18. April 2024

Prima Nocte und die misshandelte Bildung – zum Change-Management

In unserem nördlichen Nachbarland ist der Lehrkräftemangel noch einiges heftiger zu spüren als in der Schweiz. Der deutsche Kunstlehrer Norbert Vetter, Mitglied der GBW, weist in seinem Beitrag auch auf die Konsequenzen hin, die er im Hinblick auf die Installierung der Top-down-Reformen hat bzw. wie dadurch das Change-Management vereinfacht wurde.

Norbert R. Vetter, Deutsch- und Kunstlehrer: Man vertraut der Führung.

…, denn bei Einbruch der Nacht kam der ideologisch gelenkte Paradigmenwechsel mit Nachdruck in die Schulen. Die Alten waren plötzlich alle in Pension und die neuen Alten waren im Ansturm der Jungen zu wenige und nicht genügend vorbereitet, den von oben verordneten Reform-Zug aufzuhalten. Der sozio-demografische „Gap“ in den Lehrerzimmern trug dazu bei, so die hier vertretene These, das „Change-Management“ ohne nennenswerten Widerstand der Kollegien durchzusetzen. So wurde und wird der interne Generationenwechsel geschickt genutzt, indem die Jungen nun das Classroom-Managing, Coaching, die „Kompetenzen“ und neuen Bildungsstandards in nativer Frische aus den Studienseminaren mitbringen. Mitte der 90er waren wir im Kollegium noch widerständig belustigt, als man das Ergebnis unserer Arbeit, den gebildeten jungen Menschen, als „Produkt“ bezeichnen wollte.

Widerstand ist zwecklos?

Die Geschichte erinnert an die Weitsicht eines englischen Herrschers: Edward the Longshanks, wie es in der Erzählung des Films Braveheart dargestellt wird. Eduard I., englisch: Edward I, auch Edward Longshanks und „Hammer of the Scots“ genannt, war von 1272 bis zu seinem Tod König von England, Lord von Irland und Herzog von Aquitanien. Im Film sagt dieser König sinngemäß: „Das Dumme ist, dass Schottland voller Schotten ist. Wenn wir sie nicht durch Kampf besiegen können, dann brüten wir sie raus.“ Das Recht der ersten Nacht: „ius primae noctis“ ist ihm damals das geeignete Mittel, den Widerstand der Highlander auf lange Sicht zu brechen.

Heute wären solch brutale Mittel undenkbar, es bleiben der Exekutive aber andere manipulative Mittel der Kontextsteuerung über die Nutzung demographischer Entwicklungen hinaus.

Durchschnittsalter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst nach Beschäftigungsbereichen in Jahren.

Alexandro Altis vom Statistischen Bundesamt wertet anno 2017 Daten zur Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes aus. Die These vom „Gap“ wird mit der oben abgebildeten Grafik belegbar. Altis sagt hierzu: „Das sinkende Alter im Landesbereich lässt sich durch die Pensionierungswelle im Schuldienst erklären. Durch das massive Ausscheiden älterer Lehrerinnen und Lehrer aus dem Schuldienst im letzten Jahrzehnt und die Nachbesetzung mit jüngerem Personal ist hier seit 2009 eine Verjüngung des Personalbestands zu beobachten. Dies wird voraussichtlich auch noch einige Jahre andauern.“ (1)

Misstrauen gegenüber der Theorie allgemein und gegen aktuelle Forschung wie auch ein naiver Pragmatismus und mit ihm der Rückzug auf eine gegenüber Ideologien vermeintlich immune Praxis, tragen dazu bei, dass die grundsätzlichen Orientierungsbegriffe wie Bildung, Emanzipation, Schule als soziale Errungenschaft und engagierte Aufgabe nicht mehr diskutiert werden. Man vertraut der Führung. So geht die weltanschauliche Basis des Lehrerberufs verloren.

Warum konnte sich in den Kollegien kaum Widerstand formieren?

Das Lehrvolk ist zu jung oder es vergisst anscheinend gerne und schaut weg, wenn es riskant wird. Misstrauen gegenüber der Theorie allgemein und gegen aktuelle Forschung wie auch ein naiver Pragmatismus und mit ihm der Rückzug auf eine gegenüber Ideologien vermeintlich immune Praxis, tragen dazu bei, dass die grundsätzlichen Orientierungsbegriffe wie Bildung, Emanzipation, Schule als soziale Errungenschaft und engagierte Aufgabe nicht mehr diskutiert werden. Man vertraut der Führung. So geht die weltanschauliche Basis des Lehrerberufs verloren. Dieser Zustand der Besinnungslosigkeit wird durch Drill und ständige Beschäftigung verstärkt, sodass Lehrer*innen für eine echte Opposition keine Zeit haben. Der pflichtbewusste, loyale Beamte lässt sich leicht unter Druck setzen. Das Hamsterrad muss sich nur schnell genug drehen. Bertolt Brecht sagte einmal sinngemäß: Wenn du willst, dass die Katze Senf frisst, musst du ihn ihr in den Hintern schmieren! Und semantische Interventionen wirtschaftsliberaler Begrifflichkeit sorgen für die Umdeutung der ehemals pädagogischen Inhalte. Ansonsten sind Abwertung und Ausgrenzung probate Mittel, mit Widerstand im Lehrerzimmer umzugehen. Das ist alles bereits beschrieben und dokumentiert und auf Tagungen erörtert worden. Was aber selten wirklich deutlich wird, ist das durch die Entzweiung entstandene Leid, wenn kritische Lehrpersonen von Kollegien und Schulleitungen preisgegeben werden. Zusammen mit der Bildung wurden und werden auch jene „hinausgebrütet“, die an dem Dilemma zwischen Loyalität und Verantwortung zerbrechen, oder an der Geringschätzung, wenn deren Fach obsolet geworden ist, während andere in MINT-frischem Aufwind gefeiert werden.

Aber „Gap“ und Seiteneinstieg kommen dem Governance-Führungsprinzip sehr entgegen, weil sie für die Kollegien einen Verlust an Erfahrung bedeuten, eine gefährliche Reduktion von Kritikfähigkeit und professioneller Besonnenheit.

Not als Dauerlösung einer langen Nacht

Um die gebeutelte Katze ganz aus dem Sack zu lassen: Flankierend zur Nutzung des intern-demografischen „Gap“ im Lehrerzimmer stiegen in dieser Zeit und tun das noch immer, viele Kurzausgebildete von der Seite ein. Deren oft mangelnde Festigung im Feld von Bildung und Erziehung und die darum fehlende Identifikation mit einem reflektierten Bildungsbegriff trugen und tragen zur kollegialen Affirmation der Ökonomisierung bei. Es musste und muss sie niemand zum „digitalen Wandel des Bildungssystems“ bekehren oder sie gar dazu zwingen. Viele brachten die Einstellung, dieser sei für Deutschlands globalen Wettbewerb unabdingbar, aus ihrer Berufserfahrung in der freien Wirtschaft mit. Vielen fehlt auch die Einsicht in die pädagogische Notwendigkeit, eine wirtschaftliche Verwertung der Schule zu verhindern. Die Zahlen in einem Artikel des Redakteurs Jürgen Amendt zeigen die Koinzidenz mit der Verjüngung der Kollegien. Er schreibt in „Quer- und Seiteneinstieg Notlösung wird zum Dauerzustand“: „Einer KMK-Statistik zufolge hat der Anteil von Quer- und Seiteneinsteigern bei den Neueinstellungen zugenommen. 2015 warben die Schulen bundesweit rund 1.500 dieser Neulehrer an, 2016 waren es bereits doppelt so viele und 2017 stieg die Zahl auf 4.250 Personen. Damit war mehr als jede zehnte der 34.281 im vergangenen Jahr neu eingestellten Lehrkräfte ein Quer- oder Seiteneinsteiger.“(2)

 

Neueinstellungen, gesamt Seiteneinsteiger (3):                    2009 bei 5,9%         entsprechen 1798 Personen

                                                                                                          2014 bei 3,5%         entsprechen 1014 Personen

                                                                                                          2018 bei 13,3%       entsprechen 4798 Personen

 

Der “GAP” führt zu einer gefährlichen Reduktion von Kritikfähigkeit.

Die hier angeführten Statistiken belegen natürlich allein den „Gap“ im Lehrerzimmer und die damit zeitlich verbundene, vermehrte Einstellung von Seiteneinsteigern. Für beides gibt es viele Gründe. Nicht belegt wird der Akt des Missbrauchs dieser Umstände als Mittel der Kontextsteuerung, um den Widerstand gegen die Vermarktung des Bildungssystems strukturell zu brechen. Die Beobachtungen des Abbaus mühsam erkämpfter demokratischer Strukturen und die Reduktion von Lehrpersonen und Schulleitungen zu Befehlsempfängern können eine perfide Nutzung der Umstände nicht logisch begründen. Aber „Gap“ und Seiteneinstieg kommen dem Governance-Führungsprinzip sehr entgegen, weil sie für die Kollegien einen Verlust an Erfahrung bedeuten, eine gefährliche Reduktion von Kritikfähigkeit und professioneller Besonnenheit. (4) Auf der Suche nach den Ursachen für den Erfolg der sogenannten „Bildungsreform“ kann der „Gap“ wegen der Unterbrechung der Weitergabe der Erfahrung der Alten an die Jungen einen von vielen Gründen liefern. Hätte die Überalterung der Kollegien und damit der „Gap“ durch eine kontinuierliche und ausreichende jährliche Neueinstellung qualifizierter Lehrpersonen vermieden werden können?  Der Schule und den Kindern schadet eine Aufstockung des erzieherisch besorgten und regulär angetrauten Lehrpersonals nicht. Ebenso wenig würde es einem sozialen Bildungssystem schaden, wenn es wichtiger genommen würde. Peinlich dagegen ist es, wenn unbefugte Ökonomen und deren Vereine, Stiftungen, Konzerne und Firmen mit bloß monetären Begehrlichkeiten ihren Senf dazugeben müssen, den die Regierungen dann wirksam verstärken und platziert verordnen. …

Aye! Wir sind längst die Besten, ließe man uns doch unseren Job machen!

Norbert Vetter: Ausbildung in den Fächern Kunst und Deutsch für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschule; Staatsdienst in Grund-, Haupt- und Realschulen – sowie an additiven und integrierten Gesamtschulen. Promotion in Frankfurt a. Main im Fach Kunstpädagogik. Seit 2021 frühpensioniert. Mitglied der GBW (Redaktion), GEW und des BDK, Mitarbeit bei IMAGO. Wohnort in Deutschland: Dauborn (Taunus). Internet: atelier-vetter.deund magistera-vitae.de

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Ein Kommentar

  1. Schon wieder Quereinsteiger-Bashing. Fällt euch nichts mehr ein? Wenn ich diejenigen in meinem beruflichen Umfeld benennen würde, die jeden, aber wirklich jeden neuen didaktischen Furz mitmachen, dann sind das zu 100 % Lehrer mit Staatsexamen und nicht die Quereinsteiger.

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