Professor Wolter ist ein Bildungsökonom und gezwungenermassen ein Mann der Zahlen. Seine Aussage, dass der Lehrkräftemangel wohl behoben sein würde, wenn alle Teilzeit-Lehrkräfte ihr Pensum um 10% anheben würden, ist eine Milchbüchleinrechnung, gewiss. Milchbüchleinrechnungen aber weisen oft eine Richtung, die es zumindest Wert sind, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.
Die Bemerkung der BUND-Journalistin Naomie Jones (https://www.derbund.ch/wieso-lehrpersonen-ihr-pensum-nicht-erhoehen-wollen-761786151125): «Würden mehr Lehrer und Lehrerinnen mit höheren Pensen arbeiten, gäbe es keinen Lehrermangel. Doch so einfach ist es nicht.» ist eine Platitüde. Niemand, der sich mit der gegenwärtigen Lehrkräftemangel auseinandersetzt, behauptet, dass die Linderung dieses Phänomens, das uns ja sicher noch einige Jahre begleiten wird, ein «einfache Sache» wird.
Im Grunde genommen gibt es zurzeit nur schlechte und noch schlechtere Lösungen. Vor allem aber gibt es Lösungsansätze, die kurzfristig, mittelfristig oder erst langfristig wirken. Die Schulleitungen unseres Landes müssen sich zurzeit mit kurzfristigen Massnahmen behelfen. Neben der Zusammenlegung von Schulklassen und Niveaukursen (eine schlechte Lösung), der Anstellung von Personen ohne Ausbildung (eine noch schlechtere Lösung), und dem Ausfall ganzer Lektionen (schlechteste Lösung) bietet sich an, die Lehrkräfte davon zu überzeugen, ihre Pensen aufzustocken (eine unbequeme, aber wirkungsvolle Lösung).
Im Oberstufenzentrum Mett-Bözingen, einer Quartierschule in der Stadt Biel mit einem hohen Anteil von Migrantenkindern und vieler sozialer Probleme, arbeiten 41 Lehrkräfte. Die meisten von Ihnen arbeiten in Teilzeit. Es gelang der Schulleitung, viele Lehrkräfte davon zu überzeugen, ihr Pensum aufzustocken. Einige arbeiteten bis zu vier Lektionen mehr. Damit konnte der Lehrkräftemangel einigermassen aufgefangen werden. Die Schulleiterin des OSZ-Orpund bei Biel erklärte kurz vor den Sommerferien: «Wir haben alle Stellen besetzt. Glücklicherweise erklärten sich einige Berufseinsteigerinnen bereit, ihr Pensum massiv aufzustocken.»
Man beachte, dass in vielen Fällen das Pensum von 16 auf 18 bis 21 Lektionen erhöht wurde, also noch weit entfernt sind von einem Vollpensum.
Wir reden mit unseren Kolleginnen und Kollegen und erklären ihnen die schwiege Situation. Im Gegenzug versuchen wir, die Anzahl Sitzungen auf ein Minimum zu beschränken.
«Es gibt gute Gründe für ein Teilpensum», meint die Schulleiterin des Oberstufenzentrums Mett-Bözingen, «daher bin ich gegenüber regulierenden Massnahmen wie Mindestpensen eher skeptisch eingestellt. Wir reden mit unseren Kolleginnen und Kollegen und erklären ihnen die schwiege Situation. Im Gegenzug versuchen wir, die Anzahl Sitzungen auf ein Minimum zu beschränken, verzichten weitgehend auf gemeinsame Vorbereitungssitzungen während der Ferien und gewähren ihnen ein hohes Mass an Freiheiten.»
Die Erhöhung der Teilpensen hat für die Betroffenen neben unbequemen Einschränkungen auch Vorteile. Sie verdienen mehr, füllen ihre Pensionskasse auf, mindern die Selbstausbeutung, die sich mit den Pflichten einer Lehrkraft im Präsenzbereich ergeben und sind nebenbei bei den Schülerinnen und Schülern präsenter, was die disziplinarischen Schwierigkeiten mindern kann. Ausserdem gibt es in den bernischen Schulen die Möglichkeit der IPB (individuelle Pensenbuchhaltung), was bedeutet, dass sich die Lehrkräfte mehr erteilte Lektionen als Überstunden eintragen lassen können. Diese können dann zu einem späteren Zeitpunkt als Ferien bezogen werden. Und gerade auf der Unterstufe führt mehr Präsenz einer Lehrkraft dazu, dass die so oft als wichtig erachtete Beziehung zwischen Lernenden und Unterrichtenden gestärkt wird.
Der Beruf einer Lehrerin, eines Lehrers ist kein Job, er ist eine Berufung. (Bildung Bern)
Zudem kann die (freiwillige) Aufstockung des Pensums in einem eher wenig beachteten, aber bedeutsamen Zusammenhang einer fatalen Entwicklung entgegenwirken. Wenn das Durchschnittspensum einer bernischen Lehrkraft 60% beträgt, wenn in Primarschulen bis zu acht Lehrerinnen an einer Klasse tätig sind, dann kommt das vielbeschworene Berufsethos ins Wanken, den die Lehrerverbände immer wieder mahnend in die Diskussionsrunden werfen, wenn es um den Beruf geht: «Der Beruf einer Lehrerin, eines Lehrers ist kein Job, er ist eine Berufung.»
Die im BUND-Artikel geäusserten Bemerkungen einer Lehrerin in Münsingen (BE) auf die Drohung eines Mindestpensums lässt tief blicken: «Dann verliert man auf der Primarstufe alle Frauen, die Mütter sind», sagt eine Lehrerin und schiebt nach: «Dann können sie schauen, wie das mit dem Lehrermangel geht.»
Sieht so das vielbemühte Berufsethos aus?
Natürlich müssen wir längerfristige Massnahmen diskutieren und – wo möglich – umsetzen: Lohnerhöhungen, Ausbau der Kinderbetreuung, Attraktivierung des Berufs, Entlastungen usw. sollen diskutiert werden. Aber eventuelle Wirkungen auf die gegenwärtige prekäre Situation haben sie eben höchstens in zwei, drei Jahren, wenn überhaupt.
In der gegenwärtigen Situation ist die Erhöhung der Pensen bei den Lehrkräften wohl die vielversprechendste und (leider) wohl auch die einzige Lösung, dem Lehrkräftemangel entgegenzuwirken. Die Lehrkräfte unseres Landes wurden in den vergangenen Jahren ziemlich arg gebeutelt. Lohnstagnation, übermässige Ansprüche, unausgegorene Reformen, starke Belastungen und ihre Degradierung als Befehlsempfänger der Bildungsbürokratie haben etliche Lehrkräfte zu dem gemacht, was man heute beklagt. Sie verhalten sich wie andere Berufsleute, machen die Rechnung, schauen, wo es sich für sie besser arbeiten lässt, wechseln die Stelle und identifizieren sich nicht mehr mit ihrem Arbeitgeber. Trotzdem ist es erstaunlich, wie viele Lehrräfte dies alles wegstecken und sich überzeugen lassen, im Interesse der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen mehr zu arbeiten. Regulierungen à la Genf, wo es ein Mindestpensum von 50% geben soll, sind derzeit (noch) nicht angesagt.
Ich habe auf der Sekundarstufe 1 dreissig Jahre lang als Klassenlehrer mit zum Teil bis zu sieben erteilten Fächern im Vollpensum gearbeitet. Nun ist Schluss und das ist gut so. Doch die zunehmende Stündelerei an den Staatsschulen missfällt mir sehr. Wo ist da die Berufung?
Ein Rat an die Jungen: Investiert euch!
Einer individuell angepassten moderaten Aufstockung könnte man zustimmen, wenn dabei die zusätzlichen erzieherischen Kontakte und höhere Vor- und Nachbereitungszeit berücksichtigt werden. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass seit Jahren an Ehepaare die Forderung ergeht, Arbeit und Beruf je hälftig aufzuteilen. Es ist nicht fair, wenn Leute, die dieses Prinzip leben, jetzt wegen des Lehrkräftemangels plötzlich hören müssen, es fehle ihnen an “Berufung”. Es gibt auch andere valable Gründe für Pensenreduktionen: z.B. gesundheitliche Einschränkungen der Belastbarkeit, die Pflege behinderter Angehöriger, politische Nebenämter, gemeinnützige und kulturelle Aufgaben. Der unterschwellige, moralgetränkte Vorwurf, Teilzeitarbeitende drückten sich vor der Verantwortung, ist gänzlich unangebracht.