehrkräfte sollen keine grauen Mäuse sein, die sich hinter Bildschirmen verstecken und von Zeit zu Zeit als unscheinbare Begleiter die Jugendlichen beim Lernen beraten.
    Der Text ist eine Herausforderung für alle, die meinen, Kinder und Jugendliche müssten sich ihre Welt ohne Mithilfe gut ausgebildeter Personen selber aufbauen. Es ist wohl der grösste didaktische Irrtum unserer Zeit, dass Jugendliche dem direkten Einfluss von Lehrpersonen möglichst wenig ausgesetzt werden sollen. Das Resultat dieser schrägen Anti-Pädagogik zeigt sich in manchen Schulklassen, wo Jugendliche rebellieren, weil sie keine ehrliche Auseinandersetzung mit den Werten der älteren Generation erleben. Teenager wollen wissen, was in dieser Welt los ist und was diese im Innersten zusammenhält. Sie wollen keine farblosen Lehrpersonen, die vor lauter intellektuellen Selbstzweifeln es nicht wagen, für breit anerkannte Bildungsinhalte einzustehen und diese mit Begeisterung zu vermitteln. Schülerinnen und Schüler erleben das Lernen ganz anders, wenn eine Zuversicht ausstrahlende Lehrerin ihre Persönlichkeit in den Unterricht einbringt und ihnen in gestalterischer Freiheit ein Stück Welt erklärt. Sie schätzen es, wenn ihre kompetente Lehrerin im Unterricht aus dem Vollen schöpfen kann und in aller Offenheit ihre Positionen darlegt. Teenager wünschen sich faire Lehrer, die fassbar sind und denen man widersprechen kann. Die Jugend hat genug Kraft, um zu sehen, was die alte Generation falsch gemacht hat und wo man neue Wege einschlagen will. Das von Christine Staehelin eindrücklich gezeichnete Lehrerbild zeigt den Weg, wie die schulische Pädagogik aus der aktuellen Verunsicherung herausfinden kann.

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